RoadMovie

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die äußere Wirklichkeit umhüllte mich. Ich musste an Gelatine denken. Es war, wie wenn ich in einer zähen, durchsichtigen Flüssigkeit steckte, die mich am Denken hinderte. Es ängstigte mich, dass ich diesen Zustand in letzter Zeit ein paar Mal erlebt hatte, in immer kürzeren Abständen. Dieses Mal musste ich bis zur Abfahrt Bad Homburg fahren. Ich verließ die Autobahn, fuhr aber nicht zurück. Ich wollte jetzt nicht ins Büro. Ich konnte sie jetzt nicht ertragen, diese Menschen, die mich so anödeten. Mir war fast schlecht bei dem Gedanken, jetzt mit jemandem sprechen zu müssen. Es war dasselbe Gefühl, das sich früher an der Uni vor manchen Seminaren eingestellt hatte.

Ich wollte mit mir allein sein, keine Ansprüche erfüllen müssen. Ich ließ Bad Homburg hinter mir und folgte der Straße in den Taunus. Es herrschte strahlender Sonnenschein. Als ich mich Usingen näherte, fiel mir Jennifer ein. Während meines Studiums entdeckte ich eines Tages plötzlich in einer Übung zum Thema essay writing, dass sich eine Frau für mich interessierte. Sie saß einfach neben mir. Wenn sie mit mir sprach, berührte sie meinen Arm, merkte sich sehr schnell meinen Vornamen. Sie war nicht sehr groß, sehr schlank, kleine Brüste. Manchmal schaute sie mich verträumt an. Etwas in ihrem Blick signalisierte eine unendliche Traurigkeit. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Dieser Blick ließ mich Distanz halten. Da war etwas Fremdes, Unheimliches.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich feststellte, dass auch ihre Schwester an der Übung teilnahm. Sie richtete mir eines Morgens aus, dass Jennifer heute nicht kommen könne. Ich war überrascht, weil mir klar wurde, dass sich beide mit mir beschäftigten. Wir kannten uns ja nur vom Sehen und von den paar Gesprächen, die wir während der Übung geführt hatten. Von da an beschäftigte auch sie mich. Ich war verwirrt. Eine schöne Frau, eine von denen, an die ich mich normalerweise nicht herantraute, zeigte unverhohlen Interesse an mir, das war ich nicht gewohnt. Ich wurde befangen. Vor der nächsten Sitzung fürchtete ich mich fast. Wie sollte ich das angehen? Ich war völlig ratlos. Gleichzeitig faszinierte mich die Situation. Ich hatte Fluchtgedanken. Letztlich entschied ich mich hinzugehen.

Es war anders. Wir begrüßten uns zaghaft. Ich hatte den starken Wunsch, sie zu küssen. Erst redeten wir nichts, folgten dem, was in der Übung abgehandelt wurde. Dann fragte sie plötzlich, ob ich Freitagnachmittag schon etwas vorhätte. Als ich verneinte, fragte sie, ob ich Lust hätte, mit ihr zu einer Literaturlesung in die evangelische Studentengemeinde zu gehen. Panik verleitete mich dazu, nun doch einen Termin vorzuschieben, den ich vergessen hätte. Sie sah sehr enttäuscht aus. Ich fühlte mich erleichtert. Ich war wieder einer Falle entkommen. Wir verabschiedeten uns recht kühl nach der Übung. Die Erleichterung wich einem Gefühl von verpasster Gelegenheit. Ein seltsamer Zwiespalt tat sich auf.

Zu Hause kam ich ins Grübeln. Ich sprach mit der Frau darüber, mit der ich zusammen wohnte, der späteren Mutter meiner Kinder. Sie schien desinteressiert. Je näher der Freitag kam, umso unruhiger wurde ich. Ich ging dann doch zu dieser Veranstaltung. Schon am Eingang sah ich sie mit einem anderen Mann. Sie sah mich, wir blickten uns kurz an, dann ging ich. Ich konnte ihr keinen Vorwurf machen, ich hatte meine Chance gehabt.

Wir verloren uns aus den Augen, das heißt sie war plötzlich nicht mehr da. Von einem Freund, der sie und ihre Schwester kannte, erfuhr ich, dass sie für ein Auslandssemester nach Schottland gegangen war. Es war schön mir einzureden, dass sie wegen mir gegangen war, weil sie mich nicht mehr treffen wollte.

Ein halbes Jahr später traf ich sie wieder. Es war in einer Vorlesung über Kleist. Ich setzte mich in eine dieser endlos langen, aufsteigenden Reihen in einem dieser schrecklichen Hörsäle. Als ich saß, entdeckte ich sie neben mir. Es war, als hätten wir uns immer schon gekannt, als hätte es dieses halbe Jahr Unterbrechung nicht gegeben. Wir trafen uns fast ein Semester lang, zweimal die Woche bei Kleist, sprachen über Literatur, Politik und alles Mögliche, nie über uns. Wir verließen meist noch zusammen das Philosophikum, sprachen gelegentlich noch auf dem Parkplatz miteinander, trennten uns dann. Es gab weder von mir noch von ihr einen Versuch, außerhalb der Uni etwas gemeinsam zu unternehmen. Die letzten paar Male fiel mir auf, dass sie beim Sprechen durch mich hindurch schaute. Es war, als sähe sie etwas irgendwo hinter mir, was sie anzog, was sie aber gleichzeitig bedrohte. Kurz vor Ende des Semesters erschien sie nicht mehr zu der Vorlesung. Da ich ihre Schwester auch nicht mehr traf, konnte ich nichts über sie herausfinden. Sehr viel später erzählte mir ein Freund, dass sie mit einem Mann, einem Rechtsanwalt, nach Fulda gezogen war und sich kurz darauf aus dem Leben verabschiedet hatte.

Ich fuhr durch Usingen, dann in Richtung Erdefunkstelle. Auf dem großen Parkplatz stieg ich aus, zündete mir eine Zigarette an und lief einfach los. Ich fühlte mich verlassen. Es nagte wieder in mir. Mir war klar, dass ich eine Entscheidung treffen musste, um aus diesem Zustand, der mich allmählich zugrunde richtete, herauszukommen. Mir war allerdings noch keineswegs klar, was und wie ich zu entscheiden hatte.

Ich versuchte eine Bestandsaufnahme: Ich hatte eine Frau, die mich nicht liebte; zwei Kinder, die anstrengend waren; so anstrengend, dass es manchmal über meine Kraft ging; einen Job, der mich anödete; einen Chef, der inkompetent, ignorant und launisch war; gelegentlich eine Affäre, die einen schalen Geschmack hinterließ. Insgesamt nicht viel, was das Leben lebenswert machte. Familie verlassen, Job hinschmeißen, das fühlte sich verlockend an. Ein Hauch von Freiheit streifte mich bei dem Gedanken.

Ich hatte mich am Waldrand auf eine Bank gesetzt. Eine ganze Weile saß ich dort mit übergeschlagenen Beinen und schwelgte in der Vorstellung, wie es wäre, wieder frei zu sein. Es blieb nicht aus, dass ich an Patrizia dachte. Und es tat nicht mehr weh.

Die Erfahrung mit Patrizia war ein Symptom gewesen. Sie hatte mir gezeigt, dass ich immer noch in der Lage war, mich bedingungslos an einen anderen Menschen zu binden. Sie hatte mir aber auch gezeigt, wie gefährlich es für mich war, weil ich leicht den Boden unter den Füßen verlor, wenn es nicht so lief, wie ich es mir ausgemalt hatte.

Immerhin musste ich ihr für diese Erfahrung dankbar sein. Ich hätte es ihr gerne persönlich gesagt. Einmal hatte ich einen Versuch per eMail gemacht. Ich war durch einen eigenartigen Zufall an ihre eMail-Adresse geraten. Sie hatte auf einer Auktionsseite ein Musikinstrument zum Verkauf angeboten. Ich schrieb unter einer Fake-Adresse, die ich für meinen Job benutzte, dass wir uns kennen würden, dass wir uns vor einiger Zeit sehr nahe gekommen seien, dass ich aber, weil ich nicht wüsste, wer ihre eMails läse, nicht unter meinem richtigen Namen schreiben wolle. Sie möge mir bitte antworten, weil ich ihr etwas Wichtiges zu sagen hätte. Sie hat mir nicht geantwortet. Ich legte es mir so zurecht, dass sie wohl die eMail-Adresse gewechselt hatte. Mein Wunschdenken war gar nicht so unwahrscheinlich, weil sie wenig später ihre Adresse wechselte, wie ich dem Telefonbuch entnahm. Ich machte danach keinen Versuch mehr, beobachtete aber weiter per Telefonbuch ihre Ortsveränderungen. Mittlerweile schien sie sich von ihrem Mann getrennt zu haben. Seine Telefonnummer tauchte irgendwann an einem anderen Ort auf. Ihre eigene war irgendwann nicht mehr zu finden.

Ich zündete mir noch eine Zigarette an. Mir wurde beim ersten Zug schwindelig. Ich machte die Zigarette aus und legte mich lang auf die Bank und schlief ein. Ich träumte wirr. Ein Mann mit einem langen Messer rannte in einer Einkaufsstraße hinter mir her. Ich versuchte ihm zu entkommen, sah mich aber ständig über die Schulter um. Sein Messer hatte sich in ein Samurai-Schwert verwandelt. Damit fuchtelte er in der Luft herum. Als er ganz dicht hinter mir war, wachte ich auf. Es war kühler geworden. Ich fröstelte und hatte Hunger. Ich ging zurück zu meinem Auto und fuhr nach Butzbach, wo ich im Zentrum ein Restaurant kannte. Es gab dort ein echtes Wiener Schnitzel vom Kalb. Weil ich in den Feierabendverkehr geraten war, dauerte es eine Ewigkeit, bis ich aus dem Taunus heraus war.

Als ich mein Auto in Butzbach parkte, war es fast dunkel geworden. Ich betrat das Lokal und fand es wie immer sehr heimelig. Ich war vor Jahren mal mit meinem schwierigen Freund Ralf hier gewesen. Der Schauspieler Alexander Kerst, den ich sehr mochte, hatte am Nebentisch gesessen. Es waren nicht viele Gäste da, ich fand einen kleinen freien Tisch an einem der Fenster, die, wie meine Mutter es immer nannte, Butzenscheiben hatten. Passt doch zu Butzbach dachte ich. Ich bestellte bei der Kellnerin das Wiener Schnitzel und einen halben Liter Bordeaux. Als sie den Wein brachte, schaute ich sie mir genauer an. Sie war blond, sah atemberaubend aus. Sie trug eine enge, weiße Bluse, die verriet, dass sie sehr große Brüste hatte. Sonst war sie schlank und bewegte ihre braungebrannten Beine in diesen birkenstockartigen Schuhen, wie viele Kellnerinnen sie tragen, elegant wie eine Gazelle. Ihr Lächeln war freundlich, nicht aufgesetzt.

Während ich auf das Schnitzel wartete, schaute ich mir die paar Menschen im Lokal an: Ein Paar in den Fünfzigern, sich anschweigend. Ein jüngeres Pärchen, sie mit einem gewagten Ausschnitt in einem krätzegrünen Pullover, er im dunklen Zwirn, entsetzliche Hornbrille, stocksteif. An einem großen Tisch in einer Ecke saßen, dem Dialekt nach, fünf Einheimische, Männer in mittleren Jahren, die schon einiges getrunken hatten. Ihre Gesichter waren gerötet, und meistens redeten mehrere gleichzeitig.

 

Ich hielt nach einer Zeitung Ausschau, konnte aber keine sehen, also richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Kellnerin. Sie hatte verschiedene Tische zu bedienen, warf aber immer einmal wieder einen Blick zu mir herüber. Zuerst dachte ich, es sei der berufsmäßige Blick, mit dem Kellnerinnen überprüfen, ob ein Gast etwas nachbestellen will. Doch sie lächelte zu auffällig, wenn sich unsere Augen trafen. Ich bekam schon wieder dieses mulmige Gefühl im Magen, das sich immer einstellte, wenn ich die Kontrolle in der Begegnung mit einer Frau zu verlieren drohte.

Das Wiener Schnitzel kam, sie stellte den Teller und den Salat mit einem animierenden Lassen Sie es sich schmecken! vor mich hin. Es war genau so, wie ich es gerne hatte, goldbraun, Bratkartoffeln dabei und Gurkensalat mit einfachem Weinessig angemacht.

Die nächste halbe Stunde vertiefte ich mich ganz in die Verarbeitung des Schnitzels. Ich hatte den halben Liter Bordeaux schnell getrunken und bestellte eine neue Karaffe. Ich verspürte schon Wirkung und machte mir Gedanken, wie ich nach Hause kommen sollte. Mit dem Auto konnte ich nicht mehr fahren. Als die Kellnerin das Geschirr abräumte, fragte ich sie, ob das Haus auch Zimmer vermietete. Ich meinte an der Hauswand „Hotel-Restaurant“ gelesen zu haben.

„Ich werde mal nachfragen, ob wir noch etwas frei haben“, sagte sie und kam kurze Zeit später mit einer positiven Antwort zurück. „Ja, wir hätten noch ein Zimmer allerdings nur mit fließendem Wasser und zur Straße hin. Wollen Sie das nehmen?“

Ich nickte, weil ich wirklich nicht mehr fahrtüchtig war, und bestellte mir eine Zigarre, Dominikanische Republik, und einen Grappa. Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Ich spürte die Hitze in meine Wangen steigen, meine Ohren waren wohl auch schon gerötet. Der Grappa tat noch ein Übriges. Ich trank ihn in ganz kleinen Schlucken. Er erwärmte meine Speiseröhre wie heißer Tee. Der Rauch der Zigarre stand über meinem Tisch, meine Sinne waren ein wenig benebelt. Ich rief die Kellnerin noch einmal an meinen Tisch, fragte sie nach den Frühstückszeiten und ob sie das Essen auf die Zimmerrechnung schreiben könne. Ich rauchte die Zigarre nur halb fertig. Es war schade darum, denn sie hatte ein ausgezeichnetes Aroma. Aber ich fürchtete, dass mir übel würde.

Am Tresen bekam ich den Schlüssel von ihr.

„Zimmer 23, zweite Etage“, sagte sie, wieder mit einem netten Lächeln. „Gute Nacht, schlafen Sie gut!“

„Danke, bis morgen.“

Ich sagte nur so wenig, weil ich fürchtete, dass ich meine Sprache wegen des vielen Alkohols nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ich stieg die Treppe hinauf, musste mich am Geländer festhalten. Oben wollte ich den Lichtschalter suchen. Das Licht ging jedoch von selbst an. Aha, Bewegungsmelder dachte ich. Die Zimmer mit den ungeraden Nummern waren auf der linken Flurseite. Allerdings war das erste Zimmer die Nummer 29. Der Flur war sehr niedrig, das Haus war ein altes Fachwerkhaus, der Boden an einigen Stellen uneben. Ich schwankte, und auf der Höhe von Zimmer 27 stolperte ich über den Läufer, der über einer Bodenerhöhung lag und schlug der Länge nach hin. Es rummste gewaltig. Ich blieb erst einmal liegen um abzuwarten, ob jemand kommen würde. Als es still blieb und als keine zu Tode erschrockene, schreiende alte Dame aus einem der Zimmer gestürzt kam, richtete ich mich vorsichtig auf. Alles schien in Ordnung zu sein, die Knie vielleicht ein wenig aufgeschürft, es brannte leicht. Natürlich hatte ich den Schlüssel bei dem Sturz verloren. Also wieder auf die Knie und mit den Händen den Teppich absuchen, denn das Licht war nicht allzu stark und beleuchtete nicht jede Ecke des Flurs. Er lag da, wo ich ihn vermutet hatte, zwischen Teppich und Fußleiste.

Mein Magen revoltierte inzwischen heftig. Ich raffte mich auf, schloss das Zimmer auf, gleich links war ein Waschbecken. Ich übergab mich ausgiebig. Wenigstens hatte ich genug gegessen. Es gibt nichts Schlimmeres als Kotzen, wenn man nichts gegessen hat dachte ich. Als es vorbei war, wusch ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Ich tastete nach einem Handtuch neben dem Waschbecken, trocknete mir Gesicht und Hände und suchte dann nach einem Lichtschalter im Zimmer. Über dem Waschbecken ertastete ich einen Allibert und fand auch den Schalter. Zuerst tat mir das Licht in den Augen weh. Mein Spiegelbild gefiel mir überhaupt nicht. Die Haare hingen mir wirr ins Gesicht, die Wangen waren stark gerötet, die Augen schauten mich entsetzlich müde an. Ich wendete mich ab und schaute mir das Zimmer an: ein großes französisches Bett, ein kleiner Schreibtisch, zwei Sessel, ein Fernseher, ein Kleiderschrank. Alles nicht mehr ganz neu, aber nicht schäbig. Ich suchte die Minibar. Es gab keine. Dafür stand auf dem kleinen Nachttisch ein Kühler mit einer Flasche echtem Champagner. Es war zwar nicht das, was ich jetzt brauchte, aber besser als nichts. Ich öffnete die Flasche vorsichtig, so dass der Korken nicht knallte, weil es mittlerweile nach Mitternacht sein musste. Um den üblen Geschmack aus meinem Mund wegzubekommen, nahm ich einen großen Schluck aus der Flasche.

Er schmeckte besser als erwartet. Ich setzte mich auf das Bett und goss mir eines der beiden auf dem Nachttisch stehenden Gläser voll. Ich stellte das volle Glas ab, zog meine Schuhe aus und legte mich in den Kleidern auf den Rücken. Die Lampe über dem Waschbecken gab ein angenehm gedämpftes Licht. Ich starrte zur Decke, von der mich eine Art siebenarmiger Lüster anstarrte. Fünfziger Jahre schätzte ich.

Ich erinnerte mich an ein Schlafzimmer, in dem ich mit meiner Großmutter bei ihrer Taufpatin im tiefsten Bayern immer übernachtete, wenn wir dort zu Besuch waren. Wir waren jeden Sommer da, eine oder zwei Wochen. Das erste Mal 1952, nachdem ich meine Scharlacherkrankung überstanden hatte. Das letzte Mal muss 1962 gewesen sein. Die Patin war schon gestorben, ihre androgyne Tochter, die mein Großvater Eiserner Gustav nannte, weil sie ein Pferdefuhrgeschäft betrieb und rauchte und trank wie ein Mann, verlor langsam den Boden unter den Füßen.

Meine Großmutter hatte immer dafür gesorgt, dass unter dem Bett ein Nachttopf aus Porzellan stand. Der Weg zum Klo, das eigentlich nur ein Brett mit einem Deckel über einer Röhre war, war weit und dunkel. Dieses Schlafzimmer hatte allerdings außer der Tür, die vom Flur Zugang verschaffte, eine weitere Tür, die direkt in das Schlafzimmer einer Nachbarfamilie führte, in das der Familie Neser, die zur Miete im Haus wohnte. Manche Namen vergesse ich nicht, besonders wenn sie zu interessanten Menschen gehören. Frau Neser hatte eine spitze Nase und erinnerte mich an die Windliese aus Peterchens Mondfahrt. Diese Tür war natürlich immer verschlossen und mit allerlei Kisten und Kartons verstellt. Meine Großmutter hatte die menschenfreundliche Idee, den Nachttopf dick mit Papier auszulegen, um den Schlaf von Herrn und Frau Neser nicht durch unser geräuschvolles nächtliches Wasserlassen zu stören. In Wirklichkeit genierte sie sich bei dem Gedanken, dass jemand sie dabei hören könnte.

Ich konnte es mir nicht verkneifen, unter meinem Bett nachzuschauen, ob sich nicht vielleicht ein Nachttopf darunter befände. Es war natürlich keiner da. Da ich nun schon mal aufgestanden war - oder eher - neben dem Bett kniete, beschloss ich nun doch, mich meiner Kleider zu entledigen. Ich hängte meine Lederjacke in den Schrank. Sie hatte nichts abbekommen am Waschbecken. Die Hose hängte ich über den Sessel. Und dann klopfte es.

Ich hasse es, genau in diesem Aufzug auf Klingeln oder Türklopfen reagieren zu müssen. Ein Mann in Hemd mit Krawatte, Unterhosen und schwarzen Socken bietet einen bemitleidenswerten Anblick. Darüber hinaus war ich in einer Stimmung, die nicht auf Besuch eingestellt war. Also sagte ich laut „Einen Moment bitte!“ und sprang schnell wieder in meine Hose. Dann ging ich an die Tür und machte sie einen Spalt weit auf.

Die Kellnerin stand draußen.

„Ich wollte Ihnen noch einen Bademantel und einen Schlafanzug vom Haus bringen. Sie haben ja kein Gepäck dabei. Darf ich hineinkommen?“

Ich war völlig überrumpelt.

„Ja, ja … natürlich“, stammelte ich. Ich ließ sie herein.

„Sie haben’s aber dunkel.“

Sie hängte den Bademantel auf einen Kleiderbügel im Schrank. Den Schlafanzug legte sie aufs Bett.

„Der Champagner geht übrigens auch aufs Haus. Unsere Chefin hatte gestern Geburtstag.“

„Ähm, so was hab’ ich mir gedacht. Arbeiten Sie eigentlich immer so lange?“

„Nein, nur heute, weil noch ein paar neue Gäste gekommen sind.“

Sie hatte sich auf das Bett gesetzt. Dabei hatte ihr schwarzer Wickelrock ihre Knie und einen Teil ihrer Oberschenkel freigegeben. Sie bemerkte meinen Blick, machte aber keine Anstalten, ihren Rock zu ordnen. Sie strich sich mit der Zunge über die Oberlippe und betrachtete mich. Ich wurde verlegen und fragte sie, ob sie auch ein Glas Champagner wolle.

„Gerne“, sagte sie und schenkte mir ein weiteres Lächeln. Sie strich sich ihre mittellangen blonden, etwas wuscheligen Haare mit der linken Hand zurecht und lehnte sich zurück, um mich beim Einschenken zu beobachten. Meine Hand zitterte, als ich die Gläser füllte.

„Sie sehen müde aus“, sagte sie.

„Ich hatte einen ziemlichen langen und anstrengenden Tag“, antwortete ich.

„Haben Sie Ärger bei der Arbeit gehabt?“

„Ich habe immer Ärger bei der Arbeit, aber das ist es nicht. Ich muss über vieles nachdenken.“

„Beziehungsprobleme?“

„Ja, auch das, und Probleme mit mir selber.“

„So etwas habe ich mir gedacht, als ich Sie heute Abend so allein am Tisch gesehen habe. Sie haben auch viel und sehr schnell getrunken. Und Sie haben auch niemanden angerufen, als Sie sich entschlossen hatten, hier zu übernachten.“

„Sie beobachten Ihre Gäste sehr genau“, sagte ich ein wenig irritiert.

„Nicht alle, nur wenn sie mich interessieren. Die meisten sind mir völlig gleichgültig.“

„Und ich interessiere Sie? Wollen Sie mit mir schlafen?“

„Das wäre nicht die schlechteste Variante“, grinste sie, „aber so weit sind wir noch nicht.“

Sie nahm eines der Gläser und prostete mir zu. „Ich heiße übrigens Gesine.“

„Peter“, sagte ich und nahm einen tiefen Schluck. „Wir lassen das Brüderschaft-Trinken weg, mir ist heute nicht danach“, setzte ich hinzu und leerte mein Glas. „Sie haben mich in einem denkbar schlechten Augenblick erwischt, ich habe gegenwärtig wenig mit Frauen am Hut.“

„So etwas habe ich mir auch gedacht, aber ich glaube nicht, dass Sie schwul sind.“

Wir mussten beide lachen. Ich schenkte den Rest der Flasche aus, und wir stießen an.

Ich spürte schon wieder den Alkohol, jetzt aber eher angenehm. Ich bot ihr eine Zigarette an. Als ich ihr Feuer gab, hielt sie einen Moment meine Hand. Wir rauchten eine Weile schweigend. Ich fühlte mich erschöpft und wollte sie loswerden. Allerdings hatte ich keine Idee, wie ich das schaffen sollte, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. Und das wollte ich auf keinen Fall. Sie war mir sehr sympathisch. Ich fand sie auch sexuell attraktiv.

Ich rauchte schneller als sie, warf meine Kippe in die leere Champagnerflasche und trat an das kleine Fenster. Es war sehr dunkel in Butzbach, soweit ich das sehen konnte. Es hatte angefangen zu regnen. Der Straßenbelag glitzerte nass, wo sich der Laternenschein spiegelte.

„Ich werde jetzt auch ins Bett gehen“, hörte ich sie hinter mir sagen. Und: „Sie sollten auch schlafen. Wenn Sie Zeit und Lust haben, können wir morgen noch einmal sprechen. Ich habe morgen frei.“

Ich drehte mich um und sagte abwesend: „Wie? Ja, bitte gern, und vielen Dank noch für den Schlafanzug.“

„Tschüs“, lächelte sie und ging.

Ich legte mich wie ich war aufs Bett, konnte noch die Krawatte öffnen und schlief sofort wie ein Stein.

ich bin im zug nach istanbul das schlafwagenabteil sieht aus wie die unterkunft in einer kaserne mir gegenüber liegt eine schwarzhaarige frau im unteren bett stehe noch einmal auf stoße ihr glas mit gelblicher flüssigkeit um sie sagt das ist schlimm ist das arznei nein ich gehe zum klo um lappen zu holen als ich das klo verlasse gehe ich in die falsche richtung sehe ende des zuges will wieder in andere richtung da sind nur noch ein oder zwei wagen steige aus sehe auf dem gegenüberliegenden gleis einen zug abfahren von hinter mir kommt plötzlich mein schulfreund eppstein gerannt will noch auf den zug aufspringen versuche es auch schaffen es beide nicht sind im hauptbahnhof münchen verlassen das bahnhofsgebäude kommen auf eine wiese an deren ende ein prächtiges gelbes schloss suchen die auskunft müssen zurück ins gebäude im warteraum finden wir einen würstchenverkäufer der gleichzeitig die fragen der reisenden beantwortet gibt keinen zug mehr nach salzburg erst morgen wieder sagt er stelle fest dass ich meinen geldbeutel dabei habe kaufe uns zwei große riegel streuselkuchen im aussehen ähnlich einer zwei-mann-blattsäge laufen los sprechen darüber ob wir in münchen jemand kennen mir fällt heide maroni ein traue mich nicht sie anzurufen eppstein verwandelt sich in schulfreund güstrow der hat sagt er eine amerikanische freundin die nell heißt versuchen in der nächsten telefonzelle ihre nummer über die auskunft zu bekommen hörer links oben am kabel ist zerbrochen müssen 25 pfennige einwerfen ich nehme ab gespräch ist da kann nichts hören weil der hörer kaputt ist nächster aufenthalt bei einem kleinen unbewohnten haus sieht aus wie gastwirtschaft wollen etwas kaufen aber niemand da auch kein telefon sind plötzlich zu dritt klaus aus einem fortbildungskurs zeigt mir bilder von leuten die ich aus verschiedenen kursen kenne macht mich auf eine frau mit einem doppelnamen aufmerksam die ich nicht ausstehen kann die er sehr mag wir trampen nach salzburg packen uns einige lebensmittel und getränke ein einer schaut in einem wandregal nach zigaretten für mich nichts dabei gibt nur r8 und r16 sind whiskey-zigaretten verlassen das haus begegnen einer alten frau weiß schon von ihren problemen kann aber nichts für sie tun wir müssen die chefin fragen sie führt uns zu einem haus wir sehen durch ein fenster in eine küche sehen wie eine nackte dicke frau in riesigen ölbehältern pfannkuchen schnitzel und fische brät ich sage das ist doch gefährlich wenn da jemand hineinfällt wir wollten nicht stehlen es war niemand da sage ich übernachten in einem zelt am isarufer wohngebiet in der nähe dunkelheit und scheinwerfer am himmel luftangriff von einmotorigen maschinen drehen loopings am himmel werfen kleine schwarze kugeln ab explodieren sobald sie den boden berühren habe das gefühl treffen absichtlich keine menschen um das zelt läuft ein mann mit einer grünen gärtnerschürze sammelt kugeln ein wir schauen durch einen schlitz in der zeltwand er tut so als werfe er eine der kugeln durch den schlitz ins zelt dann lacht er freundlich und sagt er dürfe das nicht über uns tiefblauer himmel

 

Ich fand mich nach dem Aufwachen nur langsam zurecht, erinnerte mich an die Lampe an der Decke, schmeckte den schlechten Geschmack in meinem Mund und hatte ein schlechtes Gewissen. Ich hatte mich bei niemandem gemeldet, hatte mein Büro nicht benachrichtigt. Und dann fühlte ich eine diebische Freude. Ich hatte mich verpisst. Einfach abgetaucht war ich. Mir fiel Gesine ein, wunderte mich nun doch, dass sie so spät noch auf mein Zimmer gekommen war. Was hatte sie noch gesagt, bevor sie ging? Sie habe heute frei, und wenn ich wollte, könnten wir sprechen. Klang mir jetzt alles erst einmal zu kompliziert. Ich hatte Durst und Lust auf einen doppelten Espresso und Rühreier mit Schinken.

Aber zuallererst brauchte ich eine Dusche. Ich erhob mich so dynamisch es mir möglich war und sah das Waschbecken. Gab ja keine Dusche. Ich hängte meinen Kopf unter den Wasserhahn und ließ mir kaltes Wasser darüber laufen. Das machte mich vollends wach. Zahnbürste hatte ich natürlich auch keine. Warum hatte sie mir wohl gestern Nacht noch den Bademantel gebracht. War das der Vorwand? Was wollte sie überhaupt von mir? Das alles verwirrte mich.

Ich untersuchte meine Kleider. Ich hatte es in der Nacht nicht mehr geschafft, den Schlafanzug anzuziehen, hatte dummerweise in Hemd und Hose geschlafen, die nun beide recht zerknittert waren. Wenigstens hatte ich mich beim Kotzen nicht besudelt. Die Lederjacke hing im Schrank und sah ganz passabel aus. Meine Schuhe musste ich etwas länger suchen. Sie waren in der Nacht irgendwie unter das Bett geraten. Sonst hatte ich nichts mitgebracht.

Ich fuhr mir vor dem Spiegel mit den Händen über die nassen Haare, bis die Frisur einigermaßen saß. Ich hatte bisher noch nicht nach der Zeit gesehen. Meine Uhr zeigte kurz nach acht. Also bestand die Hoffnung, dass ich schon ein Frühstück bekommen würde. Ich schaute mich noch einmal in dem Zimmer um, das mir bei Tageslicht nun doch einigermaßen schäbig vorkam. Ich trat auf den Flur und hörte den Staubsauger im Nachbarzimmer. Offensichtlich waren die Fleißigen des Tages bereits am Werk. Ich sah auch die Bodenwelle, über die ich in der Nacht gestolpert war, machte einen großen Schritt darüber und ging die enge Treppe hinunter. Im Erdgeschoss trat ich ins Gastzimmer, hinter dem Tresen stand ein mir unbekanntes junges Mädchen und spülte Gläser.

„Möchten Sie frühstücken?“ fragte sie mich mit einem Lächeln.

„Ja, gerne, kann ich mir den Tisch aussuchen?“

„Wir haben im Nebenzimmer für Sie gedeckt.“

Ich betrat das Nebenzimmer durch die breite geöffnete Schiebetür. Ein kleiner Tisch in einer gemütlichen Fensternische war offensichtlich für mich vorbereitet. Ich schien doch der einzige Übernachtungsgast gewesen zu sein. Hatte Gesine geschwindelt, als sie sagte, späte Gäste seien noch gekommen?

Ich setzte mich, ein Exemplar der Wetterauer Zeitung lag neben dem Gedeck. Das junge Mädchen war gekommen und fragte, ob ich Tee, Kaffee oder Kakao wolle. Ich bestellte einen doppelten Espresso und ein Mineralwasser. Frische Brötchen standen bereit. Als sie mir den Kaffee brachte, bestellte ich Rühreier mit Schinken. Meine Lebensgeister kamen langsam zurück.

Als ich meine Eier fertig gegessen hatte, fragte ich, ob denn die Bedienung, die Gesine hieße, heute Morgen auch Dienst habe. Das junge Mädchen schaute mich erstaunt an.

„Soweit ich weiß, gibt es bei uns keine Mitarbeiterin, die Gesine heißt. Ich will die Chefin noch mal fragen, ob wir vielleicht eine Aushilfe haben.“

Sie verschwand in der Tür hinter dem Tresen, die wohl in die Küche führte. Ich fragte mich, während ich meinen Kaffee austrank, ob ich das alles geträumt hatte. Statt der jungen Bedienung kam eine Frau, etwa Ende vierzig, an meinen Tisch. Die Ähnlichkeit mit Gesine war verblüffend.

„Tut mir leid, unsere Auszubildende kennt meine Tochter noch nicht. Gesine hat mich gebeten, Ihnen diesen Brief zu übergeben.“

Sie legte einen hellblauen Umschlag neben meinen Teller.

„Haben Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgefunden?“

„Oh ja, danke, könnte ich dann bitte die Rechnung haben?“

„Das ist schon erledigt“, sagte sie. „Nehmen Sie es als Geschenk für einen netten Menschen.“

Ich war so überrascht, dass ich zunächst kein Wort herausbrachte. „Danke“, stammelte ich, „das ist sehr großzügig von Ihnen. Aber wie komme ich dazu?“

„Meine Tochter findet Sie sehr sympathisch, und sie möchte, dass Sie sie in guter Erinnerung behalten.“

„Werde ich sie heute noch sehen können?“ fragte ich.

„Es steht alles in dem Brief, nehme ich an. Möchten Sie noch einen Espresso?“ fügte sie nahtlos hinzu.

Ich nahm noch einen Kaffee. Dann, als die Mutter sich entfernt hatte, schaute ich mir den Brief an. Auf dem Umschlag war nichts geschrieben, auch nicht auf der Rückseite. Er war nicht zugeklebt und enthielt ein dreifach gefaltetes Blatt im selben Hellblau. Die Worte waren mit grüner Tinte geschrieben.