Buch lesen: «Andersfremd»

Schriftart:

Hans-Henning Paetzke

ANDERSFREMD

Roman

mitteldeutscher verlag

Für Inspiration, Informationen und Worte schulde ich folgenden Personen, Autoren und Texten Dank: Altes Testament, Dieter Arndt, Walter Batzdorf, Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine, György Konrád, Reiner Kunze.


Für Gabriella und Rachel

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Augensprache und Abschied

Schwermut

Paukenschlag

Frömmigkeit

Lichte Berggipfel und finstere Abgründe

Knastologenaristokratie

Schmierenkomödie

Vertreibung aus dem Paradies

Heimat

Gemeinsamkeit

Vieles liegt im Dunkel

Ein Schnippchen geschlagen

Der Bestrafung entzogen

Gummigeruch

Hassliebe

Opfer

Anderssein

Gespaltensein

Zungenbrecher

Lotterhaftigkeit

Einmütigkeit

Verstummt

Entschluss

Abschied von der Kindheit

Warten auf jemanden oder etwas

Neugier

Harmlos

Grenzenlose Neugier

Käuflichkeit

Hang zum Besonderen

Vaterersatz

Enge Fesseln

Lächeln

Triebhaftigkeit

Schoßhündchen

Verlierer

HaHe

Ein grausam schönes Märchen

Frühaufsteher

Fantasiebegabt

Hohl und verlogen

Rausch

Ganz nach Belieben

Schande

Wehmut

Heiterkeitsausbruch

Abschied

Exempel

Wein für Weihnachten

Vom Regen in die Traufe

Einer von ihnen

Im Kellerverlies

Beziehungen

Trügerische Hoffnungen

Eigenartige Existenzen

Zwielichtige Gestalten

Mulle und Karli

Chance

Fest der Liebe und des Friedens

Geistige Handlanger

Mangelnde Sensibilität

Orpheus

Ratschläge

Fanatismus

Konfrontation

Maulwürfe

Polyphonie

Auge in Auge

Geheimnisse

Allzu viel Lob

Überwältigt

Stein des Anstoßes

Funkstille

Verlegenheit

Omi Mordhorst

Zerstörerisches Auf und Ab

Verstrickt in Lügengespinste

Ein verzweifelt Suchender

Das Spiel ist aus oder vielleicht doch noch nicht

Prägende Lebensbilder

Was tun?

Schonungslose Offenheit

Tauschhandel

Wie zwei Orientalen

Sprichwörtlich

Der Sozialismus siegt!

Enttäuschung

Flöhe

Begeisterungsstürme

Eine auffällige Ungarin

Spurensuche

Betonierung

Vorbehalte

Unverzeihliches

Incipit vita nova

Augensprache und Abschied

Am 26. September 1963 ging es auf Transport. Im Hof bestieg ich zusammen mit mehreren anderen Strafgefangenen eine grüne Minna. Rechts und links des Mittelgangs winzige Einzelzellen mit einer noch winzigeren löchrigen Rosette zwecks Luftzufuhr. Kerzengerade saß ich mit angezogenen Knien, die an die Tür stießen, in einem rollenden Verlies. Draußen herrschte die sengende Hitze eines wunderschönen Altweibersommers. Die Fahrt zum Haftarbeitslager Rüdersdorf bei Berlin dauerte eine Ewigkeit. Ich glaubte, ersticken zu müssen. Kurz vor einer sich ankündigenden Ohnmacht wurde ich im Kalkwerk Rüdersdorf aus meiner Folterzelle befreit. Ich atmete auf. Wir Strafgefangenen bekamen etwas zu essen und zu trinken. Aber alsbald erfuhren wir, dass wir noch nicht am Ziel angekommen waren. Unsere mit Maschinenpistolen bewaffneten Bewacher befahlen uns zurück ins Auto. Gegen Abend trafen wir im Zuchthaus Cottbus ein. Das Tempo hier war ein anderes als in Eberswalde, meiner ersten Haftstation. Auf dem Flur hieß es Aufstellung nehmen, die Hosen herunterlassen, sich bücken, damit dir ein Hauptwachtmeister, nachdem du bereitwillig die Gesäßbacken auseinandergezogen hast, von hinten in den Magen gucken kann, denn dort könntest du ja verbotene Feilen, Messer, Scheren, Pistolen oder sonstiges Gerät, Dollarnoten, Westmark, Whisky, Zigaretten, westliche Zeitungserzeugnisse, gar einen Rundfunk- oder Fernsehempfänger versteckt haben, alles geeignete Hilfen, einen Ausbruch aus der Haft zu wagen. Im Gefängnis kursierten immer wieder die abenteuerlichsten Gerüchte von gelungenen Fluchtversuchen direkt über die Berliner Mauer in den Westen. Wachsamkeit war angebracht. Das sozialistische Vaterland musste gleichermaßen vor inneren wie äußeren Feinden geschützt werden.

Noch trug ich Zivilkleidung. In der Zelle klärte mich der eine der beiden Mitgefangenen darüber auf, dass diese Tatsache ein deutlicher Hinweis darauf sei, dass Cottbus nicht mein Endziel sei. Sieben Tage und sieben Nächte brachte ich in dieser Zelle zu. Im Vergleich zu Eberswalde fühlte ich mich wie auf einem Betriebsausflug. Mit beiden Leidensgenossen verstand ich mich ausgesprochen gut. Und das, obwohl der eine, ein Italiener, nach dem Krieg als Achtzehnjähriger in Deutschland hängengeblieben, Deutsch nur radebrechen konnte und nach eigenem Beteuern Italienisch vergessen hatte. Auch seine gemeinschaftlich mit einem Kumpan begangene Tat hinderte mich nicht daran, Mitleid mit ihm zu empfinden. Nach einer Zechtour hatten die beiden Hilfsarbeiter auf dem Heimweg ein junges Mädchen, das ihnen auf der Landstraße entgegengekommen war, im Straßengraben vergewaltigt. Ich glaubte, das Unverstehbare und Unverzeihliche zu verstehen.

Sprachlosigkeit macht dich zum Tier. Stell dir einen gesunden jungen Mann vor, der es wegen seiner Außenseiterrolle noch nie geschafft hat, eine Frau zu erobern, der die entsprechenden Mechanismen nie erlernt hat, den sein nicht ausgelebter Trieb zur Bestie hat werden lassen! Ohne Sprache keine Moral, keine geregelten Verhaltensnormen? Oft erwecken die Lebensabläufe eines Tiers in der Wildnis einen geordneteren Eindruck als das Verhalten der Menschen. Raubtiere töten nur selten ihresgleichen, es sei denn die Nachkommen des Nebenbuhlers, morden ansonsten nur, um den lebensnotwendigen Bedarf an Futter zu decken. Von Vergewaltigungen ihrer Artgenossinnen ist nichts zu hören. Einzig seine an die Sprache gekoppelte Denkfähigkeit, so glaube ich, hindert den Menschen daran, sich über die naturgegebenen Triebe hinwegzusetzen und Dinge zu tun, die von der Natur eigentlich nicht vorgesehen sind.

Vermutlich war der Italiener angesichts der sprachlichen Entwurzelung in seiner Schuldfähigkeit eingeschränkt. Armut und Kriege, Machtgier und Unterdrückung werfen menschliches Leben aus der Bahn, entmenschlichen es.

Hübsch sei das vergewaltigte Mädchen gewesen, beteuerte er. Groß gewehrt habe es sich nicht. Stumm habe es das Unerwartete über sich ergehen lassen. Was sonst hätte es tun sollen? Sich wehren, schreien und sich am Ende gar ermorden lassen, damit es nicht reden könnte? Da war es vielleicht sogar klug, sich auf das manchmal tödlich ausgehende Spiel einzulassen. Hätten die beiden Vergewaltiger sich nicht auf die Befriedigung der eigenen Geilheit konzentriert, hätten sie Augen für die des Mädchens gehabt, dann hätten sie sehen können, wie neben der Todesangst für den Bruchteil einer Sekunde so etwas wie Lust darin aufleuchtete.

Ich versuchte, mir die Augen des Mädchens vorzustellen, die der beiden Männer. Aber am Ende war ich ja auch nur naiv, und der Italiener mit seiner Unschuldsmiene band mir einen Bären auf, hatte gar schon mehrere Mädchen vergewaltigt, nur eben das Glück gehabt, bisher nie erwischt worden zu sein. Beim Damespiel suchte ich seine Augen. Dunkelbraun, fast schwarz, kam ihr Strahlen aus einer unergründlichen Tiefe, in der ich wie in einem schwarzen Loch hätte spurlos verschwinden können. Sie machten mir Angst. Der Italiener sprach mit den Augen, vor allem damit verständigte er sich. Diese Sprache beherrschte ich nicht. Akustische Sprache schafft Abstand, Augensprache will das Gegenüber aufsaugen, und wenn es sich nicht sogleich hingibt, wenn es nicht willig ist, dann eben mit Gewalt. Was, so ging es mir durch den Kopf, würde sein, wenn ich in der Bodenlosigkeit seiner Augen versänke?

Der andere Zellenkumpan beruhigte mich. Er sei schon seit Wochen mit dem Vergewaltiger zusammen in einer Zelle. Der sei gutmütig und harmlos.

Schon möglich. Dennoch glaubte ich, gutmütig und harmlos, das traf vor allem für den anderen zu: Dunkelbraunes Haar, treue, blaue Augen, sommersprossiges Gesicht, Nase und Kinn bildeten als Ausdruck physiognomisch sich artikulierender Gutmütigkeit einen rechten Winkel, die Arme hingen ein wenig kraftlos herab, die hagere Erscheinung wirkte schlaksig, die Füße schienen drei Nummern zu groß geraten zu sein.

Seine Bodenständigkeit hatte ihm mehrere Jahre Gefängnis beschert. Sein Vater war bei Stalingrad gefallen, die Mutter hatte den einzigen Sohn allein großgezogen, sich für ihn aufgeopfert. Dieses Opfer lastete auf ihm wie ein lebenslang nicht abzutragender Schuldenberg. Gern wäre er in den Westen gegangen. Gelegenheiten zum Gehen hatten sich ihm mehr als genug geboten. Aber seine Mutter im Osten allein zurücklassen, das hätte er ihr nie angetan. Als einer, der dem Ruf des Vaterlands gefolgt war, hatte er sich freiwillig zur Nationalen Volksarmee gemeldet. Freiwillig ganz im Gegensatz zu den vielen Tausenden, die sich dem Druck der ausschwärmenden Werber aus Angst vor nachteiligen Folgen gebeugt hatten. Die Armee, die nach dem Berliner Mauerbau einen kaum zu stillenden Bedarf an Freiwilligen hatte, um die sozialistische Friedensgrenze gegen den überall lauernden imperialistischen Feind aus dem In- und Ausland zu sichern, wusste dessen als sozialistisch einzustufende Haltung zu würdigen und schickte ihn zu einem Grenzbataillon in der Nähe von Friedrich Schillers Bauerbach. Dort schob er an einem besonders heiklen Grenzabschnitt Dienst. Heikel deshalb, weil er nach Aufforderung seiner Vorgesetzten den Posten in unregelmäßigen Abständen räumen und unbewacht lassen musste, damit sich zwischen Ost und West eine Schleuse öffnen konnte, um unbemerkt Kundschafter für den Frieden in den Westen zu schicken.

Heikel war die Gegend aber auch deshalb zu nennen, weil zwei guten Freunden von ihm eines Tages die Idee kam, dass sie diese Schleuse für kleine Ausflüge in eine andere Welt auch selbst aktivieren und nutzen könnten. Wenn sie gemeinsam Wache schoben, begab sich von nun an regelmäßig einer in voller Montur auf die andere Seite der Grenze. Eigentlich war es nur ein kleiner Spaziergang. Unweit ihres damals noch unverminten Kontrollabschnitts lag im Westen eine Dorfkneipe, deren Lärmen bis zu ihnen in den Osten herüberdrang. Dort tauchten sie gelegentlich auf, um sich zu einem kühlen Bier einladen zu lassen. Nachdem die Bauern an der Theke ihre erste Überraschung überwunden und begriffen hatten, dass nicht etwa der dritte Weltkrieg ausgebrochen war, sondern lediglich etwas geschah, was durchaus als normal hätte gelten können, dass nämlich einer aus der Nähe kam, um seinen Durst zu stillen, wurde jeweils einer der drei Freunde beim nächsten Kneipengang fast schon wie ein alter Bekannter begrüßt und zu ein bis zwei Gläsern Bier und Schnaps eingeladen.

Die nicht alltäglichen Ausflüge hätten sie durchaus noch eine Weile fortsetzen können, ohne dass die jugendliche Gedankenlosigkeit Folgen gehabt hätte, wäre nicht einem der drei Freunde eines Tages eine neue und gleichfalls naheliegende Idee gekommen, nämlich dem sozialistischen Vaterland endgültig den Rücken zu kehren, um fortan täglich, ohne Uniform und Maschinenpistole, gemütlich sein Bier etwas tiefer im Landesinneren genießen zu können. Er leistete gute Überzeugungsarbeit, führte als schlagendes Argument an, dass sie sich als Grenzer auf lange Sicht nicht darum drücken könnten, zu Mördern zu werden. Hatte ihnen doch ihr Politoffizier unverhohlen erklärt, ein toter Republikflüchtling sei besser als einer, der verwundet oder gar unversehrt in den Westen gelangen würde. Jemand, der versuche, die Grenze illegal zu überschreiten, habe sich aus der sozialistischen Menschengemeinschaft selbst ausgeschlossen und verdiene, wie ein Hase abgeknallt zu werden.

Der schlaksige Zellengenosse konnte sich nicht entschließen, seine Mutter zu verraten. Die beiden Freunde schlichen sich über die ihnen bekannten Pfade in den anderen Teil Deutschlands. Rührend nahmen sie Abschied, schrieben an ihre Eltern einen Brief, in dem sie diese von ihrem Weggang unterrichteten, und dass der zurückgebliebene Freund Bescheid wisse, falls ihnen etwas zustoßen sollte.

Es stieß ihnen nichts zu. Dafür aber wurde die Post aus dem Postsack gefischt und der treue Freund als Mitwisser zu dreieinhalb Jahren verurteilt. Das niedrige Strafmaß verdankte er einzig dem Umstand, dass er selbst nicht hatte mitgehen wollen.

Die Verhaftung erlebte er wie eine Art Befreiung. Endlich schuldete er keinen Befehlen mehr Gehorsam, endlich musste er keine Angst mehr haben, dass er vielleicht einen Menschen erschießen würde. Im Gefängnis fühlte er sich frei. Hier würde er nicht mehr Gefahr laufen, ein Täter zu werden, die Opferrolle bewahrte ihn davor.

Schwermut

Nach einer Woche geht es wieder auf Transport. In der neuen Zelle, die eher an eine Fabrikhalle als an eine Zelle erinnert, wimmelt es von Unmassen Häftlingen. Achtzig bis hundertzwanzig mögen es sein. Neben der Eingangstür stehen fünf Kübel, die Tag und Nacht benutzt werden. Das Nächtigen erfolgt in dreistöckigen Eisenbetten. Der Gestank von Fäkalien und Schweiß ist kaum zu ertragen. Wie mir ein Student versichert, befinden wir uns in Heinrich von Kleists Geburtsstadt. In Gedanken an Kleists Ende am Wannsee befällt mich Schwermut. Wehmütig versuche ich mir vorzustellen, wo sich Regina aufhalten mag, die nach ihrer Heirat hierher gezogen ist, hierher nach Frankfurt an der Oder. Noch kann ich nicht wissen, dass sie sich vier Jahre später einer Krebsoperation unterziehen muss und mit vierzig aussehen wird, als sei sie achtzig. Mein Denken und Fühlen während des einwöchigen Aufenthalts in Frankfurt an der Oder gilt nur Regina. Ich kann mich nicht freimachen von ihr. Das könnte der Grund dafür sein, dass konkrete Erinnerungen an die Tage im dortigen Gefängnis nahezu aus meinem Gedächtnis gelöscht sind. Auch später, als ich von jemandem höre, dass dessen Freund ausgerechnet in den Tagen meines Zwangsbesuchs dort hingerichtet worden ist, kann ich mir den Ort des Grauens nicht in die Erinnerung zurückrufen.

Paukenschlag

Aus unerklärlichen Gründen hatte mich Kriemhild auserkoren, als Vater für das in ihrem Leib entstehende Leben herzuhalten. Von einer Heirat allerdings wollte sie trotz unsäglicher Angst vor ihrem Vater nichts wissen. Im Gegenteil, sie erklärte, ihre Liebe sei verrauscht, und sie wolle nun wieder allein leben. So zog ich nach einer nur wenige Wochen dauernden Liaison zurück in mein spärlich möbliertes Zimmer in der Puschkinstraße 38, wo ich zur Untermiete wohnte. Nicht nur Kriemhild, auch ich empfand die Trennung als befreiend. Dabei wüsste ich nicht viel Schlechtes über die Beziehung zu sagen, es sei denn, die nachlässige Haushaltsführung, die Berge still vor sich hinschimmelnden, nicht abgewaschenen Geschirrs hätten mich gestört. Kriemhild störte der Schmutz, in dem wir fast umkamen, nicht. Mich dagegen schon. Allerdings nicht so sehr, dass ich es für nötig befunden hätte, mich selbst der, wie ich damals meinte, eines Mannes unwürdigen Beschäftigung anzunehmen. Von Zeit zu Zeit bat ich die Nachbarsfrau, sich gegen Bezahlung der lästigen Arbeit anzunehmen. Spät in der Nacht kehrten wir von den Abstechern zurück, die uns auf die Bühnen der noch tieferen Provinz geführt hatten, wo ich manchmal in langen Unterhosen in der Garderobe stand und von eindringenden kleinen Mädchen um ein Autogramm gebeten wurde.

Bei Kerzenschimmer philosophierten Kriemhild und ich über das Mysterium unseres Seins, um unmerklich in der tosenden Brandung der Körper zu versinken. Erst am nächsten Morgen bei Tageslicht trübte der Schmutz den Blick des Verliebten.

Wieder allein, bemächtigte sich meiner Fantasie das Verlangen nach hinsinkender Weiblichkeit. In der Kleinstadt als junger Schauspieler bekannt wie ein bunter Hund, hatte ich es nicht schwer, als Trophäenjäger erfolgreich zu sein. In einer Bar spannte ich einem sowjetischen Offizier aus lauter Jux die bereits sicher gewähnte nächtliche Braut aus. Später hörte ich, dass ein ähnliches Abenteuer für den deutschen Rivalen tödlich geendet hatte.

Beim Schwof machte ich die Bekanntschaft einer jungen Lehrerin aus Pasewalk, die schon von mir gehört und mich im Weihnachtsmärchen auf der Bühne gesehen hatte.

Mit ihr waren meine Aussichten auf schnelles und kurzes Glück weniger gut. Zwar besuchte sie mich an einem Wochenende, Bedingung dafür aber war ein Hotelzimmer, das ich ihr besorgen müsste. Das versuchte ich auch, allerdings ohne Erfolg. Unter Aufwendung all meiner Überredungskunst brachte ich sie dazu, bei mir zu übernachten. Sie schlief in meinem Bett, ich auf dem Fußboden. Ich spürte, dass es besser sein würde, sich ihr nicht zu nähern, denn als ich versucht hatte, sie zu streicheln, zitterte sie wie Espenlaub und bat mich, ihr Zeit zu lassen. Eines Tages werde sie mir erzählen, weshalb sie das, was zwischen Mann und Frau normal sei, vielleicht nie werde tun können.

Beim nächsten Tanzvergnügen hatte ich mehr Glück, lernte ein Mädchen kennen, das als Bankangestellte arbeitete, ein Jahr älter war als ich und, wie sie mir erklärte, nur darauf gewartet habe, sich mir hinzugeben. Schon als Zuschauerin habe sie mich auf der Bühne bewundert und mir ihr Herz geschenkt. So viel Bewunderung zu erfahren, war mir peinlich, wusste ich doch, dass ich in der Schauspielerei ein blutiger Anfänger war und meine zukünftigen beruflichen Erfolge in den Sternen standen.

Zwei- oder dreimal forderte ich meine Bewunderin noch auf, mich zu besuchen, um ihre Liebesdienste abgeklärt und fast gelangweilt in Anspruch zu nehmen. Mit so viel Hingabe wusste ich nichts anzufangen. Es fehlte ihr an jeglicher Raffinesse. Und wozu leugnen, die Tatsache, dass ich mich mit ihr außer über persönliche Dinge über sonst nichts unterhalten konnte, befremdete mich zusehends.

Wie sie da vor mir lag wie ein Lamm, brachte ich es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass unsere Beziehung nur ein kleines Abenteuer gewesen sei. Weiteren Treffen wich ich aus, schützte Proben- und Abstechertermine vor.

Als sie einige Wochen später kam und mir eröffnete, dass sie schwanger sei, verfehlte das seine Wirkung nicht. Auf meinen Schädel fühlte ich einen Paukenschlag niedersausen. Meine Aufforderung, dem Problem nach bewährtem Rezept zu begegnen, lehnte sie ab, erklärte, ich sei ihre große Liebe, und an ihrem Entschluss wolle sie selbst dann festhalten, sollte ich sie verlassen. Es stimme zwar, dass sie schon einmal erfolgreich eine Abtreibung mit Heißwasserkuren und Seifenlauge vorgenommen habe, aber den Jungen, der damals ihr Verlobter gewesen sei, habe sie nicht geliebt. Ich hätte sie von ihm befreit.

Eine schöne Bescherung. Nun sah ich, gerade erst neunzehn geworden, doppelten Vaterfreuden entgegen. Das Blut wich mir aus dem Kopf. Mich beschlich ein Gefühl der Ohnmacht; das Schicksal nahm seinen Lauf. Die armen Kinder, Fluch der bösen Triebe, die mir unbeherrschbar zu sein schienen. Irgendwie war ich ihnen – fast hilflos schon – ausgeliefert. Sie überlagerten mein klares Denken.

Vergebens war ich mir meines schändlichen Vorgehens bewusst. Es drängte mich Tag für Tag zu etwas, wovon ich wusste, dass ich ein verlogenes Subjekt war, mich zurückhalten müsste, um nicht andere Menschen, genauer gesagt: andere Frauen, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu etwas zu verleiten, von dem sie sich anderes erwarteten und versprachen als ich.

Don Giovanni könnte ein Seelenverwandter von mir gewesen sein. Auch ich hetzte von einem Abenteuer zum nächsten, wollte mich immer wieder aufs Neue beweisen. Mehr nicht.

Ich schämte mich des entstehenden Lebens.

Als Kriemhild von der Sache erfuhr, schäumte sie vor Wut und verbreitete, ich würde sämtliche Mädchen der Stadt verführen. Diese Behauptung war weit übertrieben, eher nur eine überzogene Vermutung. Doch ich strengte mich nicht an, die Vorwürfe zu entkräften. Es schmeichelte meiner Eigenliebe, solcher Chancen bei den Frauen verdächtigt zu werden.

In stillen Momenten aber, und die kamen trotz des Durcheinanders von Gefühlen, Denken und Handeln gelegentlich über mich, stellte ich mir die Frage, wie so eine gelebte Bewusstseinsspaltung zwischen Anspruch und Wirklichkeit möglich sein kann.

€13,99
Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
391 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783954628599
Rechteinhaber:
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