Buch lesen: «Wolf unter Wölfen»
Wolf unter Wölfen
Hans Fallada
Inhaltsverzeichnis
Erster Teil: Die Stadt und ihre Ruhelosen Erstes Kapitel: Man erwacht in Berlin und anderswo
1 Mädchen und Mann
2 Das Mädchen erwacht halb
3 Ein Rittneister kommt nach Berlin
4 Berlin macht sich Frühstück
5 Förster Kniebusch trifft Holzdiebe
6 Hungerrevolte im Zuchthaus Meienburg
7 Die Zofe Sophie schreibt einen Brief
8 Mädchen und Mann erwachen
Zweites Kapitel: Berlin macht sich schwach
1 Der Rittmeister sucht Leute
2 Warten auf ein Frühstück
3 Petra wird von einem Spieler gebildet
4 Der Rittmeister engagiert Leute
5 Frau Pagel frühstückt
6 Ehe und Einsamkeit der Frau Pagel
7 Ein erfolgloser Spielabend
8 Auseinandersetzung zwischen Liebenden
Drittes Kapitel: Jäger und Gejagte
1 Inspektor Meier macht eine Bekanntschaft
2 Besuch auf einer Pfandleihe
3 Der Rittmeister trifft einen Kameraden
4 Petra macht eine Entdeckung
5 Prackwitz findet Berlin ekelhaft
6 Pagel zögert vor Zecke
7 Pagel bekommt kein Geld
8 Pagel läßt sich mitnehmen
9 Frau Pagel hört von einer Heirat
Viertes Kapitel: Nachmittagsschwüle über Stadt und Land
1 Ein Interview im Zuchthaus
2 Petras Austreibung
3 Inspektor Meier macht sich beliebt
4 Der Rittmeister auf dem Präsidium
5 Pagel bei reichen Leuten
6 Negermeier als Liebesbote
7 Frau Pagel besucht Frau von Anklam
8 Petra im Torweg
Fünftes Kapitel: Das Gewitter bricht los
1 Oberwachtmeister Gubalke nimmt Petra fest
2 Wolfgang auf dem Wege zur Mutter
3 Streit mit der Mutter
4 Entlassung der Zofe Sophie
5 Förster Kniebusch erfährt Neues
6 Beim Schulzen Haase
7 Von Studmann fällt die Treppe hinunter
8 Pagel verkauft sein Bild
9 Petra auf der Wache
10 Pagel erfährt Neues über Petra
Sechstes Kapitel: Das Gewitter ist vorbei, aber es bleibt schwül
1 Prackwitz erledigt den Fall Studmann
2 Negermeier schenkt sein Essen der Hartig
3 Weio im Komplott mit Räder und Kniebusch
4 Petra als Pflegerin der Hühnerweihe
5 Geheimrat von Teschow schreibt eine Rechnung
6 Amanda in der Abendandacht
7 Frau Pagel und Minna packen
8 Sophie im Christlichen Hospiz
9 Prackwitz engagiert Studmann
10 Die beiden Freunde treffen Pagel
Siebentes Kapitel: Schwüle Vollmondnacht
1 Amanda und Frau Hartig einigen sich wegen Meier
2 Geheimrats gehen schlafen
3 Negermeier besorgt sich einen Rausch
4 Der Leutnant steigt ein, aber Amanda paßt auf
5 Der Leutnant findet einen Brief
6 Förster Kniebusch fängt einen Wilderer
7 Auf der Straße vor dem Spielklub
8 Pagel spielt erfolglos
9 Der Rittmeister wird Pagels Schüler
Achtes Kapitel: Er verwirrt sich in der Nacht
1 Amanda überredet Hänseken zur Flucht
2 Der Leutnant besucht Herrn Meier
3 Meier schießt
4 Der Leutnant hat es eilig
5 Frau Krupaß erklärt ihren Standpunkt
6 Petra wird Stellvertreterin von Frau Krupaß
7 Streit mit dem Valutenvamp
8 Von Studmanns Irrfahrt
9 Pagel spielt das große Spiel
10 Drei auf dem Alex
11 Pagel an der Pforte
Neuntes Kapitel: Ein neuer Start am neuen Tag
1 Sophie erwacht
2 Negermeier knapp am Tod vorbei
3 Pagel holt sein Gepäck
4 Liebschner verschafft sich Außenarbeit
5 Auch Petra steht auf
6 Weio berichtet wilde Dinge
7 Der Rittmeister und seine Leute
8 Sophie rettet den Rittmeister
Zweiter Teil: Das Land in Brand Zehntes Kapitel: Friede der Felder
1 Studmann zeigt Frau Hartig Fensterputzen
2 Studmann und der Geheimrat in Streit
3 Da gehen sie –!
4 Übermut eines Oberleutnants
5 Räder, der tiefe Diplomat
6 Sophies Abenteuer
7 Der Geheimrat findet Bilderchen
8 Pagel findet einen Brief
9 Fang von Felddieben
Zeitungen, Zeitungen …
Elftes Kapitel: Es kommen des Teufels Husaren
1 Der Rittmeister schreit wegen eines Briefes
2 Die Entlassung Pagels
3 Pagel küßt Weio
4 Studmann erläutert einen Pachtvertrag
5 Einrücken der Husaren
6 Der Geheimrat macht Schwierigkeiten
7 Backsteinkreuz und Gänsemord
8 Nach dem Gänsemord
9 Der Rittmeister und Weio machen eine Entdeckung
10 Räder hat bei Weio einen Erfolg
11 Der Rittmeister wehrt sich
12 Wolfgang und Weio in der Nacht
Aber die Zeitungen …
Zwölftes Kapitel: Such verloren!
1 Neulohe ohne Rittmeister
2 Minna findet Petra
3 Oberwachtmeister Marofke sieht Gespenster
4 Fünf Gespenster laufen
5 Pagel ruft um Hilfe
6 Marofke gestürzt
7 Heimkehr des Rittmeisters
8 Ein Brief von Geheimrat Schröck
9 Ein Gerichtstermin in Frankfurt
10 Eheliche Szene um ein Auto
11 Frau Eva und Studmann kommen einander näher
12 Pagel trifft Negermeier im Wald
Dreizehntes Kapitel: Verloren und verlassen
1 Studmann reist und Frau Eva ist sehr allein
2 Frau Eva bittet den Diener um Auskunft
3 Die alten Teschows reisen
4 Im »Goldenen Hut« zu Ostade
5 Der Leutnant in der Zange
6 Fehlschläge eines Selbstbewußten
7 Der Rittmeister geht verloren und Frau Eva wartet
8 Ende eines Leutnants
9 Familie Prackwitz kehrt heim
10 Das Verschwinden Violets
11 Suche in der Nacht
Vierzehntes Kapitel: Das Leben geht weiter
1 Pagel als Regente
2 Einlaß in eine Kammer
3 Kleine Ehe ohne Ehe
4 Sophie im Kampf
5 Kniebusch: stumm geworden
6 Pagels mutlose Stunde
7 Der Rittmeister erwacht
8 Frau Eva und ihr Inspektor
9 Der Rittmeister spricht wieder
Fünfzehntes Kapitel: Der letzte bleibt nicht allein
1 Höchste Geldnot in Neulohe
2 Heldentod eines Feiglings
3 Pagel versteht zu spät
4 Pagel muß Geld beschaffen
5 Teschow junior hat eine Erbschaftsvision
6 Abschiedsstimmung unter den Leuten
7 Der dicke Kriminalist gibt Nachricht
8 Heimkehr einer Tochter
Sechzehntes Kapitel: Die Wunder der Rentenmark
1 Alles, alles anders!
2 Wolfgang geht wieder zur Schule
3 Petra als Sirene
4 Modesalon Eva von Prackwitz
5 Amanda Backs entlobt sich
6 Abschied von Geheimrats
7 Des Schwimmens unkundig
8 Mann und Frau in der Nacht
Erster Teil Die Stadt und ihre Ruhelosen
Erstes Kapitel
Man erwacht in Berlin und anderswo
1
Auf einem schmalen Eisenbett schliefen ein Mädchen und ein Mann.
Der Kopf des Mädchens lag in der Ellbogenbeuge des rechten Arms; der Mund, sachte atmend, war halb geöffnet; das Gesicht trug einen schmollenden und besorgten Ausdruck – wie von einem Kind, das nicht ausmachen kann, was ihm das Herz bedrückt.
Das Mädchen lag abgekehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaffen Armen, in einem Zustand äußerster Erschöpfung. Auf der Stirn, bis in das krause, blonde Kopfhaar hinein, standen kleine Schweißtropfen. Das schöne und trotzige Gesicht sah ein wenig leer aus.
Es war – trotz des geöffneten Fensters – sehr heiß in dem Zimmer. Ohne Decke und Nachtkleid schliefen die beiden.
Es ist Berlin, Georgenkirchstraße, dritter Hinterhof, vier Treppen, Juli 1923, der Dollar steht jetzt – um 6 Uhr morgens – vorläufig noch auf 414 Tausend Mark.
2
In den Schlaf der beiden sandte der dunkle Schacht des Hinterhofs die flauen Gerüche aus hundert Wohnungen. Hundert Geräusche, sachte noch, drangen durch das offene Fenster, vor dem reglos eine gelblichgraue Gardine hing. Plötzlich schrie, auf der andern Seite des Hofes, keine acht Meter entfernt, ein Flüchtlingskind von der Ruhr angstvoll auf.
Die Lider des schlafenden Mädchens zuckten. Der Kopf hob sich ein wenig. Die Glieder spannten sich. Nun weinte das Kind leiser, eine Frauenstimme schalt schrill, ein Mann brummte – und der Kopf sank zurück, die Glieder entspannten sich neu, das Mädchen schlief weiter.
Im Haus rührte es sich. Türen schlugen, Schritte schlürften über den Hof. Auf den Treppen polterte es, Emaillekannen schlugen gegen eiserne Geländer. In der Küche nebenan lief die Wasserleitung. Im Erdgeschoß, in der Blechstanzerei, schrillte eine Glocke, Räder surrten, Riemen schleiften …
Die beiden schliefen …
3
Über der Stadt lag – trotz früher Stunde und klaren Himmels – ein trüber Dunst. Der Brodem eines verelendeten Volkes stieg nicht gen Himmel, er haftete träg an den Häusern, kroch durch alle Straßen, sickerte durch die Fenster, in jeden atmenden Mund. Die Bäume in den verwahrlosten Anlagen ließen fahl die Blätter hängen.
Dem Schlesischen Bahnhof näherte sich, aus dem Osten des Reiches kommend, ein früher Fernzug, mit klappernden Fenstern, zerbrochenen Scheiben, zerschnittenen Polstern – die Ruine eines Zuges. Schlagend, klirrend, stoßend fuhren die Wagen über die Weichen und Kreuzungen von Stralau-Rummelsburg.
Ein Herr, Rittmeister a. D. und Rittergutspächter, Joachim von Prackwitz-Neulohe, weißhaarig und schlank, doch mit dunkel glühenden Augen, beugte sich hinaus, zu sehen, wo man wäre. Er fuhr zurück – ein glühendes Rußteilchen war ihm ins Auge geflogen. Mit dem Taschentuch wischte er, er schalt zornig: Elende Dreckstadt!
4
Im Herd war Feuer entzündet mit lappigem gelbem Papier und Streichhölzern, die stanken oder deren Kuppe abflog. Feuchtes, schwammiges Holz oder minderwertige Kohle schwelten. Das verfälschte Gas brannte puffend, ohne zu hitzen. Langsam wurde wäßrige blaue Milch warm, das Brot war klitschig oder zu trocken. In der Hitze der Wohnung weich gewordene Margarine roch ranzig.
Eilig aßen die Leute das lieblose Essen, eilig, wie sie eilig in die zu oft entfleckten, gewaschenen, ausgebeutelten Kleider gefahren waren. Eilig überflogen ihre Augen die Zeitungen. Es hatte Teuerungskrawalle, Unruhen und Plünderungen in Gleiwitz und Breslau, in Frankfurt am Main und Neuruppin, in Eisleben und Dramburg gegeben, 6 Tote und 1000 Verhaftete. Daraufhin hat die Regierung Versammlungen unter freiem Himmel verboten. Der Staatsgerichtshof verurteilt eine Prinzessin wegen Begünstigung des Hochverrats und Meineids zu 6 Monaten Gefängnis – aber der Dollar steht auf 414 Tausend Mark gegen 350 Tausend am 23. Am Ultimo, in einer Woche, gibt es Gehalt – wie wird der Dollar dann stehen? Werden wir uns zu essen kaufen können? Für vierzehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Werden wir Schuhsohlen kaufen, das Gas bezahlen können, das Fahrgeld –? Schnell, Frau, hier sind noch 10 000 Mark, kauf was dafür. Was, ist gleichgültig, ein Pfund Mohrrüben, Manschettenknöpfe, die Schallplatte ›Bananen verlangt sie von mir‹ – oder einen Strick, uns aufzuhängen … Nur schnell, lauf, rasch –!
5
Auch über Rittergut Neulohe leuchtete die frühe Sonne. Auf den Feldern stand der Roggen in Stiegen, der Weizen war reif, der Hafer auch. Ein paar Maschinen klapperten verloren in der Felderweite, über der die Lerchen unermüdlich ihre Wirbel und Triller schlugen.
Förster Kniebusch, rotbraunes, faltiges Altersgesicht, mit kahlem Kopf, aber weißgelblichem, rundem Vollbart, tritt aus der Hitze des offenen Feldes in den Wald. Er geht langsam, mit der einen Hand rückt er den Flintenriemen auf der Schulter zurecht, mit der andern wischt er den Schweiß von der Stirn. Er geht nicht fröhlich, nicht eilig, nicht kraftvoll; er geht in seinen eigenen, also wenigstens in den von ihm betreuten Forst sachtfüßig, mit weichen Knien, vorsichtig. Sein Auge sieht auf dem Wege jeden Ast, er vermeidet, auf ihn zu treten, er will leise gehen.
Und doch trifft er trotz aller Vorsicht bei einer Wegbiegung, hinter einem Gebüsch vorkommend, auf eine kleine Prozession von Handwagen. Männer und Frauen. Auf den Wagen liegt frisch geschlagenes Holz, nur schiere Stämme – die Äste sind denen zu schlecht. Förster Kniebusch steigt die Zornröte in die Wangen, seine Lippen bewegen sich, in die vom Alter ausgeblaßten Augen kommt ein tieferer Glanz, ein wenig Feuer, aus der Jugend her.
Der Mann am vordersten Wagen – natürlich der Bäumer – hat gestutzt. Nun geht er schon weiter. Nahe, in kaum einem Meter Abstand, klappern die Wägelchen mit dem gestohlenen Holz am Förster vorüber. Die Leute starren in die Luft oder zur Seite, als sei er nicht da, der da schwer atmend steht … Dann verschwinden sie um die Gebüschecke.
›Sie werden alt, Kniebusch‹, hört der Förster des Rittmeisters von Prackwitz Stimme.
›Ja‹, denkt er trübe. ›Ich bin so alt geworden, daß ich gerne in meinem Bette sterben möchte.‹
Denkt es und geht weiter.
Er wird nicht in seinem Bette sterben.
6
Im Zuchthaus Meienburg schrillen die Alarmglocken, die Wachtmeister rennen von Zelle zu Zelle, der Direktor telefoniert mit der Reichswehr um Verstärkung, die Verwaltungsbeamten schnallen sich Gürtel mit Pistolen um die Bäuche und greifen nach Gummiknüppeln. Vor zehn Minuten hat Gefangener 367 dem Wachtmeister sein Brot vor die Füße geworfen: Ich verlange Brot, vorgeschriebenes Gewicht, und keinen verdammten Gipsbrei! hat er geschrien.
In der gleichen Sekunde war der Tumult, der Aufruhr losgebrochen. Aus zwölfhundert Zellen hatte es geschrien, gebrüllt, gejammert, gesungen, geheult: Kohldampf! Hunger! Kohldampf! Hunger!
Unter den strahlend weißen Mauern des hochgelegenen Zuchthauses lag geduckt das Städtchen Meienburg – in jedes Haus, in jedes Fenster drang das Gebrüll: Kohldampf! Hunger! Nun krachte es, tausend Gefangene waren mit ihren Schemeln gegen die Eisentüren gerannt.
Durch die Gänge liefen die Wachtmeister und Kalfaktoren, flüsterten beschwörend an den Türen der Aufrührerischen. Die Zellen der Gutgesinnten wurden aufgeschlossen: Seid vernünftig, niemand in Deutschland bekommt anderes Essen … der Dollar … das Ruhrrevier … Es werden sofort Erntekommandos zusammengestellt, die auf die großen Güter geschickt werden. Jede Woche ein Paket Tabak, täglich Fleisch … für die mit guter Führung …
Mählich schwillt der Lärm ab. Erntekommandos … Fleisch … Tabak … gute Führung … Es sickert durch die Mauern, es besänftigt die knurrenden Mägen, eine Aussicht, eine Hoffnung auf Sättigung, freien Himmel, vielleicht Flucht … Die letzten Lärmschläger, die von der eigenen Wut Wütenden schleppen die Wachtmeister in die Arrestzellen: Da, versucht, wie es sich ohne den Gipsbrei lebt!
Die Eisentüren fliegen krachend zu.
7
Trotz der frühen Morgenstunde ist im Bayerischen Viertel zu Berlin in der Wohnung der Gräfin Mutzbauer die Zofe Sophie schon wach. Ihre Kammer, die sie mit der noch tief schlafenden Köchin teilt, ist so schmal, daß außer für die zwei Eisenbetten nur noch Platz für zwei Stühle ist – so schreibt sie auf dem Brett des geöffneten Fensters ihren Brief.
Sophie Kowalewski hat schön gepflegte Hände, doch führen sie den Bleistift nur ungeschickt. Grundstrich, Haarstrich, Häkchen, Komma, Haarstrich, Grundstrich … Ach, sie möchte so vieles sagen …: wie er ihr fehlt, wie die Zeit nicht vergehen will, fast noch drei Jahre und kaum erst ein halbes herum … Aber es wird nichts; Gefühle in Geschriebenes umzusetzen, hat Sophie Kowalewski, Tochter des Leutevogts Kowalewski in Neulohe, nicht gelernt. Ja, wenn er hier wäre, wenn es sich um Sprechen handelte, um eine Berührung –! Sie könnte alles ausdrücken, sie könnte ihn mit einem Kuß wild machen, mit einem leisen Anfassen glücklich … Aber so!
Sie starrt vor sich hin. Ach, sie möchte es ihn spüren lassen in diesem Brief! Aus der Fensterscheibe sieht sie mattfarbig eine zweite Sophie an. Unwillkürlich lächelt sie ihr rasch zu. Ein paar Löckchen haben sich gelöst, hängen dunkel in die Stirn. Die Schatten unter den Augen sind auch dunkel. Sie müßte sich wieder einmal die Zeit nehmen, gründlich auszuschlafen – aber gibt es denn Schlafenszeit in dieser Zeit, wo alles so merklich verrinnt, kaum da es deutlich wurde –? Alles zerfällt, nutze die Minute, heute lebst du noch, Sophie!
Sie mag morgens noch so müde sein, die Füße brennen, der Mund schmeckt schal nach all den Likören, dem Wein, den Küssen – am Abend zieht es sie doch wieder in eine der Bars. Tanzen, trinken und toben! Kavaliere genug, lappig wie ihr Geld, Hunderttausende, fünfzigfacher Zofenlohn, lose in einer Jackettasche. Sie ist auch letzte Nacht mit einem von den Kavalieren mitgegangen – was kommt es darauf an? Die Zeit rinnt, läuft, jagt. Vielleicht sucht sie auch Hans, den für dreiundeinviertel Jahr verlorenen Hans (Hochstapelei) in all den immer wiederholten Umarmungen, in all den Gesichtern, die sich über das ihre neigen, so gierig-ruhelos wie das ihre … Aber den Hans, strahlend, rasch, allen überlegen, gibt es kein zweites Mal!
Sophie Kowalewski, der harten Arbeit auf dem Rittergut entflohen, sucht in der Stadt – sie weiß nicht was, irgend etwas, das sie noch härter anfassen wird. Einmalig ist dieses Leben, vergänglich; wenn wir tot sind, sind wir so lange tot; und wenn wir alt sind, schon, wenn wir über fünfundzwanzig sind, sieht uns keiner mehr an. Hans, ach Hans … Sie trägt das Abendkleid der Gnädigen, es ist schnurz, ob die Köchin es sieht. Was die bei den Lieferanten schmuh macht, klaut sie an Seidenstrümpfen und Seidenwäsche. Keiner hat der andern etwas vorzuwerfen. Es ist gleich sieben, schnell noch den Schluß … Und verbleibe ich mit heißen Küssen Deine Dich ewig liebende Braut Sophie …
Sie legt keinen Wert auf das Wort Braut, sie weiß auch gar nicht, ob sie das möchte, ihn heiraten, aber sie muß es schreiben, damit sie ihm im Zuchthaus den Brief auch aushändigen.
Und der Zuchthausgefangene Hans Liebschner wird den Brief seiner Braut erhalten, er gehörte nicht zu denen, die wegen zu wilden Gebrülls in eine Arrestzelle gebracht worden waren. Nein, trotzdem er kaum erst ein halbes Jahr im Zuchthaus Meienburg wohnte, war er ganz gegen alle Hausordnung schon zum Kalfaktor aufgerückt und hatte es verstanden, mit besonderer Überzeugung von Erntekommandos zu reden. Das konnte er, er wußte: Neulohe lag nicht weit ab von Meienburg, und Neulohe war die Heimat einer süßen Puppe namens Sophie …
›Ich werde das Kind schon schaukeln‹, dachte er.