Hans Fallada: Der Trinker – Band 186e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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Aus der Reihe: gelbe Buchreihe #186
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Kapitel elf

Kapitel elf

Ich war auch fest entschlossen, so bald nicht wieder dorthin zurückzukehren. Mochte sie ruhig eine Weile dort allein weiterwursteln, ich machte ihnen ja doch nichts zu Dank. Der ganze Kram langweilte mich schon lange, jetzt hatte ich eine bessere und interessantere Aufgabe gefunden, die meiner augenblicklichen Stimmung viel mehr entsprach: mein Kampf gegen Magda! Sie sollte sich nur an mir versuchen, es würde mir direkt Spaß machen, ihr zu beweisen, wie viel klüger und gesetzeskundiger ich war als sie!

Ich war wieder auf der Wanderung, meine Aktentasche unterm Arm, durch einen schönen, aber schon recht heißen Tag am Ausgang des Frühlings. Die Königin des Alkohols – ich hatte sie viel zu lange vergessen. Langweilig war die jedenfalls nicht. Außerdem musste ich mir endlich meine Schuhe wiederholen, niemand sollte mir nachsagen können, dass ich in der Trunkenheit meine Kleidung durch halb Europa verstreute. Niemand, nicht einmal Magda. Es war ja so ziemlich klar, was diese tüchtige Dame, mit der ich bisher verheiratet gewesen war, beabsichtigte. Scheidung, nun schön, aber Scheidung ging nicht so schnell; vor einer Scheidung mussten auch erst einige Vorbereitungen getroffen werden, z. B. eine Untersuchung durch den Arzt. Magda stand sich sehr gut mit Doktor Mansfeld, schon seit vielen Jahren. Er hatte sie immer behandelt, wenn sie krank gewesen war, ich kannte ihn weniger, mir hatte eigentlich noch nie etwas gefehlt. Sie würde ihn schon zu ihrer Auffassung überreden, und dann sollte vermutlich so etwas kommen wie Entmündigung und Unterbringung in einer Trinkerheilstätte. Das würde ihr so passen, der guten Magda: der Mann sitzt in einer Anstalt, natürlich möglichst dritter Klasse, und sie wirtschaftet in und mit seinem Eigentum, leitet die Firma. Aber es gab andere Ärzte, berühmtere und tüchtigere als der gute alte Doktor Mansfeld, der schließlich und endlich nur ein einfacher praktischer Arzt war; gleich in den nächsten Tagen schon würde ich zu einem oder mehreren von ihnen gehen und mir Atteste über meine völlige Gesundheit geben lassen. Mit einem solchen Ziel vor Augen würde es leicht sein, ein oder zwei Tage vor dem Arztbesuch überhaupt nichts zu trinken. Sie würde schon sehen, mit wem sie da angefangen hatte, die gute Magda; trotz fünfzehn Jahre Ehe kannte sie ihren Mann noch lange nicht! Jedenfalls: Ehe ich ihr mein Eigentum überließ, steckte ich ihr lieber die Villa über dem Kopf an, das war klar.

So etwa gingen meine Meditationen während meines Weges in jenen Dorfgasthof, und das Ausmalen bis in alle Details hinein kürzte mir die Zeit auf das Angenehmste. Ich konnte z. B. lange dabei verweilen, wie ich in irgendeiner Zelle der Trinkerheilanstalt mit eiskaltem Wasser geängstigt und mit schlechtem Essen gefüttert wurde, während Magda in unserem hübschen Speisezimmer ein Kalbskotelett mit Stangenspargel aß. Dann kamen mir fast die Tränen der Rührung über mein schlimmes Los und Magdas Ungerechtigkeit in die Augen. Zwischendurch verfütterte ich, da ich wie meist in der letzten Zeit nicht den geringsten Hunger verspürte, mein Frühstücksbrot an dörfliche Enten und Gänse, tauchte auch von Zeit zu Zeit hinter einer Hecke vor aller Sicht unter und nahm einen Schluck.

Ich verlor nie ganz ein leises Gefühl der Beschämung darüber, dass ich, Erwin Sommer, mich hinter einer Hecke versteckte, einen Flaschenhals an den Mund setzte und Schnaps in mich hineinlaufen ließ wie der letzte Walzenbruder.


Es wurde mir nicht selbstverständlich, dagegen stumpfte ich nicht völlig ab. Doch es musste nun einmal sein, es ging eben nicht anders.

Kurz vor meinem Ziel war ich mit meiner Flasche alle, ich warf sie in den Straßengraben und machte mich an die letzten fünf Minuten Weg. Vom Kirchturm des Dorfes läutete es gerade zur Mittagsstunde; vor mir, an mir vorbei, mir nach zogen die Dörfler, die vom Felde kamen, Hacken und Spaten auf der Schulter. Manche grüßten mich, andere sahen mich nur musternd von der Seite an, wieder andere schließlich stießen sich an, verzogen die Gesichter und lachten, während sie an mir vorbeigingen. Es mochte ja nur die übliche dörfliche kritische Einstellung dem stadtfein angezogenen Fremden gegenüber sein, ich hatte aber doch den Argwohn, dass mir vielleicht etwas von meinem Alkoholgenuss anzumerken oder etwas an meiner Kleidung nicht in Ordnung sei. Ich hatte es schon erfahren, dass eine der schlimmsten Gaben, die der Alkohol mit sich bringt, dieses Unsicherheitsgefühl ist, ob irgendetwas an einem nicht ganz stimmt. Man kann sich noch so oft im Spiegel mustern, die Kleidung ablesen, jeden Knopf nachprüfen – nie, wenn man etwas getrunken hat, ist man ganz sicher, dass man nicht doch etwas übersehen hat, etwas ganz offen zutage Liegendes, das man aber doch trotz gespanntester Aufmerksamkeit immer wieder übersieht. Im Traum hat man ganz ähnliche Gefühle, bewegt sich heiter in der gewähltesten Gesellschaft und entdeckt plötzlich, dass man vergessen hat, seine Hosen anzuziehen. Also: Dieses Angestarrtwerden wurde mir lästig, zudem fiel mir ein, dass gerade die lebhafte Mittagsstunde nicht die richtige Zeit sein würde, meine Hübsche aufzusuchen; ich schlug einen seitab führenden Feldweg ein und warf mich unter einem schattenden Gebüsch ins Gras. Sofort verfiel ich in Schlaf, in jenen tiefschwarzen Schlaf, den der Alkohol bringt, wobei man gewissermaßen ausgelöscht ist, einen befristeten Tod stirbt. Keine Träume gibt es da mehr, keine Ahnung von Licht und Leben – fort ins Nichts! Das ist es. –

Als ich wieder erwachte, stand die Sonne schon tief, ich musste vier, vielleicht sogar fünf Stunden geschlafen haben. Wie immer in dieser Zeit hatte mich der Schlaf gar nicht erfrischt, ich erwachte alt und müde, ein zittriges Gefühl in den Gliedern. Meine Knochen waren steif, als ich mich aufrichtete; und mit dem Gehen kam ich nur schwer zurecht. Ich wusste aber jetzt schon, dass das alles mit den ersten Schnäpsen, die ich zu mir nahm, sich rasch geben würde, und beeilte mich darum, in den Gasthof zu kommen.

Ich hatte die Stunde gut gewählt: wieder einmal war die Schankstube leer, auch hinter der Theke stand niemand. Steif ließ ich mich in einen Korbsessel fallen und hallote durstig nach der Bedienung. Erst steckte sich ein Mädchenkopf durch die Türspalte, es war aber nicht meine blasse Hübsche, sondern ein zottliges, rotnasiges Wesen älterer Machart, dann sah eine dicke Frau zu mir hin, rief: „Gleich! Gleich!“ und öffnete die Treppentür, die ich in jener Nacht, blind an der Hand geführt, hinaufgestiegen war.

„Elinor! Elinor! Komm runter!“ rief die Wirtin, versicherte mir noch einmal, dass ich gleich bedient werden würde, und verschwand wieder in der Küche. Also Elinor hieß sie, da hatte ich mit Elsabe nicht ganz schlecht geraten. Aber Elinor war auch sehr gut, war eigentlich noch besser. Elinor passte zu ihr, Elinor, la reine d'alcool, wirklich sehr hübsch!

Und da hörte ich sie auch schon die Treppe herunterkommen; gar nicht rehfüßig übrigens; die Tür klappte, und sie trat ein. Sie hatte sichtlich geschlafen, das Haar war nicht so glatt und ordentlich aufgesteckt wie sonst, und ihr helles Kleid hatte etwas Zerdrücktes, Unordentliches. Sie stand da einen Augenblick und sah zu mir herüber. Sie erkannte mich nicht gleich, sie musste gegen die Sonne blicken. Dann rief sie ganz vergnügt: „Ach, das ist ja nur das Väterchen, das so gerne Schnaps trinkt!“ rief's und lief schon wieder die Treppe hinauf. Ich nahm ihr die neuerlichen, für meinen Durst eigentlich schmerzlichen Worte gar nicht übel. War ich doch nur froh über diesen unbefangenen Empfang. Ein bisschen hatte ich mich doch gefragt, wie sie mich nach meinem Abgang über das Schuppendach in jener Nacht aufnehmen würde. Nun aber war alles gut, und ich wartete mit Geduld die fünf Minuten, bis sie, nunmehr geschniegelt und glatt, wieder auftauchte. Sie kam gleich an meinen Tisch, bot mir wie einem alten Freund die Hand und sagte freundlich: „Ich dachte schon, Sie wollten gar nicht mehr wiederkommen! Was haben Sie denn so lange gemacht? Sind Sie nun schon ganz bankrott?“

„Noch nicht, ma reine“, sagte ich, auch lächelnd. „Vorläufig habe ich erst einmal das Geschäft meiner Frau übertragen, mit der ich übrigens in Scheidung liege. Was meinst du dazu, meine Hübsche? In acht Wochen bin ich vielleicht schon zu haben! Noch ganz gut erhalten, wie?“

Sie sah mich einen Augenblick an, dann verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht, und sie sagte ganz kühl und geschäftsmäßig: „Einen Korn, nicht wahr? Oder gleich wieder eine ganze Flasche, wie?“

„Richtig, meine Goldene!“ rief ich. „Gleich wieder eine ganze Flasche! Und für dich wiederum eine Flasche Sekt!“

„Nicht am Tage“, antwortete sie kurz und ging. Einen Augenblick später hatte ich zu trinken, ausgiebig, von diesem wasserhellen Stoff, den ich schon mehr liebte als den Kognak. Aber sonst kam ich an diesem Nachmittag nicht auf meine Kosten. Elinor war ständig beschäftigt, in und außer der Gaststube, und wir konnten nur dann und wann ein paar Worte wechseln. Darüber verdrossen trank ich mehr als gewohnt, schon nach anderthalb Stunden musste mir Elinor eine zweite Flasche bringen, und ich spürte selbst, dass ich schwer berauscht war. Dann kamen ein paar junge Burschen, darunter auch jener junge Maurer, mit dem Elinor so vertraut gesprochen hatte; und bloß um das Mädchen an meinen Tisch zu ziehen (was aber auch nur für fünf Minuten gelang), ließ ich sie alle bei mir Platz nehmen und bestellte für jeden, was er sich wünschte. Schon nach kurzer Zeit bot mein Tisch einen wilden Anblick. Bier- und Schnapsgläser, Wein- und Sektflaschen standen in einem wilden Durcheinander auf ihm, und um ihn gruppierte sich eine Rotte wild durcheinander redender, schreiender, lachender, fuchtelnder Gestalten, und ich war eine der wildesten und betrunkensten von allen. Ich fühlte mich ganz losgelassen, ich war wirklich wie ein Stein, der in den Abgrund stürzt – ich dachte an nichts mehr.

 

Bei unserem Lärmen hatten wir es ganz überhört, dass ein Auto vorgefahren war, und auch als zwei Herren eintraten, achteten wir kaum auf sie. Ich schrie einem Gegenüber, der gar nicht auf mich hörte, wieder irgendwelche Beteuerungen zu – und verstummte plötzlich, wie auf den Mund geschlagen, denn einer der beiden Herren, die jetzt an einem Nebentisch Platz nahmen, hatte mich mit einem freundlichen ‚Guten Abend!’ begrüßt, und dieser Herr war Doktor Mansfeld. Den anderen Herrn kannte ich nicht. Auch meine Zechkumpane verstummten; und auch, als sie sahen, dass nichts weiter erfolgte, sondern dass die Herren am Nebentisch, in ein Gespräch vertieft, ruhig ihr Bier tranken, kam die alte Lustigkeit nicht wieder auf. Einer nach dem anderen verdrückte sich, schließlich saß ich allein in diesem wüsten Tohuwabohu von Gläsern und Flaschen, und auch nach Elinor sah ich vergeblich aus: sie kam nicht, das Chaos zu ordnen. Wahrscheinlich scharmutzierte sie mit dem jungen Maurer, der wohl ihr Galan war, vor der Tür. Nach der wilden Ausgelassenheit eben hatte mich finstere Verdrossenheit überfallen, ich kaute auf meiner Lippe und schoss ab und zu einen argwöhnischen Blick nach dem Seitentisch, an dem man so gar keine Notiz von mir nahm. Mein Argwohn war erwacht; ich fragte mich, ob Doktor Mansfeld durch einen reinen Zufall, bei der Ausübung seiner Landpraxis, hierher geraten sein könnte oder ob ihn Magda hierher beordert hatte. Ich zergrübelte meinen Kopf, ob ich etwa Magda damals in meiner Betrunkenheit den Namen des Ausflugsortes genannt, oder doch so auf ihn hingedeutet hatte, dass er unschwer zu erraten war – ich wusste es nicht mehr. Der zweite Herr kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, wohin ich ihn tun sollte...

Wieder hätte ich gerne etwas getrunken, die Kornflasche stand nahe genug vor mir, und doch wagte ich es nicht, vor den beiden Gästen am Nebentisch mir das Glas auch nur einmal vollzuschenken. Ich sagte mir wohl, dass angesichts dieses Tisches und meines wilden Benehmens vorhin nicht mehr das Geringste zu verderben war, und doch wagte ich es nicht –.

Schließlich betrat Elinor wieder den Schankraum. Ich rief sie zu mir und bat sie leise, die Zeche zu machen. Während sie auf einem Block viele Zahlen aufschrieb, gebückt vor mir stehend und mich dadurch gegen die Sicht vom Nebentisch deckend, schenkte ich mir erst zwei, drei Schnäpse ein. Dann verkorkte ich die Flasche sorgfältig und schob sie in meine Aktentasche. Elinor warf einen raschen Blick auf mein Tun und flüsterte mit hochgezogenen Augenbrauen, zum Nebentisch deutend: „Freunde?“ Ich zuckte nur die Achseln. Die Rechnung war so hoch, dass ich mein Geld wirklich bis auf die letzte Mark hergeben musste und dass auch dann noch das Trinkgeld für Elinor höchst ungenügend ausgefallen war. Wieder sah sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und flüsterte: „Abgebrannt?“

Ich antwortete ebenso leise: „Ich weiß, wo es mehr gibt. Das nächste Mal, ma reine!“ Wozu sie leicht nickte.

Ich musste jetzt aufstehen und gehen, unter den beobachtenden Blicken des Nebentisches. Ich fasste meine Aktentasche und vergewisserte mich durch einen musternden Blick, auf welchem Haken mein Hut hing, damit ich ihn beim Hinausgehen nicht unnötig suchen musste, und stand auf. Ich fühlte, es würde gehen. Ich musste mich langsam und sehr vorsichtig bewegen, dann würde es schon gehen. Schließlich brauchte ich nur vors Dorf und ins erste bergende Gebüsch zu kommen, ja, schließlich – genialer Einfall: – Ich brauchte mich nur hier auf der Toilette einzuriegeln, und ich konnte schlafen, solange ich wollte. Frischen Proviant habe ich ja bei mir.

Ich hatte zum Nebentisch, schon im Aufstehen, höflich ‚Guten Abend’ gesagt, und nun war ich schon unter der Tür, einen Schritt entfernt von der Rettung, als hinter mir eine Stimme sagte: „Ach, einen Augenblick, Herr Sommer!“

Ich schrak so zusammen, dass ich fast gefallen wäre. „Wie bitte?“ rief ich unnötig laut. Der Arzt hatte nach meinem Arm gegriffen und mich gehalten.

„Habe ich Sie erschreckt? Das wollte ich nicht. Es tut mir leid.“

„Ach, nichts, nichts“, sagte ich verlegen. „Es war wohl nur der elende Läufer, ich bin über ihn gestolpert ...“ Und ich sah böse auf den glatt daliegenden Teppich.

„Ich wollte Sie nur fragen, Herr Sommer“, fing Doktor Mansfeld wieder an, „ob ich Ihnen vielleicht anbieten darf, in meinem Auto mit uns heimzufahren?“

Er machte eine Pause, dann sagte er lachend: „Wir haben ein bisschen gefeiert, nicht wahr? Nun, das macht nichts, das tut jeder von uns einmal gerne. Aber der Rückweg würde Ihnen vielleicht ein bisschen schwerfallen, was? Also, Sie fahren mit uns.“

Er fasste mich freundlich, aber fest unter den Arm. Der andere Herr hatte unterdes bezahlt und trat nun zu uns. „Darf ich Sie bekannt machen?“ fuhr der Arzt fort. „Herr Sommer – Herr Medizinalrat Doktor Stiebing, unser Kreisarzt.“

Damit führte er mich aus dem Lokal und auf das Auto zu. Ich aber folgte ihm wie ein Schaf seinem Schlächter. Der Kreisarzt!

Das war kein Zufall mehr, das war eine mir listig gestellte Falle! Verdammte Magda! Sie wollte mich reinlegen, sie handelte schnell, das musste ich zugeben. Aber auch ich war klug, ich musste mich verstellen, listig sein, Scharfsinn mit Scharfsinn übertrumpfen.

„Nun“, lachte ich plötzlich heiter, „zwei Ärzte, die werden ja wohl mit einem armen Berauschten fertig werden, was? Machen Sie es gnädig mit mir, meine Herren!“ Damit setzte ich mich hinten in den Wagen, während die beiden anderen Herren, ebenfalls lachend, vorn Platz nahmen. Wir wollten schon losfahren, als Elinor aus dem Hause gelaufen kam. Sie trug in den Händen ein hässliches, in Zeitungspapier gewickeltes Paket, sie reichte es mir in den offenen Wagen. Laut sagte sie: „Das sind Ihre Schuhe, die Sie neulich nachts hier vergessen haben!“ Höhnisch lachend sah sie mich mit ihrem weißen, großen Gesicht und den farblosen Augen an. Ihr Mund war sehr rot.

Nach einem betretenen Schweigen fragte der Arzt: „Können wir jetzt fahren?“

Ich antwortete: „Ja“, und der Wagen fuhr los.

* * *

Kapitel zwölf

Kapitel zwölf

Ich bin völlig außerstande, meine Stimmung während dieser Fahrt zu schildern. Abgrundtiefe Verzweiflung wechselte mit einer lähmenden Apathie, die mich selbst in diesem Zustande noch erschreckte. Es war, als läge ich in einem schweren Schreckenstraum gefangen, jeden Augenblick nahe dem Erwachen, und konnte doch nicht wach werden, geriet in immer tiefere, immer grausigere Schrecknisse. Neben mir auf dem Sitz lag das Paket mit den Schuhen, das Zeitungspapier hatte sich geöffnet, und ich sah sie da liegen, mit verwischtem Staub beschmutzt, eine Sohle sah mich an: einfach abscheulich. Abscheulich diese Tat der hübschen Elinor, würdig einer Königin des Schnapses.

‚Ja’, dachte ich, ‚so narrt und quält der Alkohol seine Jünger. Solcher Überraschungen ist nur er fähig. Man meint, sicher zu sein, sich gut verstellt, das Schlimmste überwunden zu haben, und plötzlich steckt er seine grinsende Teufelsfratze hervor, zerfleischt mit seinen Klauen deine Brust, lässt dich erbeben, vernichtet deine Würde ... La reine d'alcool – sehe ich dich je wieder, bekommst du keine gute Stunde mit mir, Elinor!’

Ich hielt es nicht mehr aus. Mit einem Blick vergewisserte ich mich, dass die beiden Herren vor mir in ein eifriges Gespräch vertieft waren; ich zog die Flasche aus der Tasche, entkorkte sie vorsichtig und tat ein paar kräftige Schlucke. Aber ich hatte nicht an den Rückspiegel über dem Führersitz gedacht.

„Nicht zu viel jetzt, und nicht zu hastig, mein lieber Herr Sommer“, sagte Doktor Mansfeld und hob vom Steuer eine mahnende Hand.

„Wir hätten nachher gerne noch ein vernünftiges Wort mit Ihnen gesprochen!“

Dieser Schurke, dieser glatte medizinische Schurke! Jetzt, da er mich in seinem Wagen hatte, ließ er die Maske fallen: nicht nach meinem Heim wurde ich gefahren, sondern zu einer ärztlichen Besprechung, bei der ganz zufällig auch der Medizinalrat als Kreisarzt zur Hand war!

Von da an war ich ganz ruhig und gesammelt. Der eben getrunkene Schnaps verlieh mir neue Kraft und Konzentration. Ich hatte ein festes Ziel vor Augen: diese Unterredung fürs erste unter allen Umständen zu vereiteln. Später, unter für mich günstigeren Umständen gerne, aber heute, so überlistet, auf Bestellung meiner Gnädigsten: ‚Da muss ich schon danken, meine Liebe!’

Das Auto fuhr und fuhr, schon waren wir im Außenbezirk unserer Stadt, und noch immer hatte sich keine Möglichkeit geboten, als Teilnehmer an dieser Fahrt auszuscheiden. Dann aber kam aus dem Fuhrhof von Hases einer seiner großen Lastzüge mit zwei Anhängern etwas überraschend hervor. Schon, während der Doktor den Wagen auf die linke Straßenseite hinüberriss, dabei scharf bremsend, hatte ich leise die Wagentür geöffnet, nun, da der Lastzug passiert war, und der Arzt schon wieder Gas gab, sprang ich leicht ab, einen Augenblick taumelte ich, rannte vorwärts neben dem Wagen, drohte zu fallen und hatte mich gefangen. Ich stand, winkte mit der Hand dem Wagen nach, den Passanten vorgebend, dieses plötzliche Aussteigen sei mit Wissen der Insassen geschehen, und schritt dann rasch, rechts von der Straße abbiegend, am Zaun des Fuhrhofes hoch, zu einer kleinen verfallenen Kolonie, die man in der Stadt nur ‚Das Scheunenviertel’ nannte. Ich schüttelte mich innerlich vor Lachen, dass die beiden weisen Ärzte von ihrer Expedition nichts heimbrachten als die Schuhe des Trinkers.

* * *

Kapitel dreizehn

Kapitel dreizehn

Am unangenehmsten in meiner augenblicklichen Situation war es, dass ich praktisch ohne einen Pfennig Geld auf der Straße stand. Nach Haus an meinen Schreibtisch, wo wenigstens etwas lag, konnte ich nicht gehen, denn ich musste mit Bestimmtheit annehmen, dass die Ärzte, sobald sie mein Fehlen merkten, dort zuerst nach mir sehen und Madame Magda Bericht erstatten würden. Für einen Bankbesuch war es zu spät, die Schalter waren schon seit zwei Stunden geschlossen; eben, als ich dies auf meiner Uhr festgestellt hatte, fiel mir ein, dass ich ja noch diese Uhr besaß, dazu einen schweren goldenen Siegelring und schließlich einen auch ganz durablen Ehering, der nach meinem heutigen Auftritt mit Magda auch seinen eigentlichen Sinn verloren hatte. Ich war also keinesfalls von allen Mitteln entblößt, und getrost lenkte ich meine Schritte in die eine enge und schmutzige Gasse, die durch das ‚Scheunenviertel’ führte. Diese Kolonie war in den Elendsjahren nach dem Weltkriege aus einem Barackenlager entstanden. Die ehemaligen Baracken waren durch mancherlei An- und Umbauten verändert, aber nicht verschönert worden. Dazwischen standen kleine rote Steinhäuschen, die schon wieder verfielen, ehe sie noch recht fertig geworden waren. Zögernd ging ich die Gasse entlang, selbst sehr unsicher, was ich hier eigentlich sollte und wollte, als mein Blick auf ein Fenster in einem solchen Steinkasten fiel, in dem das bekannte rote Schild hing, das meist Vermietungen anzeigt. Ich trat näher und las, dass hier tatsächlich ein behaglich möbliertes Zimmer an einen anständigen Herrn zu vermieten sei. Eine Klingel gab es nicht an diesem Haus, ich trat durch eine offene Tür und geriet sofort in eine Küche, die ganz vom Wrasen kochender Wäsche erfüllt war. Ich konnte niemanden sehen, so rief ich mit lauter Stimme ein ‚Hallo!’, und aus dem Wrasen tauchte ein langer, vornübergebeugter, aber noch junger Mann auf, gelblich bleich, mit einem weichen dunklen Vollbart und etwas hellerem bräunlichem Haar, das in der Strähne über der Stirn einen goldigen Schein hatte. Dieser Mann musterte mich mit einigem Erstaunen und fragte dann sehr höflich, mit sanfter Stimme, was mir zu Diensten stünde.

„Ich möchte mir das Zimmer ansehen, das zu vermieten ist.“

„Für Sie selbst?“ fragte der Mann und rieb hüstelnd seine Hände aneinander. Ich bejahte.

„Es wird kein Zimmer für den Herrn sein, nicht fein genug für den Herrn, es ist ein Arbeiterzimmer, mein Herr.“

„Immerhin, zeigen Sie es mir“, beharrte ich.

Er ging mir schweigend voran, eine Treppe hinauf, über einen unausgebauten Boden, öffnete die Tür zu einem einfenstrigen Zimmerchen mit schrägen Wänden, das im Giebel ausgebaut war. In seiner Einrichtung ähnelte es fast ganz dem primitiven Zimmer von Elinor, und unwillkürlich trat ich an das Fenster, um zu sehen, ob auch hier ein schräges Pappdach Fluchtmöglichkeiten bei überraschendem Besuch böte. Nein, dieses Pappdach fehlte hier, dafür aber gab es einen ganz überraschenden Ausblick auf meine Vaterstadt. Sie lag vor mir, ein wenig unter mir, mit ihren rotbraunen Dächern, ihren drei spitzen Kirchtürmen und ihrem einen rundköpfigen Rathausturm; grün umlaubt schlängelte sich der Fluss hindurch, verschwand hier und blitzte dort auf, und, indem ich seinen Lauf mit dem Auge verfolgte, sah ich in der Ferne, schon zwischen dem Grün der Gärten und Felder, von bläulichem Dunst verschleiert, ein Dach, mein Dach.

 

„Es ist eine schöne Aussicht“, sagte ich nach einer Weile.

Der Mann hinter mir hüstelte.

„Ein Arbeiter“, sagte er, „fragt nichts nach der Aussicht, er fragt, ob das Bett auch gut ist, und das Bett ist gut, Herr.“

„Was soll das Zimmer kosten?“ fragte ich.

„Sieben Mark die Woche“, sagte der Mann, „und wir wechseln jede Woche die Wäsche.“

„Ich möchte hier auch essen“, sagte ich, „ich will in aller Stille hier ungestört zwei bis drei Wochen wohnen und an einer Arbeit schreiben. Ich werde das Haus kaum verlassen; lässt sich das einrichten? Ich stelle keine großen Ansprüche.“

„Unser Essen ist für den Herrn zu einfach“, sagte der Mann. „Aber ich kann für Sie Essen aus einem Gasthaus holen lassen, wenn Ihnen das recht ist.“

„Gut“, sagte ich, „ich nehme das Zimmer. Mein Koffer kommt morgen. Lassen Sie mir dann Abendessen holen.“ Und ich setzte mich an den Tisch.

„Ich bitte um eine kleine Anzahlung, mein Herr“, sagte mein Wirt und zog an seinen Händen, dass die Knöchel knackten. „Wir sind arme Leute, mein Herr ...“

„Setzen Sie sich“, sagte ich zu meinem Wirt. „Ach, bitte, ich sehe da auf dem Waschtisch ein Wasserglas, wenn Sie das bitte holen wollten.“

Mein Wirt tat es und nahm auf meine nochmalige Aufforderung am Tische Platz.

„Wie heißen Sie?“

„Lobedanz“, antwortete er. „Der Name klingt zwar etwas komisch ...“

„Ich kümmere mich nicht darum, ob Ihr Name komisch ist oder nicht, Herr Lobedanz“, sagte ich gönnerhaft, „jetzt wollen wir erst einmal anstoßen.“

Ich goss ihm das Glas halb voll – trotz seines Protestes – und griff nach der Flasche.

„Ich kann ja auch einmal aus der Flasche trinken“, sagte ich lachend. „In unserer Jugend haben wir das alle getan.“

Er lächelte matt und nahm ein Schlückchen, während ich kräftig trank.

„Ich muss Sie bitten, Herr Lobedanz“, sagte ich dann geläufig, „dass Sie mir auch eine Flasche Korn mit dem Abendessen mitbringen lassen, aber keinen Fusel, bitte, sondern den besten, der für Geld zu haben ist.“

Ich sah, wie er die Lippen bewegte, und ahnte schon, was er sagen wollte.

„Was nun die Anzahlung angeht, so muss ich Ihnen sagen, dass ich mich ganz plötzlich zu dieser Arbeit entschlossen habe.“ Ich fing den Blick meines Wirtes auf, der nachdenklich meine offene und völlig leere Aktentasche betrachtete. Ich lachte.

„Nun, ich will Ihnen die Wahrheit gestehen, Herr Lobedanz. Das von der Arbeit, die ich hier in aller Stille schreiben will, ist natürlich Schwindel. Die Wahrheit ist, dass ich mich heute Nachmittag ziemlich heftig mit meiner Frau verzankt habe. Und um die etwas zu ängstigen, will ich für ein oder zwei Wochen verschwinden. Verstehen Sie, ich will sie ein bisschen auf den Proppen setzen!“

Herr Lobedanz nickte.

„Ich will ihr begreiflich machen, wie das ist ohne Mann, nicht wahr?“

Wieder nickte Herr Lobedanz.

„Sie soll einmal fühlen lernen, wie nützlich ich ihr bin, wie unentbehrlich!“

Wieder nickte Herr Lobedanz, dann sagte er mit seiner sanften, fast flüsternden Stimme: „Trotzdem, mein Herr, ohne Anzahlung kann ich Sie nicht aufnehmen. Wir sind sehr arme Leute hier im ‚Scheunenviertel’, mein Herr, und ein Abendessen aus einem guten Gasthof und eine Flasche Korn vom Besten kosten viel Geld.“

„Sie werden Geld, soviel Sie brauchen, morgen früh bekommen, Herr Lobedanz“, sagte ich überredend. „Morgen früh um neun Uhr stehe ich auf meiner Bank und hole Geld ab.“

„Nein“, sagte mein Wirt, „es tut mir leid, mein Herr, ich hätte Sie gerne als Gast gehabt, einen gebildeten Mann, der seine Frau ein bisschen ängstigen will – nach Herrenart. Wir, wir schlagen unsere Frauen, das ist einfacher und billiger.“

„Nun ja, nun ja“, lachte ich ein bisschen verlegen. „Ich weiß nur nicht, ob ich bei einer Schlägerei mit meiner Frau nicht den Kürzeren ziehen würde, ich fürchte, sie ist die Stärkere.“

Ich lachte und trank.

„Aber da es Ihnen so um eine Anzahlung zu tun ist, will ich Ihnen einen Ring zum Pfand geben.“

Ich zog erst den Siegel-, dann den Ehering vom Ringfinger der rechten Hand. Einen Augenblick schwankte ich, dann gab ich Lobedanz den Ehering.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie ihn in Pfand behielten, als Sicherheit bis morgen früh, und ihn nicht weitergäben.“

Herr Lobedanz nahm den Ring aus meiner Hand.

„Wir sind sehr arme Leute, mein Herr“, sagte er wieder mit seiner flüsternden Stimme. „Wir haben keine drei Mark im Hause. Aber ich werde den Ring bei einem ganz sicheren Mann in Pfand geben, und morgen Mittag lösen wir ihn dann wieder aus.“

„Schön, schön“, antwortete ich plötzlich gelangweilt und doch auch wieder durch all diese Umständlichkeiten gereizt. „Aber sehen Sie jetzt auch zu, dass Essen und Korn möglichst bald kommen, vor allem der Korn. Sie sehen, in der Flasche ist fast nichts mehr, und wie Sie wissen, muss man Kummer ersäufen.“

„Es wird alles ganz schnell gehen, mein Herr“, flüsterte mein Wirt sanft und schloss die Tür. Ich aber warf mich auf das Bett und trank. So wurde ich mit Lobedanz bekannt, einem der gemeinsten Schurken und Heuchler, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.

* * *

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