Hans Fallada: Damals bei uns daheim – Band 187e in der gelben Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

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Aus der Reihe: gelbe Buchreihe #187
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Alle diese Fragen glaubte Herr Kammergerichtsrat Elbe, mit gewissen Einschränkungen, die sein juristisches Gewissen bedingte, verneinen zu können.

„Nun, dann weiß ich auch nicht, woher das Geld kommt“, schloss Frau Elbe die Vernehmung. „Ich werde es vorläufig in Verwahrung nehmen. Gehört es jemandem anders, wird er sich ja melden.“

Da aber Frau Elbe wenig Umgang mit Kollegenfrauen hatte, so erfuhr sie erst im Senatstee der nächsten Woche, was bei Siedelebens geschehen war. Sie wurde blass und rot bei dem Bericht, denn schon nach den ersten zwanzig Worten war ihr klar geworden, wer der Täter war, und sie begriff, dass die glücklicherweise nicht anwesende Frau Siedeleben gesonnen sein würde, ihrem Manne ernstliche Schwierigkeiten zu machen. Zuerst war sie entschlossen, niemandem, nicht einmal dem eigenen Mann etwas von der schlimmen Sache zu sagen, sondern das Geld unter einem fingierten Absender an Frau Siedeleben zu senden.

Doch sah sie bald ein, dass dies unmöglich war. Einmal widerstrebte es ihrem freimütigen Wesen, zum anderen würde es das Gerede um das Zehnfache verstärken. Wenn dann auf ihren Mann geraten wurde, war er wirklich verloren.

In dieser Bedrängnis wandte sich Frau Elbe an meine Mutter, die ihr wegen ihres sanften Wesens lieb war, obwohl die Zivilrechtlerin nicht eigentlich zum Verkehrskreis der Strafrechtlerin gehörte. Meine Mutter aber mochte in einer so wichtigen Sache nichts ohne den Rat meines Vaters sagen oder tun. Mein Vater hörte den Bericht ernst an. Ihm war die Ehre des Richterstandes eine wahre Herzenssache: ohne diese Ehre hätte er weder richten noch leben mögen. Kein Geschwätz durfte auch nur den Saum der Robe des Richters beschmutzen. Er konnte in einer solchen Sache nicht nach eigenem Gutdünken handeln, er setzte sich also mit seinem Senatspräsidenten in Verbindung. Dieser war der Ansicht, dass unbedingt der Vorsitzende des Elbeschen Zivilsenates gehört werden müsse. Der Vorsitzende des Zivilsenates setzte sich mit Herrn Kammergerichtsrat Siedeleben in Verbindung, der verblüfft sagte: „So hängt das zusammen! Daran hat natürlich kein Mensch gedacht! Ich bin froh, dass es sich so aufklärt, meine Frau freilich ...“

Er versank in Nachdenken. Die Herren, zwischen ihnen die Rätin Elbe, betrachteten ihn mit Wohlwollen.

„Schließlich“, sagte er, „habe ich den Betroffenen den Schaden aus meiner Privatkasse ersetzt, nicht völlig im Einverständnis mit meiner Frau. Sie sind in alle Winde zerstoben, die Mädchen haben andere Stellungen angenommen – am besten ist es vielleicht, wir lassen die Sache auf sich beruhen. Kollege Elbe ist ein verdienstvoller Mann ...“

„Sie meinen ...“

„Wenn ich Sie recht verstehe, Kollege Siedeleben ...“

„Sie denken, auch Ihre Frau ...“

„Richtig. Ich denke, auch meine Frau braucht nichts von der Aufklärung dieses Falles zu erfahren. Es könnte zu – Unfreundlichkeiten unter Kollegen führen. Außerdem behauptet sie, der erzwungene Dienstbotenwechsel sei ein Glückstreffer ersten Ranges gewesen. Sie hat da irgendeine Perle aus Ostpreußen gefunden ...“

Alle lächelten, denn es war bekannt, dass die Siedelebenschen Perlen nur in den ersten Tagen glänzten, dann aber rasch ihren Schimmer verloren.

„Also die Sache bleibt unter uns ...“

„Und Kollege Elbe –?“

„Was hat es für einen Zweck, ihm etwas zu sagen“, sagte Frau Elbe. „Er grämt sich nur darüber, und über dem Grämen gibt es neue Konfusion.“

So geschah es, dass die Sache verschwiegen blieb, das heißt, soweit sie bei so vielen Mitwissern verschwiegen bleiben konnte. Zwei aber erfuhren bestimmt nie etwas von ihr: Frau Kammergerichtsrat Siedeleben und Herr Kammergerichtsrat Elbe.

Wenn aber meine Mutter in der folgenden Zeit wieder einmal recht von oben herab durch die Kollegenfrau Siedeleben behandelt wurde, so dachte sie: ‚Wenn du wüsstest, was ich weiß – du würdest nicht so reden! Aber du weißt nichts, nichts, nichts‘!

* * *

Prügel

Prügel

* * *

Ich habe schon erzählt, dass mein Vater gar nicht dafür war, seine Kinder zu schlagen. In diesem Punkt hielt er es mit den Homöopathen, kurierte Gleiches mit Gleichem, similia similibus, und konnte im ganzen recht zufrieden sein mit den Ergebnissen seiner Erziehungsmethode, lag es nun an der Methode oder an den Kindern. Aber einmal habe ich doch herzhafte Prügel von meinem alten Herrn bezogen, und dieses einmalige Erlebnis hat einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, dass ich mich seiner in allen Einzelheiten heute noch erinnere.

Ich werde damals zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, und mein Busenfreund war zu der Zeit Hans Fötsch, der Sohn unseres Hausarztes. Wir beiden Hansen steckten, obwohl wir nicht die gleiche Schule besuchten, den ganzen Nachmittag zusammen, sehr zum Schaden unserer Schularbeiten, klebten aus Pappe und Buntpapier die schönsten Ritterrüstungen, fertigten auf Anregung des streng verbotenen Karl May den Kriegsschmuck von Indianerhäuptlingen an und halfen uns mit den noch verboteneren Kolportageheften aus: Sitting Bull oder Nick Carter. Die Serien waren endlos: hundert, zweihundert, dreihundert Hefte, all unser Taschengeld ging dafür drauf.

Übrigens muss ich damals ein ungewöhnlich sittsamer Knabe gewesen sein. Ich weiß noch, dass ich mich, zum größten Ärger von Hans Fötsch, standhaft weigerte, ihm ein Fortsetzungsheft dieser Schmöker zu leihen, und zwar nur aus dem heimlichen, nie eingestandenen Grund, weil dem Helden in einem Augenblick höchsten Zornes das Wort „Besch.....“ entfahren war. Ich schämte mich für meinen Helden, schämte mich für ihn vor Hans Fötsch.

Der Autor hatte zwar versucht, dem Schaden dadurch wieder gut zu machen, dass er eilig versicherte, dem Helden sei dies Wort nur in unsinniger Empörung über die Schurkischkeit seines Gegners entfahren, aber meine verletzte Sittsamkeit nahm doch Anstoß. Wenn solche Ausdrücke von Schurken gebraucht wurden, mochte es allenfalls hingehen – aber von einem Helden!

Im Allgemeinen aber kamen Hans Fötsch und ich ausgezeichnet miteinander aus. Er war ein eher stiller Junge, mit einem trockenen, wortkargen Witz, der immer geneigt war, meinem aufgeregten, phantastischen Geschwätz zu lauschen und jede neue Idee, die in meinem wirbligen Schädel auftauchte, in die Tat umzusetzen. Beide Elternpaare sahen unseren Umgang auch recht gerne. Mein Vater versprach sich wohl eine Dämpfung meines sprunghaften Wesen davon, Doktor Fötsch aber eine Aufmunterung seines stillen Jungen. Wir hatten es auch recht bequem, Fötschens wohnten wie wir in der, sie auf der südlichen, damals noch nicht voll bebauten Seite.


Waren also auch die Vorbedingungen zu einem glücklichen Freundschaftsbund gegeben, so habe ich doch kein rechtes Glück mit Hans Fötsch gehabt. Ich verdanke ihm drei entscheidende Niederlagen meines Lebens, Prügel und eine recht arge Blamage, die noch jahrelang in unserer Familie nachspukte.

Bei der ersten Niederlage ging es noch einigermaßen gelinde ab, trotzdem sie schon beschämend genug war. Mein guter Vater, der, soweit es seine karge Zeit erlaubte, einem sanften Sammeltrieb huldigte, hatte im Laufe seines Lebens eine recht artige Briefmarkensammlung zusammengebracht. Ihren Grundstock bildete eine wirklich wertvolle Reihe alter deutscher Marken, die er einst auf dem Boden des Pflegevaters meiner Mutter beim Umherstöbern gefunden hatte. Denn dieser Pflegevater, ein uralter Notar, hatte auf dem Boden seines Hauses Akten über Akten seiner Vorgänger gestapelt, und in diesen Akten lagen Briefe, alte Briefe, mit Thurn-und-Taxis-Marken, mit dem mecklenburgischen Ochsenkopf, mit den roten Hamburger Türmen, wirklich kostbare Stücke.

Was später noch dazu gekommen war, konnte sich an Rang nicht mit diesen ersten Funden messen. Immerhin hatte mein Vater als Amtsrichter auf kleinen hannoverschen Gerichten immer wieder Gelegenheit, das eine oder andere schöne Stück aus halb vermoderten, von Mäusen angefressenen Akten dazuzutun. Da er nun ein von Natur sparsamer Mann war, auch dies Sammeln nie bei ihm zur wahren Leidenschaft wurde, hatte er stets die Anschaffung eines Briefmarkenalbums verschmäht. Auf einzelnen Blättern eines zart gelblichen Quartpapieres waren die Marken mit der saubersten Akkuratesse aufgeklebt, und mit seiner zierlichen Hand waren die Blätter beschriftet worden.

Schon einmal hatte mein Vater bei dieser Sammlung einen herben Verlust erlitten. Ein ihm leider beruflich vorgesetzter echter Sammler von der schamlosen Sorte hatte sich die Sammlung seines Untergebenen „zwecks Vergleichung“ erbeten. Nie hatte mein Vater sie wieder vollständig zurückbekommen, viele der wertvollsten Stücke blieben fehlend, trotz allen Drängens – und zu sehr mochte mein Vater nicht drängen, im Interesse seines Vorwärtskommens. Auch in der angeblich guten alten Zeit konnte ein böswilliger Vorgesetzter einem jungen Landrichter manches nicht wieder gutzumachende Böse antun!

Aber das war nun schon seit vielen Jahren vergeben und vergessen. Über die hässlichen Lücken hatten sich andere, wenn auch nicht gleich wertvolle Marken hingezogen, zu kahl gewordene Blätter hatte Vater umgeklebt. Und nun war da ich, ein hoffnungsvoll heranwachsender Knabe, aber mit einer nicht zu übersehenden Neigung zur Unordnung und Grundsatzlosigkeit. Nie konnte ich genaue Angaben darüber machen, wo eigentlich mein horrendes Taschengeld von fünfzig Pfennigen in der Woche blieb, nie hatte ich Geld, stets verlangte ich Vorschüsse.

Mein Vater glaubte fest daran, dass jedem Menschen ein Spartrieb angeboren sei. Jeder wollte doch vorwärtskommen im Leben, und jeder sah gerne, wenn seine Kinder mehr wurden als er. Wie sollte da ich, sein und seiner ebenso sparsamen Frau Sohn, dieses urmenschlichen Triebes ganz entblößt sein –?! Er war da, er musste da sein, meines Vaters Aufgabe war es, ihn zu entwickeln! Da dies mit Geld nicht gelang, trotzdem mir mein Vater ein Kontobüchlein geschenkt hatte, in das ich Einnahmen und Ausgaben eintragen sollte – ich benutzte das Heft alsbald als Bücherverzeichnis –, so gedachte Vater über den Sammeltrieb den Spartrieb zu entwickeln.

 

Wenn ich nun mit einer guten Zensur nach Hause kam, wenn ich beim Zahnarzt mutig gewesen war, wenn ich eine Woche lang meinen Lebertran ohne erhebliche Revolte genommen hatte, bei all solchen lobenswerten Anlässen überreichte mir mein Vater ein volleres oder leereres Blatt seiner Briefmarkensammlung. Erlaubte es ihm seine Zeit, erzählte er mir auch einiges, wie und wo er einzelne Marken „ergattert“ hatte (es war sein Stolz, dass er nie einen Pfennig dafür ausgegeben hatte). Oder er berichtete mir auch von den Ländern, aus denen sie kamen, nahm Reisebeschreibungen aus seiner Bücherei und suchte so ein Band zwischen mir und den Marken zu knüpfen.

Zu Anfang schien ihm dies auch zu gelingen. Da er aus Vorsicht mit den weniger wertvollen Marken, späteren Erwerbungen durch Tausch, anfing, so sah ich mit Vergnügen die bunt bebilderten Marken Südamerikas an: mit Vögeln, Landkarten, Palmen, Affen, Städteansichten. Ab und zu wagte ich sogar ein oder zwei Groschen meines Taschengeldes daran und ergänzte einen „Satz“. Dann lobte Vater mich.

Aber je höher wir mit der Zeit im Werte kamen, umso mehr langweilten mich die gezähnten und ungezähnten Papierstückchen. Zahlen, immer nur Zahlen standen darauf, und die leuchtenden Farben wurden immer stumpfer, gingen immer mehr ins Gräuliche und Bräunliche über. Sie langweilten mich, ich fand es je länger je mehr höchst betrübend, dass ich statt eines Talers für eine gute Zensur immer nur diese langweiligen Blättchen erhielt. Ich sah sie kaum noch an. Wenn ich mein artiges Dankeschön, in dem doch schon Enttäuschung mitschwang, gesagt hatte, stopfte ich das Blatt achtlos zu den anderen in eine Kommodenschieblade.

Ganz entgangen ist meinem Vater dieser Stimmungsumschwung wohl nicht. Eindringlicher als sonst suchte er mir begreiflich zu machen, wie kunstvoll diese kleinen Blättchen ausgeführt waren, wie sauber in Zeichnung und Stich. Und als dies nicht verfangen wollte, wies er auch – wenn schon widerstrebend, denn so etwas lag ihm gar nicht – auf den hohen Wert mancher Stücke hin, um meine Besitzerfreude anzustacheln.

Aber es half alles nichts. Heimlich grollte ich weiter mit Vater. Wie viele Wünsche hätte ich mir mit einem Taler erfüllen können! Ich törichter Tropf kam gar nicht auf den Gedanken, dass ich mir durch den Verkauf einer einzigen Marke die Wünsche eines Viertel-, eines halben Jahres hätte erfüllen können. Ich machte meine Dummheiten, wie auch später im Leben, unbegreiflich gründlich.

Da war nun mein Freund Hans Fötsch, und Fötsch war ein echter Sammler. Er sammelte sowohl Brief- wie Siegelmarken, wie Stollwerck-, wie Liebigbilder. Von diesem allen schienen mir die Liebigbilder am begehrenswertesten. Einmal waren sie selten, denn jedem so lange reichenden Fleischextrakttöpfchen lag nur ein Bild bei. Zum anderen zeigten sie Szenen aus den Pampas, mit Toros, Haziendas, Gauchos, Lassos, Indios – alles Dinge, die meine Phantasie entzündeten. Viele hundert dieser Bilder hatte Hans Fötsch zusammengebracht, manche waren noch frisch wie aus der Presse, andere trugen die lebhaftesten Spuren von vielen schmierigen Jungenshänden, durch die sie gegangen waren, und dies schien sie mir noch begehrenswerter zu machen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden der Versucher war, aber eines Tages war das Geschäft gemacht: ich war der Besitzer eines dicken Stapels von Liebigbildern, meine Briefmarken aber waren sämtlich zu Hans Fötsch hinübergewechselt. Ganz wohl ist uns beiden bei diesem Tausch nicht gewesen. Wir schwuren uns strengste Geheimhaltung, und in der ersten Zeit verbarg ich auch meinen Bilderschatz ängstlich vor den Augen von Geschwistern und Eltern.

Aber ein Kind vergisst rasch, und so war der Tag nicht fern, da mich meine Mutter über meinen Bildern antraf.

„Wo hast du denn die alle her, Junge?“ fragte sie, erst noch harmlos erstaunt.

„Och –!“ sagte ich. „Sind sie nicht großartig? Kuck mal, Mutter, das ist 'ne Kaffeeplantage! Hast du gewusst, dass der Kaffee auf so kleinen Bäumen wächst?“

Aber meine Mutter kannte ihre Pappenheimer. Grade dass ich so harmlos tat, machte mich ihr verdächtig.

„Hübsch!“ sagte sie. „Und von wem hast du all die Bilder? Es müssen doch ein paar hundert sein.“

„Fünfhundertdreißig!“ sagte ich stolz.

„Und wer hat sie dir gegeben?“

„Och –!“ sagte ich wieder. „So Jungens ...“

„Was für Jungens?“ fragte sie erbarmungslos weiter. „Wie heißen sie?“

Wieder nur: „Och!“ Und schließlich: „So Schuljungens ...“

Jetzt war meine Mutter fest davon überzeugt, dass etwas Verbotenes hinter der Sache steckte.

„Hans!“ sagte sie fast aufgeregt, „da stimmt was nicht. Ich will die Namen von den Jungens wissen!“ Und als ich noch immer zögerte: „Wenn du sie mir nicht sagst, gehen wir zusammen zu Vater! Vater wirst du sie schon sagen!“

Diese Drohung erschreckte mich sehr, denn ich gedachte der fehlenden Briefmarken. Ich bequemte mich also zu dem Geständnis, dass Hans Fötsch der Geber gewesen sei.

Meine Mutter atmete ein wenig auf. „Gottlob, der Hans Fötsch!“ sagte sie. Dann nachdenklich: „Und was hast du Hans Fötsch dafür gegeben? Hans ist ein guter Junge, aber er schenkt nicht gerne was weg.“

„Er hat sie mir doch so gegeben, Mutter!“

„Du schwindelst, Hans, ich sehe es dir ja an!“

„Wirklich und wahrhaftig, Mutter!“ versicherte ich und versuchte, nach dem Spiegel zu schielen, ob ich tatsächlich rot geworden war.

„Nein, du lügst, Hans“, sagte meine Mutter, ihrer Sache jetzt ganz sicher. „Und wenn du mir die Wahrheit nicht sagen willst, müssen wir doch zu Vater gehen.“

Nun versuchte ich, mich aufs Bitten zu legen. Ich wollte Mutter alles sagen, nur sollte sie mir versprechen, Vater nichts davon zu erzählen.

Aber Mutter ließ sich auf nichts ein. „Du weißt, ich habe nie Heimlichkeiten vor Vater. Und wenn es etwas Verbotenes ist, muss Vater es erst recht erfahren. Komm, Junge, wir gehen gleich zu Vater. Du weißt, Vater ist nie schlimm, wenn ihr offen und ehrlich gesteht, was ihr falsch gemacht habt. Nur Lügen hasst er ...“

Aber ich zog es vor, erst einmal Mutter meine Schandtat zu gestehen. Ich wollte sehen, wie sie auf sie wirkte. Mutter war so erschrocken, dass sie sich glatt hinsetzte.

„Junge, Junge!“ rief sie ganz ängstlich. „Wie konntest du das nur tun! Papas schöne, kostbare Briefmarkensammlung, auf die er so stolz ist! Für die dummen schmutzigen Bilder weggegeben! Ich weiß gar nicht, wie ich das Vater erzählen soll – er wird sehr traurig werden, Hans! Achtest du denn gar nicht, was Vater dir geschenkt hat –?!“

Ich bemühte mich, Tränen in den Augen, Mutter zu versichern, dass ich Vaters Geschenke sehr wohl schätze, dass ich aber Liebigbilder hübscher fände...

„Ach, Hans, wie dumm du bist!“ rief Mutter. „Für ein Zehntel der Briefmarken hättest du dir Tausende und Tausende von solchen Bildern kaufen können! Dein Freund hat dich bei dem Tausch richtig reingelegt, ich finde das aber gar nicht hübsch von Hans Fötsch!“

Mutter dachte nach. Ich wartete angstvoll darauf, dass sie mit dem theoretischen Teil, nämlich mit den Vorwürfen, fertig sei und zu dem praktischen übergehen würde, nämlich ob sie es Vater sagen würde oder nicht. Aber Mutter fand eine andere, noch schlimmere Lösung. „Weißt du was, Junge“, sagte sie ganz eifrig. „Nimm die Bilder und lauf gleich zu Hans Fötsch hinüber. Du kannst ihm ja meinetwegen sagen, deine Mutter erlaubt den Tausch nicht.“

„Aber Mutter!“ rief ich erschrocken. „Das kann ich doch nicht! Ich hab ihm doch mein großes Ehrenwort gegeben, euch nichts davon zu erzählen. Wie stände ich denn da vor ihm –?!!“

Doch hielt meine Mutter von großen Ehrenwörtern nicht viel. „Ach, Unsinn, ihr mit euern Ehrenwörtern!“ rief sie ärgerlich. „Ihr seid doch bloß Jungens, und du bist ein Junge, der tüchtig reingelegt worden ist! Gib deinem Herzen einen Stoß, Hans, und laufe zu Fötsch hinüber!“

„Er gibt mir die Marken bestimmt nicht wieder, Mutter.“

„Er muss es ja tun. Er wird ganz genau wissen, dass er dich reingelegt hat. Er hat auch Angst, dass seine Eltern was erfahren, verlass dich drauf!“

Aber ich widerstand meiner Mutter hartnäckig. Ich wollte mich nicht vor dem Freund blamieren. Ich wollte nicht ‚ehrlos‘ vor ihm werden. Und außerdem, was ich Mutter aber nicht zu sagen wagte, hatte Vater mir die Marken doch richtig geschenkt, als Lohn für mancherlei vorzügliche Leistungen, und mit seinem Eigentum kann jeder machen, was er will. Fand Vater die Marken so kostbar, hätte er sie mir nicht schenken dürfen. Ich hatte ihn nicht darum gebeten! Ich fand die Bilder nun einmal noch immer schöner...

So argumentierte ich und widerstand der Mutter. Traurig ging sie von mir fort, unverrichteter Sache. Und traurig verlief auch das Abendessen. Vater, der sicher schon alles wusste, war sehr still, sah mich nur manchmal prüfend an. Aber nach seiner Art enthielt er sich jeder Einmischung, die Sache war in Mutters Händen, er wartete still ab ... Nie erlaubten sich die Eltern Übergriffe eines in die Sphäre des anderen. Sie halfen einander nur, wenn die Hilfe gewünscht wurde.

Schlimm war die Nacht. Manchmal fand auch ich, ich hätte diesen Tausch nicht ohne Vater zu befragen machen dürfen, und noch öfter entdeckte ich einen gewissen Zorn in meinem Herzen, dass Hans Fötsch mich so hereingelegt hatte. Dann hörte ich Vater singen, wie er es manchmal in seinem milden Spott tat: ‚Ja, ich bin klug und weise, und mich betrügt man nicht!‘ Ich kam mir wirklich nicht sehr klug vor.

Aber dann dachte ich wieder an die geliebten Liebigbilder. Ich machte mir klar, dass ich sie richtig würde weggeben müssen, für immer, und ich fand sie doch so schön! Nein, ich konnte es nicht! Ich brachte es nicht übers Herz! Es war ungerecht von Mutter, so etwas von mir zu verlangen. Nie würde ich mich von diesen Bildern trennen.

Am Nachmittag des nächsten Tages saß ich wieder über ihnen. Doppelt wert waren sie mir jetzt geworden! Ich ordnete sie nach einem ganz neuen Gesichtspunkt: Indios zu Indios, Toros zu Toros, Haziendas zu Haziendas. Da kam jemand ins Zimmer, sah über meine Schulter auf die Bilder, meiner Mutter Stimme sprach: „Junge, tu uns doch die Liebe! Überwinde dich dies eine Mal!“

Dabei hatte die Mutter die Hand sachte auf mein Haar gelegt.

Ich aber schwieg, und Mutter ging still, ohne ein weiteres Wort, aus der Stube.

Nun wollte ich die Bilder weiter ordnen, aber es gelang mir nicht. Ich machte einzelne Stöße aus ihnen, legte Gummibänder darum, sah sie eine Weile schweigend an. Dann stand ich auf, steckte, so viel hineingingen, in die Taschen, nahm die anderen in meine Hände und machte mich auf den Weg zu Hans Fötsch.

Ach, mein Herz war gar nicht leicht, nicht im Geringsten hatte ich das Gefühl, etwas Verdienstvolles zu tun. Aber da war eine Stimme in mir, die sagte, ich müsse es tun, auch wenn es schwer sei, ich dürfe die Eltern nicht so enttäuschen ... Ich könnte es nicht einmal, mein Herz sei nicht geschaffen dafür ... So ging ich, wider Willen...

Ich kann nicht behaupten, dass Hans Fötsch mich mit meinem Anliegen freundlich aufnahm. Als geborener Optimist hatte ich mir eingebildet, er wenigstens werde mir jetzt keine Schwierigkeiten machen. Aber er versteifte sich auf den Satz „Geschäft ist Geschäft“ und schlug mich mit meinen eigenen Argumenten, ich habe ihm mein Wort gegeben und ich habe stets behauptet, die Marken gehörten mir. Ins Eigentum aber habe selbst mein Vater mir nichts hineinzureden.

So musste ich mit schwererem Geschütz auffahren: mit dem gegenwärtigen Zorn meines Vaters und dem zu erwartenden des seinen. Ich befand mich in einer recht zerrissenen Lage: wohl entfachte Fötschens Widerspruch meinen Eifer, ihn doch zu zwingen, aber im Innersten wünschte ich dabei, er möge sich nicht zwingen lassen, und ich könne dies meinen Eltern – immer noch Besitzer der Bilder – melden.

Aber er ließ sich leider zwingen. Er machte ein paar mürrische Redensarten, mit mir werde er auch nie wieder ein Geschäft machen, und er wisse jetzt, was von meinem großen Ehrenwort zu halten sei, aber er nahm doch die Liebigbilder in Empfang. Meine Marken freilich könne er mir nicht sofort zurückgeben, er habe sie in sein Album geklebt, da und dort, an vielen Stellen. Er müsse sie erst, wenn er Zeit habe, wieder ablösen. Einige Dubletten habe er auch getauscht, auf die könne ich keinesfalls rechnen.

 

Ziemlich kühl trennten wir uns. Zu Haus freilich wurde ich von der Mutter recht freundlich empfangen. Sie belobte mich, dass ich mein Herz überwunden habe, und auch der Vater schaute mich wieder gut wie sonst an. Beide Eltern waren immer bereit, den guten Willen für die Tat zu nehmen.

In der Folge aber ist es mir ergangen wie meinem Vater mit seinem Vorgesetzten: manchen Mahn- und Bittgang habe ich zu Hans Fötsch machen müssen, ehe er mir ein Häuflein Briefmarken aushändigte: „So, das ist alles! Mehr habe ich nicht von dir!“

Selbst mein unsammlerischer Sinn erkannte, dass nur die wenigsten Stücke in diesem Schurr-Murr aus Vaters Sammlung stammten. Aber ich war der ganzen Sache müde, ich mochte nicht weiter in Hans Fötsch dringen. Trübe sah auch Vater auf das Häuflein.

„Ja, Hans, meine schöne Sammlung ist nun endgültig dahin, und du wirst es mir in Zukunft nicht übel nehmen können, wenn ich es mir sehr überlege, ehe ich dir wieder etwas Gutes schenke. – Ich glaube, das Beste ist, du gibst diese Marken deiner Schwester Itzenplitz. Sie hat schon eine ganz hübsche Sammlung und wird diese Reste besser verwenden können als du.“

So tat ich, und hatte nun weder Marken noch Bilder. Manchmal aber grübelte ich darüber nach, was nun eigentlich als Lohn meiner Selbstüberwindung herausgekommen war: Vater war doch ohne Sammlung, ich ohne Bilder, und der Freund war gekränkt. Es schien kein überzeugendes Resultat zu sein.

Hiernach waren meine Beziehungen zu Hans Fötsch eine Zeitlang recht kühl. Wir erwählten uns andere Busenfreunde und sprachen nur das Nötigste auf der Straße, trafen wir uns einmal. Aber in der Jugend vergisst man schnell, besonders ich habe schon früh die Neigung gehabt, alle unangenehmen, besonders aber die mich beschämenden Erlebnisse so schnell wie möglich zu vergessen. Und Hans Fötsch, der Gewinner bei diesem Zwischenfall, hatte ja kaum Ursache, länger mit mir böse zu sein.

So sind wir beide eines Tages wieder im besten Einvernehmen. Damals sprach ganz Berlin von dem Warenhausneubau, der am Leipziger Platz und in der Leipziger Straße entstanden war, rühmte den Bärenbrunnen und den Wintergarten, den ungeheuerlichen Luxus des Lichthofes und pilgerte, sooft es irgend ging, dorthin, ob nun ein Einkauf nötig war oder nicht.

Und wir Jungen machten es nicht anders. Zwar hatten die Portiers Anweisung, allein kommende Kinder nicht in den Bau zu lassen, aber wir wussten uns schon zu helfen. Rasch wählten wir in der Vorhalle eine dickliche, nicht gar zu energisch aussehende Madam und gingen nun sittsam rechts und links von ihr durch die verbotene Pforte, wobei wir uns, an ihr vorbei, eifrig unterhielten.


Waren wir dann erst im Bau, so streiften wir ihn von oben bis unten ab. Lange schien es, als kämen wir nie mit ihm zu Ende. Immer wieder entdeckten wir neue Abteilungen, drangen in völlig Unbekanntes ein. Wir müssen dabei Ähnliches empfunden haben wie Livingstone oder Stanley, als sie in den Schwarzen Erdteil vorstießen. Und alles war mit den wunderbarsten Schätzen gefüllt. Wir träumten davon. Wir unterlagen derselben Verblendung wie ganz Berlin, das sich in jener Zeit, da solcher Prunk noch neu war, in den Gängen und vor den Tischen drängte: eine fieberische Besitzgier, eine wahre Kaufwut hatte alle erfasst. Hier sah auch der Ärmste die Reichtümer der Welt vor sich ausgebreitet, nicht in Läden verstreut, die zu betreten er nie gewagt hätte, sondern gewissermaßen grade für ihn zurechtgelegt...


Noch als wir das ganze Warenhaus besser kannten als die dritte Konjugation mit monere, blieb es doch weiter das einzige Ziel unserer Spaziergänge. Es war ja ein ziemlich weiter Weg von der Luitpoldstraße bis zum Leipziger Platz, aber auch dieser Weg war nicht allen Zaubers bar. Wir liefen entweder durch die Martin-Luther-Straße über den Lützowplatz am Landwehrkanal entlang, den ich schon als Junge ganz besonders geliebt habe, oder wir gingen durch die Kleist- und Bülowstraße, wo die Riesenbuddeleien und Rammereien für den Bau der Hoch- und Untergrundbahn nicht enden zu wollen schienen. Dann bogen wir in die Potsdamer Straße ein, die mit ihren vielen Schaufenstern auch zum Verweilen lockte.


Im Warenhaus hatten wir unsere Lieblingslager, vor allem das Bücherlager selbstverständlich und die Spielwarenabteilung. Aber ich speziell bevorzugte besonders die vergleichsweise leere Bettenabteilung. Da ging ich gerne auf und ab. Ich liebte das Ansehen und den Geruch der steifen roten, blauen und gestreiften Inlettstoffe, ich liebte die großen Kästen, mit einer Glasscheibe an ihrer Vorderseite, in denen so leicht und duftig die Bettfedern lagen, von der feinsten Eiderdaune bis zur grob gesplissenen Hühnerfeder. War aber gar erst die große Maschine zum Reinigen der Bettfedern in Gang, und ich konnte hineinsehen in den tanzenden, sich drehenden Wirbel aus Federn und Staub, so kannte mein Entzücken keine Grenzen!

Hans Fötsch wieder bevorzugte die Lebensmittelabteilung. Da ging er mit seiner sommers wie winters sprossigen Nase genusssüchtig witternd auf und ab, sah andächtig zu, wie herkulische Fleischer mit Rindervierteln und Schweinehälften jonglierten, wie starke Hirsche ausgeworfen wurden, und stand zum Schluss am längsten vor den Glasbassins mit den lebenden Flussfischen. Blau- und gelbschuppige Karpfen bewegten sich dort, träge die Flossen rührend, während ihre Erbfeinde, die Hechte, jetzt ohne alle Angriffsabsicht still und reglos über dem Grunde standen, auf dem sich Aale verknäult hatten.

Zum Schluss gingen wir meist noch in die Uhrenabteilung, die leider nur klein war. Wir lauschten andächtig dem Ticken vieler, vieler Uhren. Es schien hier gewissermaßen eine Werkstatt der Zeit zu sein, dieses unbegreifbaren Dinges Zeit, das wir nie verstehen konnten, das uns jeden Tag unfasslich verwandelte, uns uns selber immer fremder machte. Dieser unheimlichen Zeit schienen wir hier näher gekommen beim Kuckucksruf der Schwarzwälder Uhr, beim Gongschlag der Standuhren und Regulatoren, und vor allem bei jenen Uhren, die wir „Schleifuhren“ getauft hatten. Sie saßen unter einem Glassturz, und das blanke, messingpolierte Werk bewegte sich offen vor unseren Augen, vorwärts, rückwärts, immer eine halbe Drehung, völlig lautlos, aber eben sichtbar. So stellte ich mir „Zeit“ vor: rückwärts, vorwärts, vor allem aber lautlos.

Sahen wir dann wirklich einmal auf das Zifferblatt dieser Uhren, so entdeckten wir oft, dass es zum Heimlaufen schon viel zu spät war. Willig opferten wir den letzten Groschen unseres Taschengeldes und fuhren mit der Elektrischen. Glücklich und strahlend kamen wir daheim an, verrieten aber, um einem etwaigen Verbot vorzubeugen, den Eltern nie das Ziel unserer Exkursionen. Wir waren ganz einfach spazieren gegangen. Wohin? Och...

Dann kam ein Tag unter den Tagen, da der Zauber des Warenhauses für uns verblasst war. Wir gingen ratlos darin umher und begriffen weder, warum wir dies einmal hinreißend schön gefunden hatten, noch warum es jetzt plötzlich nicht mehr schön sein sollte. Wir suchten unsere besten Attraktionen auf: sie blieben ohne alle Wirkung auf uns. Wir fanden alles einfach langweilig. Die Zauberbetten hatten jetzt die überzeugendste Ähnlichkeit mit unseren Betten zu Haus, in denen wir jede Nacht ohne Aufhebens schliefen. Der Käse stank, und die Karpfen riefen die Erinnerung an „Karpfen polnisch“ wach, den es zu Silvester gab und der uns nicht grade besonders schmeckte.