Warum es so schwierig ist, in die Hölle zu kommen

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Wie das kleine Zirkusmädchen Theodora eine mächtige Heilige wurde
Worin Frauen lernen, wie frau den Papst absetzen kann.

Wann sie geboren ist, Theodora, die große Kaiserin von Byzanz, das weiß keiner genau. Nur in gehobenen Kreisen war es damals üblich, das Geburtsdatum von Kindern festzuhalten. Theodora aber stammte aus dem allerniedrigsten, auch verrufensten Milieu. Im großen Zirkus von Konstantinopel ist sie als Kind eines Bärenwärters geboren. Zwischen all den Käfigen, in denen Löwen und Bären darauf warteten, vor dem ergötzten Publikum zu Tode gehetzt zu werden, hat sie ihre Kindheit verbracht.

Wo Gewalt ist, da ist auch Porno. Schon als kleines Mädchen tanzte Theodora mit in einer Gruppe von Schauspielerinnen, die unter dem Vorwand, die Liebesabenteuer des Zeus darzustellen, sich vor dem Zirkuspublikum entblätterten, etwa in der Art moderner Striptease-Künstlerinnen. Nach der Vorstellung empfingen die erwachsenen Tänzerinnen in den dunklen Kulissen des Zirkus spendable Verehrer aus dem Publikum. Aber auch die kleinsten Mädchen hatten schon ihre Freier. In unübersetzbar drastischen Worten schildert der byzantinische Historiker Prokop den pädophilen Missbrauch, dem das kleine Zirkus-Mädchen Theodora ausgesetzt war:

η δε τοις κακοδαιμονουσιν ανδρειαν τινα μισητιαν ανεμισγετο

(Προκοπιου Ανεκδοτα IX 10)

Theodora wächst heran. Im Zirkus von Konstantinopel wird sie eine sehr erfolgreiche, sehr begehrte Schauspielerin. Trotzdem versucht sie, aus dem Zirkus-Milieu auszubrechen. Von ihren vielen Liebhabern wählt sie einen aus, einen hohen Beamten namens Hekebolos. Er wird zum neuen Gouverneur von Libyen ernannt. Nicht als Ehefrau, wohl aber als seine Konkubine segelt Theodora mit nach Afrika. Kaum dort angekommen, bekommen die beiden Streit. Aus dem Gouverneurspalast fliegt Theodora hinaus auf die Straße.

Allein in Libyen!

Allein in einem Land, in dem damals schon Zustände herrschten wie heute wieder. Der nordafrikanischen Küste entlang schlägt Theodora sich durch bis in die ägyptische Hafenstadt Alexandrien. Wahrscheinlich hat sie auch dort im Zirkus getanzt. Weiter geht es quer durch die Levante. Der nächste feste Ort, wo wir sie sicher treffen, ist der Zirkus von Antiochien. Das ist heute ein türkisches Provinznest namens Antakia. Damals war es die Hauptstadt der Provinz Syrien und galt als die lebenslustigste Stadt der Welt.

Im Zirkus von Antiochien trifft Theodora eine Freundin namens Makedonia, die inzwischen ungewöhnliche Beziehungen hat. Für keinen Geringeren als Justinian, den Thronfolger in Konstantinopel, leitet sie ein Netz von syrischen Geheimagenten.

Und jetzt ein Gerücht in Konstantinopel: Justinian, der mächtige Neffe des Kaisers und designierte Thronanwärter, will heiraten. Das ist an sich keine Sensation, im Gegenteil, das erwartet alle Welt von ihm. Zum Skandal steigert sich das Gerücht, als bekannt wird, wen Justinian heiraten will. Was, die? Die stadtbekannte Zirkushure?

All die edlen, reichen Familien von Konstantinopel haben ihm ihre gerade heiratsfähigen, ihre 16-jährigen Töchter angetragen, jede nicht nur unschuldig, sondern auch ausgestattet mit einer märchenhaften Mitgift. Er verschmäht sie alle. Diese will er haben, die Zirkushure, diese allein.

Was ist los mit Justinian?

Das Einfachste von der Welt: die Liebe. Die große, starke Liebe. Dass ein Mann und eine Frau einander leidenschaftlich lieben, ist etwas, was wir uns heute, im 21. Jahrhundert, kaum noch vorstellen können. Die Menschen der byzantinischen Zeit waren anders. Vom Bosporus bis nach Ägypten waren sie ungleich sinnlicher als wir.

Unmöglich war dagegen die Ehe, doppelt unmöglich. Schauspieler, Tänzerinnen, Prostituierte waren nach byzantinischem Recht „ehrlos“. Wohl durften sie unter sich heiraten, doch keineswegs hinauf in ehrbare Familien. Und in ganz Konstantinopel gab es keinen ehrbareren Heiratskandidaten als Justinian.

Strenger noch als das Gesetz war die Sitte. Die Sitte verkörperte sich in Konstantinopel in Kaiserin Euphemia. Dass so eine ihr nachfolge auf den glänzendsten aller Throne, dies will Kaiserin Euphemia unbedingt verhindern.

Doch die göttliche Vorsehung hält es mit den Liebenden. Kaiserin Euphemia stirbt unerwartet. Jetzt lässt sich der hochbetagte Kaiser von seinem Neffen ein neues Gesetz aufschwatzen, eine Lex Theodora. Wenn sie sich reuig zeigen und Buße tun, dürfen gefallene Mädchen künftig ehrbare Männer heiraten.

Es ist das Jahr des Heils 525. Die Hagia Sophia strahlt im Licht von tausend Kerzen, tausend Lampen, als Patriarch Epiphanios die beiden zusammengibt zum heiligen Ehebund: Justinian und Theodora, Theodora und Justinian.

Zwei Jahre später stirbt auch der Kaiser. Justinian folgt ihm nach auf den Thron. Sofort erhebt er Theodora zur Augusta, zur Kaiserin an seiner Seite. Städte und Provinzen benennt er nach ihrem Namen. Er überhäuft sie mit Edelsteinen, mit Palästen, mit Landgütern, mit jedem nur denkbaren Luxus. Ist diese Frau vielleicht nicht mehr als seine Luxuskreation?

13. Januar 532. In Konstantinopel bricht die Revolution aus. Die „große Zirkus-Revolution“. Was ist passiert? Kaiser Justinian hat gesiegt. Er hat zuviel gesiegt. Den ganzen verlorenen Westen des alten Römischen Reiches hat er zurückerobert. Maßlos teuer waren all diese Siege. So ist dem byzantinischen Staat das Geld ausgegangen. Im Zirkus von Konstantinopel begehrt das empörte Volk nicht mehr nur nach Spielen, sondern nach Brot.

Aus der Arena wälzt sich die entfesselte Menge zur Hagia Sophia. Die größte, die schönste Kirche der Christenheit geht auf in hellen Flammen. Die wunderbaren Paläste, die Kirchen von Konstantinopel, sie brennen alle, eine nach der andern. Jetzt will Kaiser Justinian die Aufständischen besänftigen. Mit einer ungewöhnlichen Geste. Mit christlicher Demut. In der Kaiserloge des Zirkus tritt er vor sein empörtes Volk. Das heilige Evangelienbuch in Händen bekennt er seine Sünden, ruft zur Ordnung auf und verspricht den Aufständischen eine vollständige Amnestie. Von allen Seiten schallt ihm nur, immer lauter, der Ruf entgegen: „Justinianos onos! Du Esel von Kaiser, Justinian.“

Schon werden die Tore seines Palastes eingeschlagen, schon steht die Vorhalle in Flammen, da ruft der Kaiser den engsten und höchsten Rat des Reiches zusammen. „Silentium“ wurde diese Beratung genannt, weil nur der Kaiser reden durfte und alle andern schweigend zuzuhören hatten. Alles sei verloren, sagt Justinian, es gebe nur noch die Flucht.

In diesem Augenblick geschieht das Unerhörte. Eine Stimme durchbricht das Silentium. Es ist die Stimme einer Frau. In ihrem Purpurmantel ist Kaiserin Theodora aufgestanden, um ihrem Gatten, dem Kaiser, zu widersprechen. Wenn er fliehen wolle, so solle er fliehen. „Das Schiff“, sagt sie, „steht bereit und Geld ist vorhanden.“ Sie aber werde nicht fliehen. „Ich ziehe den Tod im Purpurmantel dem schmachvollen Leben auf der Flucht vor.“

Im Zirkus von Konstantinopel ist sie aufgewachsen. Zwischen allen Käfigen von Löwen und Bären, die auf den sicheren Tod warteten. Theodora weiß, dass dies eine Arena ist, in der mit christlicher Demut nichts auszurichten ist. Als jetzt die Revolutionäre sich wieder im Zirkus versammeln und einen Gegenkaiser ausrufen, gibt Theodora den letzten noch loyalen Truppen den Befehl, das eine Zirkustor abzusperren und die Arena vom andern Tor her zu stürmen. Sämtliche Revolutionäre, etwa 30.000 insgesamt, werden niedergemetzelt. Die große Zirkusrevolution von Konstantinopel ist beendet. In den rauchenden Ruinen der Stadt aber greifen die byzantinischen Hymnendichter tief in die Leier:

„Alles, was lebt, besingt dich, o Herrscherin. Machtvoll hast du die Menge der Feinde vernichtet.“

Justinian und Theodora: Er hat sie auf den Thron gehoben, jetzt gibt sie ihm seinen – den schon verlorenen – Thron zurück. Zusammen bauen die beiden das zerstörte Konstantinopel wieder auf, auch die Hagia Sophia, größer und schöner als jemals zuvor. Auch als ihm die Ärzte berichten, Theodora werde ihm, der vielen Abtreibungen in Zirkustagen wegen, keinen Sohn mehr gebären können, verstößt er sie nicht. Ihn selbst geben die Ärzte auf, als ihn die große Pest von Konstantinopel niederwirft. Es ist Theodora, die ihn, rücksichtslos gegen sich selbst, gesundpflegt.

Justinian und Theodora, Theodora und Justinian: Was kann diese beiden noch entzweien? Nur eines. Ihr ahnt es schon: die Religion.

In reiferen Jahren interessiert sich Kaiserin Theodora zunehmend für die Feinheiten der dogmatischen Theologie. Das wichtigste christliche Dogma hatte das Konzil von Chalzedon festgelegt: „Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch.“ Eine Person mit zwei Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen. Kaiserin Theodora versteht das anders. Wie so viele ihrer Untertanen in Syrien und Ägypten, ist sie Monophysitin: Jesus Christus hat nur eine, die göttliche Natur. Das Menschliche an ihm war zeitweilige irdische Erscheinung.

Justinian tut jetzt, was wohl jeder Ehemann tut, wenn seine Frau dogmatische Ambitionen entwickelt: Der Kaiser hüllt sich in byzantinisches Schweigen. Nicht so der Papst in Rom. Traditionell sind ja beide, Kaiser und Papst, Hüter des Dogmas von Chalzedon. Feierlich verurteilt Papst Silverius Theodoras dogmatische Erleuchtung als Ketzerei.

Die Kaiserin nimmt ihm das so übel, als wär´s eine zweite Zirkus-Revolution, diesmal in Rom. Auf ihren Befehl wird Papst Silverius entführt, abgesetzt, geschoren, in eine schwarze Büßerkutte gesteckt und als Einsiedler – darf ich es so sagen, wie es ist? – nach Anatolien entsorgt. Nach ihrem dogmatischen Gusto wird ein neuer Papst, Vigilius, ernannt. Der wird aber leider rückfällig und bekräftigt erneut, der Kaiserin zum Trotz, das Dogma von Chalzedon: „Jesus Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch.“

 

Am 28. Juni 548 ist Kaiserin Theodora gestorben. In den Kirchen des Ostens, bei den Kopten vor allem, wird sie bis heute als ganz große Heilige verehrt. Am 14. November ist ihr Festtag. Nur der Vatikan weigert sich immer noch, die Frau, die stark genug war, den Papst zu stürzen, zur Ehre der katholischen Altäre zu erheben.

Schon aber hat die Unesco in Paris den ersten Schritt getan. Das grandiose byzantinische Mosaik in der Kirche San Vitale von Ravenna, der einstigen oströmischen Kapitale für Italien, hat sie zum Weltkulturerbe erklärt. Es zeigt Kaiserin Thedora mit Perlen behangen, mit Edelsteinen gekrönt in überirdischer Verklärung. Bildungstouristen ohne Zahl ziehen andächtig vor diesem gewaltigen byzantinischen Mosaik vorbei. Wann wird Papst Franziskus den Mut finden, selber nach Ravenna zu pilgern, um, stellvertretend für uns alle, vor Theodoras überweltlichem Bildnis das Knie zu beugen?

Heilige Theodora von Byzanz, bitt für uns Sünderinnen und Sünder!

„Adieu in alle Ewigkeit, mi Cicero!“
Worin wir von Petrarca lernen, wie man alte weiße Männer kulturell cancelt.

Nicht erst mit sechzig oder siebzig, nein schon mit vierzig Jahren galt ein Mann im Alten Rom als „senex“, als Greis. Einundsechzig Jahre alt war Marcus Tullius Cicero, als er sich im Jahr 45 vor Christus entschloss, ein Buch über das Greisenalter und über den näherkommenden Tod zu schreiben: „de senectute“. Das heißt, mit dem Altwerden und mit der Erwartung des Todes hatte Cicero zu dieser Zeit schon viel eigene Erfahrung. Mehr noch hatte er sich die Meinungen anderer anhören müssen: vor allem die bitteren Klagen der Alten selber.

Dieser würdelosen Jammerei vieler senes, vieler Greise, wollte Cicero jene gelassene Selbstsicherheit entgegensetzen, mit der, lange vor ihm schon, die großen Philosophen Griechenlands dem hohen Alter und dem Tod entgegengesehen hatten, Plato etwa und Sokrates im „Phaidon“. Dabei stand Cicero aber vor einer Schwierigkeit: Er selber galt vielen in Rom als „graeculus“, als „Griechelein“, als „Salongrieche“. Wichtig war ihm deshalb, urgriechische Gedanken über Alter und Tod als etwas Eigenes, etwas Urrömisches darzustellen.

Wie macht man das? Mit einem literarischen Kunstgriff. Cicero schreibt sein Buch de senectute als einen fiktiven Dialog, in dem der berühmteste, der römischste, der männlichste aller Greise Roms, der Alte Cato, zwei jungen Römern über seine Erfahrungen im letzten Lebensalter Rede steht – mit 84, ein Jahr vor seinem Tod und ein Jahrhundert vor Ciceros Geburt.

Nun zuerst zum greisen Gejammer über das Greisenalter. Da sei etwas dran. Ist doch das Alter mit vielerlei Beschwerden verbunden. Doch lohnt es, sich bei jenen, die im Alter so laut jammern, ihre frühen Jahre näher anzuschauen. In aller Regel sind das Leute, die schon in der Jugend laut und gern gejammert haben. Da ist dann das Jammern über das Altern nichts als der jammervolle Schlusspunkt lebenslanger Jammerei. Nicht Alterssache, lehrt der Alte Cato seine jungen Zuhörer, sei das Jammern, sondern Charaktersache, Charakterschwäche von früher Jugend auf.

Natürlich stimme es, dass im Alter die körperlichen Kräfte schwinden. Aber braucht denn der Alte große körperliche Kraft? Wie ist es auf Schiffen? Muss da der Kapitän die nötige Behendigkeit besitzen, um jederzeit selber in alle Masten hochzuklettern? Nein, das überlässt er am besten dem Schiffsjungen. Der wahre Kapitän sitzt unbewegt, gelassen vor seinem Steuer. Wird nicht auch der römische Staat in höchster Instanz vom Senat gesteuert? „Senat“ kommt von „senex“. Er ist der Rat der Greise.

Dass der Körper im Alter nachlässt, hat auch sein Gutes: Der Geist hat jetzt mehr Ruhe. Mehr als in der Jugend ist der Mensch im Alter „secum“, „bei sich“. Zum Beweis lässt Cicero vor dem Alten Cato eine lange Galerie von altrömischen Zeitgenossen auftreten: Richter, Schriftsteller, Priester, Redner, Senatoren aus seiner eigenen Zeit, lange vor Cicero. Ohne Altersgrenze haben sie bis in die spätesten Jahre Großes geleistet, Größeres oft als in der Jugend.

Überdies gebe es körperliche Arbeiten, die zum Alter nicht weniger passen als zur Jugend. Gerade deshalb, weil er als Bauernsohn aufgewachsen war, galt der Alte Cato noch zu Ciceros Zeit als Verkörperung römischer Männlichkeit. Als Soldat, als Feldherr, als Staatsmann war er zu Ruhm gekommen. Jetzt mit 84, berichtet er seinen beiden jungen Zuhörern, bereite es ihm die größte Lust, zur Arbeit seiner Jugend zurückzukehren, durch seine Gärten zu gehen, nicht anders gekleidet als seine Arbeiter, und selber Hand anzulegen.

Aber kommen wir zur eigentlichen Sache. Hängt nicht das nahe Verhängnis des Todes wie eine düsterschwarze Wolke über den letzten Lebensjahren jedes Menschen? Wörtlich antwortet der Alte Cato mit einem Vergleich aus seinem Bauerngarten: „Wie das Obst, wenn es unreif ist, sich kaum vom Baum reißen lässt, jedoch, wenn es gereift ist, sich von selber löst, so nimmt dem jungen Menschen die Gewalt das Leben, dem alten aber die Reife.“

Der intelligente Alte weiß, dass sein Tod nicht, wie beim jungen Menschen, eine Tragödie ist, sondern Erfüllung eines Naturgesetzes. Der Natur so gehorsam zu folgen „wie einem Gott“ aber ist höchste Weisheit des Alters, sagt Cicero durch Catos Mund. Und er schreibt den schönsten Satz, der je über das philosophische Alter und den Tod geschrieben worden ist:

„So geht das Leben unmerklich über ins höchste Alter, und nicht plötzlich bricht es ab, sondern die Länge der Zeit löscht es aus – diurnitate exstinguitur.“

Nach seinen großen Reden zur Verteidigung der res publica – manche würden heute sagen: der Demokratie – haben die Römer Cicero den Titel „pater patriae“ verliehen: „Vater des Vaterlands“. Die christliche Antike wird ihn doppelt verehren: als sprachliches Vorbild der latinitas und als Verkünder edelmütiger humanitas.

Das Mittelalter ließ ihm seinen Ruhm, versagte ihm aber die Nachfolge. Es sprach ja ein ganz anderes, nicht ciceronianisches, sondern modern strukturiertes Latein, die „lingua Parisiensis“. So ereilte Cicero jenes Schicksal, das, wie Voltaire klagen wird, jedem noch so großen Autor bestimmt ist: hochgepriesen, aber ungelesen zu vermodern im Staub der Bibliotheken.

Bibliotheken sind stille Orte. Dass große Dramen sich in Bibliotheken abspielen, dürfte eher selten sein. Solches aber geschah anno 1345 in der Bibliothek der Kathedrale von Verona. Dort saß Francesco Petrarca. Mit Dante und Boccaccio ist er einer der drei Giganten der italienischen Literatur. Für die Italiener ist er auch der eigentliche Begründer des rinascimento, der Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance. Längst kannte Petrarca Ciceros große staatspolitischen Reden, auch seine tiefgründigen Dialoge über das Alter und den Tod. Jetzt aber gingen ihm die Augen über. Was er unerwartet entdeckt hatte, war nichts anderes als, in vielen hundert Exemplaren, Ciceros private Korrespondenz. Von einem aufmerksamen Sekretär einst kopiert und gebündelt, hatten diese ganz persönlichen Briefe die Jahrtausende überstanden.

Außer sich vor Begeisterung stürzte sich Petrarca in die Lektüre von Ciceros Briefen. Doch je länger er las, desto mehr wandelte sich die Begeisterung in Beklemmung. Die Beklemmung wandelte sich in Bestürzung.

In heller Empörung schrieb jetzt Petrarca, durch die Jahrhunderte zurück, einen Wutbrief an Cicero persönlich. In perfekt ciceronianischem Latein. „Amantissime“, in leidenschaftlicher Liebe habe er seit früher Jugend Cicero verehrt und nachgeahmt. Jetzt aber sei für ihn Ciceros antike Maske gefallen. „Was für ein Lehrmeister du den andern warst, habe ich längst gewusst; jetzt habe ich erkannt, was für einer du für dich selber warst.“ Derselbe alte Cicero, der öffentlich unentwegt den heldenhaften Verteidiger der Republik spielte, war ganz privat damit beschäftigt, sich bei den aufstrebenden Jung-Diktatoren, etwa bei Cäsar, einzuschleimen. Und er rechtfertigte das vor seinem entgeisterten Freund Atticus mit so verräterischen Sätzen wie: „Ich werde doch auch einmal an mich selber (…) denken dürfen.“ Voll von Gejammer und von Wankelmut, wirft ihm Petrarca vor, seien Ciceros private Briefe. Vom großen Lehrmeister würdigen Alterns bleibe als realer Cicero nichts als ein „inquietus semper atque anxiosus, praeceps et calamitosus senex“, ein „allzeit ruheloser und verängstigter, ein kopfloser und elender Greis“.

In solche Wut steigert sich Petrarca, dass er sogar Ciceros Ermordung nicht den Mördern, sondern Cicero selbst zum Vorwurf macht. Statt sich in jener würdevollen Zurückhaltung zu üben, die er doch selber allen alten Männern der Welt empfohlen hatte, habe sich Cicero, von Ruhmsucht geblendet, noch als Greis „adolescentium bellis“, in die Kriege halbreifer Jünglinge gestürzt: Pompejus, Cäsar, Antonius, Oktavian. Bis es schließlich den Triumvirn zuviel wurde. Und es setzten die drei Diktatoren Ciceros Namen zuoberst auf die Liste derer, die sie umbringen wollten.

In welche Panik geriet da Cicero! Von einem seiner vielen Landhäuser floh er quer durch Italien ins andere, wollte bei Brutus in Kleinasien Zuflucht suchen, bis ihn die Häscher in seiner Villa bei Formiae aufspürten. Noch versuchte er, ihnen zu entkommen, hinab zur Küste, ans rettende Meer. Doch unterwegs, auf einem düsteren Waldweg, ereilte ihn am 7. Dezember 43 vor Christus sein unwürdiges Schicksal. Den Kopf, der so viel gedacht, die Hand, die so viel geschrieben hatte, beides schlugen ihm die Schergen ab. Und Petrarca verspürt kein Mitleid mehr: „Adieu in alle Ewigkeit, mein Cicero – vale in aeternum, mi Cicero!“

Über die Jahrhunderte wird Petrarcas Wutbrief das gebildete Abendland im Urteil über Cicero verwirren und spalten. Leidenschaftlich wird Erasmus Petrarca widersprechen: „Ich kann Ciceros Schrift über das Alter (…) nicht lesen, ohne das Buch von Zeit zu Zeit zu küssen und mich zu verneigen vor Ciceros heiligem, ganz von göttlichem Odem erfülltem Herzen.“

Noch in Kaiser Wilhelms humanistischem Gymnasium wird es für deutsche Knaben zwar nicht höchste Lust, wohl aber höchste Ehre sein, Ciceros „Gespräche in Tusculum“ zu übersetzen, Ciceros Brandreden im Senat zu deklamieren:

„Quousque tandem, Catilina, abutere patientia nostra!“

Zu gleicher Zeit allerdings fällt der Historiker Theodor Mommsen über Cicero ein Urteil, das noch viel vernichtender ausfällt als Petrarcas Kritik. „Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht“ stehe Cicero auch „als Schriftsteller … ebenso tief wie als Staatsmann.“ Als Redner habe der Römer Cicero nie den Griechen Demosthenes erreicht, als Philosoph nie den Griechen Plato. „Durchaus Pfuscher“ sei Cicero gewesen, schließt Mommsen gnadenlos.

Mommsens Tage sind vorbei und auch das humanistische Gymnasium gibt´s nicht mehr. Geblieben sind wir, die letzten greisen Epigonen der klassischen Bildung. Wir und unser Cicero. Mir persönlich ist er jetzt lieber als jemals zuvor. Wohl wahr, dass in seiner privaten Korrespondenz eine Unentschlossenheit, Ängstlichkeit, ja Feigheit zutage tritt, die im Gegensatz steht zu jener altrömischen Charakterstärke, jener philosophischen Würde, die er öffentlich vertrat. Aber ist solche Schwäche, solche Widersprüchlichkeit im Alter verwerflich?

So sind wir senes heute noch alle: Vor den Jungen geben wir uns wichtiger, tüchtiger, würdiger, als wir vor uns selber sind. Auch wir tun ja so, als wären wir jeder ein Alter Cato – und sind doch höchstens kleine Cicerones. Nicht grundlos werden wir heute, in den Blogs des 21. Jahrhunderts, als „old white men“ so wütend demaskiert, wie einstmals Petrarca Cicero bloßgestellt hat.

Mi Cicero! In deiner Widersprüchlichkeit warst du der erste von uns. Vor mehr als zwei Jahrtausenden warst du, Alter Römer, der erste „alte weiße Mann“.

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