Selbstverständlich ist nichts mehr

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Jedenfalls erscheint heutzutage noch viel weniger als selbstverständlich als damals und erst recht gegenüber den 1960er-/1970er-Jahren. Was gilt denn noch? Was hält denn noch? Ehe, Beruf, politische Koalitionen, der Glaube an eine bestimmte Religion? Und dazu der Glaube an ein Produkt – an ein Objekt der Begierde am Gütermarkt? An eine Form des Zusammenlebens, einen Gott, einen Arbeitgeber, eine Stammpartei, eine Automarke, ein Kleidungsgeschäft, eine Skimarke. Ich könnte sie alle aufzählen, diese „Das und sonst nichts“-Kaufentscheidungen von damals, auch die meiner Eltern. Vom Kleidungsgeschäft über das Wirtshaus bis zur Automarke.

Drei fixe Mahlzeiten am Tag.

Zwei oder drei fixe Radio- und/oder Fernsehsendungen.

Fixe Sporteinheiten – zumindest bei einem Teil der Bevölkerung.

Ein Kinotag. Ein Einkaufstag. Und – erzwungenermaßen – in der Zeit der Ölkrise: der autofreie Tag. Und heute? Vielfältige Möglichkeiten menschlichen Zusammenlebens. Zweifel an Religionen, mehrere, einer oder kein Arbeitgeber, keine Stammpartei, mehrere Automarken, Hunderte Kleidungsanbieter, nicht ganz so viele Skimarken. Große, zig kleine oder gar keine Mahlzeiten, keine fixen Radio- und/oder Fernsehsendungen, kaum sportliche Betätigung oder nur dann, wenn zwischen 06:00 Uhr und 07:00 Uhr oder ab 20:00 Uhr Lust und Zeit bleiben. Kein spezieller Kinotag, sondern irgendwann, wenn es die Zeit zulässt. Kein geplanter Einkaufstag, sondern shoppen zwischendurch. Keine acht Stunden Schlaf.

Gefragt sind Entscheidungen. Nicht eine. Dutzende. Und das innerhalb von 24 Stunden. Sechs Stunden Schlaf weggerechnet (im Schnitt – variabel).

Schon 1994 (!), der Mobiltelefonwahn war noch ein Marktbaby, wird ein interessantes Wort geboren: die (mobile) Multioptionsgesellschaft (als Titel eines Buches des damals 53-jährigen Schweizer Soziologen Peter Gross, Co-Autor Stefan Bertschi). Gross schreibt angesichts der auf den Markt kommenden Mobiltelefone schon vor einem Vierteljahrhundert – lange vor dem unmittelbaren Siegeszug des Handys und noch viel länger vor dem ersten Smartphone – von einer „endlosen und kompetitiven Ausfaltung neuer Möglichkeiten“ in modernen Gesellschaften. Und dass die Ausfaltung neuer Möglichkeiten nicht nur die Regale der Supermärkte und das Angebot an Dienstleistungen betreffe, sondern auch das Reich des Geistes. In keiner Sphäre sei der Bewohner einer solchen Gesellschaft vor den Optionen geschützt, die sich ihm darbieten würden. Dieser Bewohner sei aber nicht Opfer, sondern der Wille zum Mehr und zur Steigerung sei im Herz des modernen Menschen implantiert. Rund 20 Jahre später wird der bekannte deutsche Soziologe Hartmut Rosa von der „Steigerungslogik“ sprechen.

Dennoch kann in einem Punkt auch widersprochen werden. Implantiert oder eingemeißelt, wie Gross es an anderer Stelle auch formuliert, war dieser Wille zur Steigerung wohl nur in wenigen von uns. Zuerst mussten wir die Möglichkeiten sehen. Um das von permanent neuem Konsum geprägte, kapitalistische System aufrechterhalten zu können, mussten menschliche Bedürfnisse erzeugt werden, die eben nicht vorhanden waren. Natürlich kann man auch anhand dieser Betrachtungsweise nicht von „Opfer“ sprechen, aber letztlich unterliegt der menschliche Wille auch immer den Gegebenheiten des persönlichen Umfelds. Zumindest darf man es als sehr schwierig bezeichnen, die Kinder von heute komplett ohne Smartphone und Tablet oder ohne sonstige mobile Computerwelten durchs Leben ziehen zu lassen, will man doch seine Lieben abseits der Erziehung zu kritischem Konsumgeist auch nicht automatisch in eine Außenseiterisolation abgleiten lassen.

Konsumentenverwirrung

Fragt sich nur, ob dann, auch bei Erwachsenen, der einem zugegebenermaßen schon seit der Aufklärung innewohnende ständige Drang nach Mehr noch als sinnvoll erlebt wird. Das darf vor allem dann hinterfragt werden, wenn wie in diesem 21. Jahrhundert das „Mehr“ in immer kürzeren Abständen erlebt werden soll. Der Soziologe Peter Gross spricht schon 1994 von der „Consumer Confusion“, einer Konsumentenverwirrung, die man heute im 21. Jahrhundert durch sehr spezielle Marketingmethoden zu verkleinern versucht. Werbesprüche, die nicht nur ins Auge stechen, sondern auch gleich jene Hirnareale ansprechen sollen, die vorher bei Testpersonen in Magnetresonanzröhren oder anderen medizinischen Hochleistungsgeräten getestet worden sind. Die Werbebranche überlässt diesbezüglich nichts mehr dem Zufall. Jeder Werbespruch ist genau durchdacht und soll exakt unser Belohnungssystem im Gehirn treffen.

Und dennoch geht die Schere zwischen der Lust auf Neues und dadurch Befriedigung erlangen immer weiter auf. Schon allein deshalb, weil die Vielfalt technischer Geräte nicht mehr bedient werden kann. Wobei die Handhabung ohnehin immer mehr in den Hintergrund tritt. Die „Habung“ genügt. Das aktuelle Smartphone des Jahres zu haben, ist mit Sicherheit für viele schon wichtiger geworden, als es in seiner Komplexität zu bedienen, geschweige denn verstehen zu wollen.

„Das Mobiltelefon ist eine Art Haltegriff der kommunikativen Vergewisserung in der modernen Welt“4, formulierte es Gross 2006. Aber wird dieser Haltegriff auch als sinnvoll erlebt? Interessanterweise findet sich in dem Wort Vergewisserung auch das Wort „Gewissen“ eingebettet. Man darf also fragen, welche Rolle das schlechte Gewissen spielt, wenn der Smartphone-Besitzer nicht „on“ ist. Alle sieben bis acht Minuten, Tendenz von Jahr zu Jahr sinkend, starren wir mitten in einem Gespräch mit einem real vor uns sitzenden oder stehenden Menschen oder während einer anderen Tätigkeit plötzlich auf unser kleines teures Mobiltelefon, ob auf einem der mindestens vier bis sechs Kanäle etwas Neues gekommen ist. SMS, E-Mail, WhatsApp, Signal, Wire und mindestens einem Sozialen Medium (Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat, TikTok – was auch immer). In Büros ist es in der Zwischenzeit ohnehin üblich geworden, alle Kommunikationsebenen gleichzeitig geöffnet vor sich zu haben, zu Sitzungen kommt das Smartphone natürlich mit. Die Zahl derer, die nicht mehr fernsehen, ohne gleichzeitig das Smartphone zu bedienen, steigt übrigens dramatisch an. Und wissen Sie, wie oft Jugendliche mittlerweile mit ihren Augenpaaren zwischen den beiden Medien hin und her wechseln? Im Schnitt alle 15 Sekunden.

Kommunikation 2020 – wirklich ein Haltegriff? Oder doch eher nachhechelnde Gewissensberuhigung?

Zeitkrise

Bei allem „Mehr“ bleibt ein Faktor immer gleich. Die Zeit. Sie beschleunigt sich nicht. Sie tut, was sie immer tut. Sie vergeht einfach. Egal, ob wir eine Stunde aus dem Fenster blicken und vorbeiziehende Wolken beobachten oder ob wir in diesen 60 Minuten drei Produkte online erworben, zwanzig Nachrichten auf vier Kommunikationsebenen gecheckt und filmschauend 20 Laufbandminuten hinter uns gebracht haben.

Die Zeit ist weg. Nur. Was haben wir als sinnvoll erlebt? Haben wir überhaupt etwas erlebt?

Der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han spricht von Dyschronie und meint damit ein eher wirres Nebeneinander von Abläufen. „Wenn ich in einem Leben möglichst viele Weltmöglichkeiten umsetzen kann, brauche ich kein Versprechen auf Unsterblichkeit … aber dieses Kalkül ist naiv“5, sagt Byung-Chul Han. Fülle werde mit Erfüllung verwechselt. Schon die griechischen Philosophen haben uns klargemacht: Ohne das Erlebte nicht zu erfahren und ohne das Erfahrene nicht wirklich zu erkennen und zu verstehen, werden wir nicht genießen können. Wenn also all die auf uns einprasselnden Innovationen und Beschleunigungsmechanismen nicht mehr zu verarbeiten sind, setzen Überforderung und Desinteresse ein. Das wiederum führt über kurz oder lang zu innerem Abschalten und der Verweigerung neuer Botschaften und Produkte. Der umworbene Rezipient geht auf „off“. Sinn hat das keinen mehr. Und Unzufriedenheit und Wut wird es schließlich – um nochmals zur Multioptionswelt für Konsumenten zurückzublenden, wenn man sich beim Kauf eines Produktes, bei der Wahl eines Urlaubsziels, bei einem Mietvertrag in der Eile für die aus seiner Sicht dann doch falsche Option entschieden hat. Also wenn der Konsument nicht nur im Angebotswahnsinn aufgegeben, sondern auch noch eine unüberlegte, dann bereuende Entscheidung getroffen hat. Etwa weil die Schönheit der BiN (Bilder im Netz – Abkürzungscopyright beim Autor) jene der Realität am Urlaubsort eine Spur übertroffen oder sich das Hochqualitätsprodukt auf der Homepage nach Lieferung als Nachahmungsmist entpuppt hat.

Aber auch wenn es die für ihn letztlich doch passende Option geworden ist, erlebt der Mensch von heute ein mittel- oder langfristig zum Verbrauch gedachtes Produkt noch als sinnstiftendes Objekt? Wie lange dauert die Freude? Überlegen Sie für sich selbst. Fernseher, iPad, Auto, Fidget Spinner … egal, wie groß oder klein, wie teuer oder billig. Wie lange hält sie?

Vernachlässigung der Ich-Kräfte

Natürlich ist es heute möglich, einfach so dahinzuleben. Keine großen Fragen. Schon gar keine Ratgeber, auch keine Soziologen oder Psychologen. Der Alltag ist hart genug. Doch wenn man in einer stillen Minute einen Menschen befragt, wie es ihm denn wirklich gehe und ob er denn ein halbwegs glückliches Leben führe, kommen meist wenig euphorische Antworten, die sich im Österreichischen dann in etwa so anhören: „Geht schon.“ – „Passt schon irgendwie.“ – „Was soll’s, so ist das Leben.“ – „Einmal so, einmal so.“ – „Eh gut.“ – „Kein Unglück ist genug Glück.“ Und je weiter in Österreich nach Osten gehend, klingt es dann eher so: „Geh bitte, wer ist heutzutage schon glücklich“ bis zu „Was soll diese depperte Frage?“ oder „Was geht dich das an, ob ich glücklich bin, kümmere dich um deinen eigenen Mist“. Meine persönliche Nummer eins wurde von einem Dialektsänger in Wien geboren: „Mia is wurscht.“ (Mir ist das alles egal.)

 

Irgendwie erstaunlich. Denn was fehlt dem Menschen denn heute in den Wohlstandsgesellschaften? Und damit sind nicht jene Mitglieder in den Wohlstandsgesellschaften gemeint, denen es ohnehin finanziell an allen Ecken und Enden fehlt, die gerade noch mit dem Alltag zurechtkommen und die mit Fug und Recht behaupten könnten, dass sie eigentlich nicht sehr glücklich sein können. Interessanterweise ist die allgemeine Zufriedenheit aber gerade in jenen Bevölkerungsschichten höher, als sie es im obersten Einkommensdrittel der Gesellschaft ist.

Warum geht es Menschen subjektiv nicht so gut, obwohl es ihnen objektiv gut gehen sollte? Oft, weil sie deutlich spüren, dass mehr möglich wäre, mehr als dieses einfache Dahinleben.

Wie könnte mehr möglich sein? Wie könnte dieses Umdenken auch politische, vielleicht auch ökonomische Abläufe beeinflussen?

Ich darf Sie nun zu einer Reise einladen. Zu einer Reise menschlichen Denkens vom Recht auf Faulheit vor einigen tausend Jahren über ein strenges Pflichtbewusstsein, umrahmt nicht selten von schlechtem Gewissen in arbeitsfreien Stunden, und wieder zurück zum Ursprung und der neuerlichen Frage, einige tausend Jahre später: Haben wir nicht auch ein Recht auf mehr Zeit zur Muße, auf Momente des Nachdenkens und mehr Erfüllung statt Fülle?

VORARBEIT

Es war einmal.

Ja, es war einmal tatsächlich auch eine Zeit vor der Arbeit.

Jedenfalls eine Zeit vor dem, was man heute gemeinhin unter dem Begriff Arbeit versteht. Wirklich positiv war der Begriff nie besetzt. Im Lateinischen kommt das Wort Arbeit von arvum, dem Acker, und bezog sich im Wesentlichen auf die harte Feldarbeit. Das lateinische Wort laboro bedeutet neben arbeiten auch sich abmühen, leiden, geplagt werden oder in Sorge sein.

Archäologen datieren den Ursprung der Arbeit mit rund 10.000 Jahren vor Christi Geburt, als die Menschen begannen, sesshaft zu werden und ihre Überlebensmittel selbst herzustellen. Was bereits Arbeit gewesen war. Es folgte die Viehhaltung, und irgendwann erkannten die Menschen, dass sie auch mehr erzeugen konnten, als sie selbst zum Leben brauchten. Mit dem, was von der Nahrungsmittelproduktion „für andere“ übrig geblieben war, konnten Arbeiter dafür, dass sie bei der Produktion mithalfen, entlohnt werden. Hilfehandel sozusagen. Oder ein „Wie du mir, so ich dir“ im positiven Sinne.

In der griechischen Antike war Arbeit verpönt. Man überließ sie Sklaven und Frauen. Wer etwas auf sich hielt und sich das auch leisten konnte, gab sich ganz der Muße, dem Denken, der Philosophie hin. Der Dichter der Antike, Homer, er soll rund 850 vor Christi Geburt gelebt haben, ließ stets den Müßiggang hochleben, Arbeit galt als etwas Negatives. Und für den Schriftsteller Xenophon galt rund 400 Jahre später noch immer: Arbeit verhindere Muße und verdränge die Zeit für soziales Denken und Handeln. Weitere 100 Jahre danach sieht der Philosoph Aristoteles Arbeit als das Gegenteil von Freiheit. Bei den Römern sah die Lage nicht viel anders aus. Marcus Tullius Cicero, der bis 43 vor Christi Geburt lebte, schrieb in seinen „De officiis“ (Vom pflichtgemäßen Handeln): „Eines Freien unwürdig und schmutzig sind ferner die Erwerbsformen aller Tagelöhner, deren reine Arbeitsleistung – und nicht deren besondere Fähigkeiten – erkauft werden. Denn es ist bei ihnen der Lohn ja nichts weiter als einem Handgeld für eine Knechtstätigkeit.“ 6

Ehrenvoll sind für Cicero nur Tätigkeiten, an denen größere Klugheit beteiligt ist oder durch die ein „nicht mittelmäßiger Nutzen“ 7 angestrebt wird, wie sie Mediziner, Architekten, Gelehrte und Händler ausüben; Letztere nur dann, wenn sie in großen Geschäften tätig sind und Waren von überallher heranschaffen. Beide Formen, also die des Geistes und die der Handarbeit, werden erst im Christentum positiv bewertet. Schließlich sind Jesus und seine Jünger zunächst selbst Handwerker und Fischer.

Auch im Mittelalter bleibt die Arbeit grundsätzlich etwas Unangenehmes. Ein notwendiges Übel, um nicht zu verhungern. Der Wert des Lebens lag im Spaß, den man hatte. Feiern, tanzen, das Leben genießen. Und ein Jahr hatte 100 Feiertage. Zumindest für die Adeligen. Da gilt es, die Freuden des Lebens auszunützen. Materieller Wohlstand wird damals als sündhaft angesehen, wozu also mehr arbeiten, als unbedingt notwendig ist. Ab dem 12. Jahrhundert kommt es zu einer Art Dreiteilung: Kleriker, Ritter, Arbeiter. In den späteren Jahrhunderten entsteht erstmals der Begriff „arbeitsscheu“. Wer also nicht arbeitet oder sich als Bettler, Dieb, Verbrecher, Zuhälter oder Hure herumtreibt, wird zusehends geächtet.

Mit Martin Luther ist es schließlich soweit. Das Bild dreht sich komplett und hält bis heute. 1483 im heutigen Sachsen-Anhalt als Martin Luder geboren, zerbricht sich Luther schon als Jugendlicher den Kopf über das Freikaufen von Sünden, das Kirchenleute immer reicher und reicher macht. Luther findet das heuchlerisch und schlägt seine 95 Thesen gegen dieses Treiben an die Holzpforte der Schlosskirche Wittenberg. Sein Hauptfeind ist der Papst, seine Erneuerung (lateinisch reformatio) gewinnt in Deutschland immer mehr Anhänger. Und Luther lobpreist die Arbeit: „Der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.“

Der als Humanist gefeierte Freiheitskämpfer hält die Lohnarbeit hoch und verteufelt den Müßiggang, der eine Sünde wider Gottes Gebot sei. In dieser Zeit werden die Gemeinrechte für Bauern beschnitten, ihre soziale, rechtliche und wirtschaftliche Stellung verschlechtert sich immer mehr, die schrecklichen Bauernkriege folgen. Die Bauernschaft verliert die Kriege und 100.000 Menschenleben. Die Bauern müssen alle Nutzungsrechte von Weiden abtreten und werden so zu Zwangsarbeitern unter Lehnsherren oder in Fabriken.

Johannes Calvin, ein Reformator französischer Abstammung und Begründer des Calvinismus, der ab 1535 vor allem in der Schweiz gewirkt hat und 1564 dort gestorben ist, formuliert es viel drastischer als Martin Luther: „Unsere Arbeit, unser Broterwerb ist Gottesdienst und heilig. Müßiggang und Prasserei sind es, die die Menschen verderben. Darum arbeitet fleißig und lebt bescheiden, meidet Rausch, Tanz und Spiel. Das sind die Versuchungen des Teufels.“8

Diese beiden Reformatoren des 16. Jahrhunderts sind der Ansicht, dass für jeden schon vor der Geburt feststeht, ob man zu den Auserwählten oder zu den Verdammten gehört. Man wisse das aber nicht. Nur der totale Fleiß sowie Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit würden im Jenseits die Erlösung bringen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

Mit Luther und Calvin ist die Arbeit zum ersten Mal positiv besetzt, heißt es in diversen Geschichtsbüchern. Kann man so sehen. Denn Arbeit bringe einen weiter. Nachdenken und Muße nicht.

Muss man aber nicht so sehen. Man könnte auch sagen: Damals im 16. Jahrhundert hat das begonnen, was nun bald ein halbes Jahrtausend hält.

Die Arbeit macht uns zu dem, was wir sind.

Und das soll nur „positiv“ besetzt sein, wie es uns nun jahrhundertelang eingeimpft worden ist?

Wenn die Berufung tatsächlich der Beruf geworden ist, dann stimmt das, dann kann Arbeit sinnstiftend sein und Freude bereiten.

Aber kann Lohnarbeit das auch?

Die „neuen“ Lohnarbeiter von damals haben das nicht so gesehen. Die eigene Arbeitskraft an einen anderen Menschen zu verkaufen, damit dessen Profit gesteigert werden kann, galt zumindest lange Zeit als entwürdigend.

Mit der Reformation waren übrigens auch Zinssätze möglich, manche Geschichtswissenschaftlicher sehen darin die eigentliche Geburtsstunde des Kapitalismus, bei dem ganz am Beginn des Prozesses ein Kredit steht, der jedoch in einer in der Zukunft liegenden Periode zurückgezahlt werden muss. Wir erinnern uns an den Kreislauf des eingesetzten Kapitals und den permanenten Wachstumszwang. Der deutsche Soziologe und Nationalökonom Max Weber schrieb 1904: „dass unser heutiger Begriff des Berufs religiös fundiert sei“ und „das Ethos des rationalen bürgerlichen Betriebs und der rationalen Organisation der Arbeit“9 der Reformation entspringe.

Aus dem Arbeiten, um zu leben, ist im Laufe der Jahrhunderte ein Leben, um zu arbeiten geworden.

Der Übergang war fließend. Aus dem Muss war offenbar Gewohnheit geworden. Eine der vielen Selbstverständlichkeiten, die wir in den weiteren Abschnitten infrage stellen wollen. Aber konkret erst für das 21. Jahrhundert.

Also führen wir den kurzen historischen Abriss fort und versetzen uns ins 18. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung kommt es zu einer Bevölkerungsexplosion. Doch ohne Arbeit kein Einkommen. Männer, Frauen, Kinder – alle müssen in die neuen Fabriken. Die Welt beginnt, schneller zu werden. Vor Zügen mit Dampfmaschinen wird von Fortschrittsgegnern gewarnt. Ab einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/h bestünde für den Menschen die Gefahr der Gehirnerweichung. Die Weltproduktion verdoppelt sich in kürzester Zeit. Einen Wert sehen die Arbeiter in ihrem Tun allerdings nicht. Kommt der Lohn, gehen sie nach Hause. Mehr als notwendig zu arbeiten, ist nicht vorgesehen. Die Fabrikanten reagieren so ganz und gar nicht ökonomisch, obwohl angeblich schon damals der freie Markt alles regeln sollte. Ein Satz aus einem Zeitungsartikel zu diesem Thema, der erst vor einigen Jahren erschienen ist, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben:

Zur Motivation der Arbeiter senken die Fabrikanten die Löhne.

Das ist wahrlich interessant. Wenn das Angebot sinkt, steigen da nicht die Preise? Wenn sich frustrierte, erschöpfte Arbeitnehmer aus dem Produktionsprozess zurückziehen, könnte ich sie dann nicht mit höheren Löhnen zur Rückkehr motivieren? Könnte man. Muss man aber nicht, wenn man weiß, dass letztlich ohnehin immer mehr in die Fabriken drängen müssen. Dann kann man Männern, Frauen und Kindern auch Hungerlöhne zahlen, denn es wird ihnen, um irgendwie existieren zu können, nichts anderes übrig bleiben, als zu arbeiten. Und zwar immer länger pro Tag. Je niedriger der Lohn, desto länger muss die gesamte Familie in der Fabrik stehen.

Es kommt zur Arbeiterbewegung. Der Druck gegen die Fabrikbesitzer wird immer größer, die Arbeitsbedingungen verbessern sich. Aber halten wir dennoch fest: Am Wert der Arbeit rütteln auch Sozialisten und Sozialdemokraten nicht. Ganz im Gegenteil. In dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung (Text seit 1871), „Die Internationale“, die bewusst als Gegenpol zu rein nationalen Hymnen geschrieben worden ist, heißt es in Strophe 3:

In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Partei ’n. Die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt muss unser sein;

Kein Platz für Müßiggänger also, und das von österreichischen Sozialdemokraten seit 1868 (!) gesungene „Lied der Arbeit“ endet mit:

So ruft: Die Arbeit sie erhält, die Arbeit, sie bewegt die Welt! Die Arbeit hoch! Die Arbeit hoch!

Einzig in diesem Punkt treffen sich Kapitalisten und Sozialisten. Über die Arbeit lassen wir nichts gehen. Aber auch gar nichts.

Philosophie und Ökonomie machten diese Entwicklung übrigens weitgehend mit. Thomas Hobbes, ein englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und bis heute viel beachteter Philosoph, sieht im 17. Jahrhundert die Arbeit als entscheidenden Faktor für soziale Anerkennung, Aufstieg und Vermögen. Mit der in weiten Zügen akzeptierten gesellschaftlichen Gleichberechtigung von Armut und Reichtum ist es vorbei. Und der „Erfinder“ und Begründer der Ökonomie als Wissenschaft, der Schotte Adam Smith, unterscheidet erstmals zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit. Blickt man in die griechische Antike zurück, fallen genau die damals hochgeschätzten „Tätigkeiten“ bei Smith hinab ins weitgehend unproduktive Nichts: politisches Engagement, Beamte, religiöse Gelehrte, auch das Militär und ganz besonders all jene, die danach trachteten, das Volk zu unterhalten: Schauspieler, Sänger, Musiker, Artisten und alle anderen, denen es damals nicht vergönnt war, ihre Künste auszuüben.

 

Den Tiefpunkt erlebt die Arbeit aber erst im Nationalsozialismus. Der internationale Tag der Arbeiterbewegung wird mit 1. Mai 1933 zum Tag der nationalen Arbeit. Zeitgleich werden die freien Gewerkschaften zerschlagen.

Aber es sollte noch viel entsetzlicher kommen. Als Aufschrift auf den Eingangstoren der nationalsozialistischen Konzentrationslager stand der Satz: Arbeit macht frei. Der Tiefpunkt für den Wert der Arbeit – ein Höhepunkt an Zynismus und menschlicher Entwürdigung. Ist die Arbeit im Werteranking des Menschen 2020 gegenüber dem 17. Jahrhundert dramatisch abgestürzt?

Nicht wirklich.

Ist im Gegenteil nicht nach wie vor

nichts als Arbeit?

„Heute haben wir keine andere Zeit als Arbeitszeit“, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han. Den Maschinen des Industriezeitalters seien die neuen, Zwang und Sklaventum hervorbringenden, digitalen Apparate gefolgt. Die dadurch entstandene völlige Mobilität hat dafür gesorgt, dass wir den Arbeitsplatz überall vorfinden. Da Muße dort beginnt, wo Arbeit aufgehört hat, muss Erstere notwendigerweise verschwinden.

Cogito ergo sum. Wirklich? Oder doch nur noch laboro ergo sum?

Bin ich dann aber auch?

„In seiner Arbeit aufgehen“ kann dann eine radikale Bedeutungswende erfahren.

Wenn wir die Worte des Zweiflers schlechthin, des französischen Philosophen René Descartes, so auslegen, wie er sie tatsächlich gemeint hat, dann sind wir eigentlich nicht. Denn Descartes wollte mit ego cogito, ergo sum, wie es vollständig heißt („Ich denke, also bin ich.“), nichts weniger, als seine eigene Existenz beweisen, konkret seine Existenzfähigkeit.