Verein freier Menschen?

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Bei den Produktivkräften handelt es sich offenkundig um eine Bedingung der höheren Phase, die sich nicht herbei dekretieren lässt, sondern im Vorfeld und im Laufe kommunistischer Produktion erarbeitet werden muss. Solange die Industrie noch unterentwickelt ist, besteht die Notwendigkeit kraftraubender und monotoner Arbeit fort, um zu überleben. Und so knausrig und engherzig das Prinzip der Tauschgerechtigkeit (»Jedem nach seiner Leistung«) auch ist, existiert schlechterdings kein gerechteres, um knappe Lebensmittel und leidige Arbeit in der Gesellschaft zu verteilen. Erst wenn die Produktivkräfte ausreichend entwickelt wären, könnten sich die Menschen zwanglos entfalten. Erst dann wäre die höhere Phase an der Zeit. »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«

Aufzug in die höhere Phase: Industrialisierung

»Schonet der mahlenden Hand, o Müllerin, und schlafet

Sanft! Es verkündet der Hahn euch den Morgen umsonst!

Däo hat die Arbeit der Mädchen den Nymphen befohlen,

Und itzt hüpfen sie leicht über die Räder dahin,

Daß die erschütternden Achsen mit ihren Speichen sich wälzen,

Und im Kreise die Last drehen des wälzenden Steins.

Laßt uns leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben

Arbeitslos uns freun, welche die Göttin uns schenkt.«

Diese Wassermühlen-Hymne des griechischen Dichters Antipatros, eines Zeitgenossen Ciceros, zitiert Marx (Marx 1872k: 431, Anm. 156), um die Schöpferkraft und Produktivkräfte der Menschen zu würdigen. Im Gegensatz zu Morelly sieht er das Heil nicht in der Natur, sondern in deren Bearbeitung durch den Menschen. Gleichwohl kann aber auch ein solcher Heilsglauben nicht ganz auf den Glauben an die weise Anordnung der Natur verzichten. Denn die Menschen können nur das bearbeiten, was sie vorfinden; sie können ihre Produktivkräfte und die Produkte nicht aus dem Nichts schaffen, worauf Marx selbst hinweist, wenn er die Arbeitskräfte des Menschen als Naturkräfte und den Produktionsprozess als Stoffwechsel mit der Natur definiert. Ein Zustand wie die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft, wo die Springquellen des Reichtums reicher fließen, alle schnöde Arbeit durch die Industrie auf ein erträgliches Maß reduziert ist und alle Bedürfnisse befriedigt werden, muss, um wirklich werden zu können, zumindest dem Potenzial nach auf Erden angelegt sein.

Vermutlich sollen Marx’ Worte, wonach die Springquellen des Reichtums voller fließen werden, absichtlich an jenes Land erinnern, worin Milch und Honig fließen. Bloß führt dahin kein Gott – wenn es wirklich würde, so aufgrund der Produktivkräfte der Menschen. Ähnlich und übertriebener argumentierte übrigens der berühmte Unternehmer Henry Ford. Die Maschine sei der neue Messias (Ford 1929: 37). Mithilfe der Industrie werde in nächster Zukunft für alle alles in ausreichendem Maße produziert werden, der Kampf ums Dasein ein Ende finden und Verhältnisse wirklich, »wie sie die Propheten seit unvordenklichen Zeiten ersehnt haben« (ebd.: 47). Anders als Ford aber glaubte Marx, dass erst die kapitalistische Gesellschaft abgeschafft werden müsste, bevor die Industrie ihren Dienst für die Menschen beginnen könnte. Gleichwohl hielt er die kapitalistische Gesellschaft für die notwendige Voraussetzung des Kommunismus. Sie soll als eine Art Zulieferbetrieb des Vereins freier Menschen fungieren: »Ihr historischer Beruf ist die rücksichtslose, in geometrischer Progression vorangetriebne Entfaltung der Produktivität der menschlichen Arbeit.« (Marx 1894: 272 f.; vgl. auch ebd. 260) Entsprechend fungiere der Kapitalist als eine Art Agent des Kommunismus: »Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt er rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.« (Marx 1872k: 618) Gerichtet waren solche Worte auch gegen die Maschinenstürmerei und Rückwärtsgewandtheit, gegen die Engels und Marx in der sozialistischen Bewegung ebenso zu Felde zogen wie später zur Jahrhundertwende die Bolschewiki gegen die Volkstümler (Narodniki).19 Technik und Industrie seien nicht das Problem! So sagt es auch Oscar Wilde in seinem Plädoyer für den Sozialismus: »Bis jetzt war der Mensch bis zu gewissem Grade der Sklave der Maschine, und es liegt etwas Tragisches in der Tatsache, dass der Mensch, sowie er eine Maschine erfunden hatte, die ihm seine Arbeit abnahm, Not zu leiden begann. Das kommt indessen natürlich von unserer Eigentums- und Konkurrenzwirtschaft. Ein Einzelner ist der Eigentümer einer Maschine, die die Arbeit von fünfhundert Menschen tut. Fünfhundert Menschen sind infolgedessen beschäftigungslos; und da man ihre Arbeit nicht braucht, sind sie dem Hunger preisgegeben und legen sich auf den Diebstahl. Der Einzelne eignet sich das Produkt der Maschine an und behält es und hat fünfhundertmal soviel, als er haben sollte, und wahrscheinlich, was viel wichtiger ist, bedeutend mehr, als er tatsächlich braucht. Wäre diese Maschine das Eigentum aller, so hätte jedermann Nutzen davon. Sie wäre der Gemeinschaft von grösstem Vorteil. Jede rein mechanische, jede eintönige und dumpfe Arbeit, jede Arbeit, die mit widerlichen Dingen zu tun hat und den Menschen in abstossende Situationen zwingt, muss von der Maschine getan werden. Die Maschine muss für uns in den Kohlengruben arbeiten und gewisse hygienische Dienste tun und Schiffsheizer sein und die Strassen reinigen und an Regentagen Botendienste tun und muss alles tun, was unangenehm ist. Jetzt verdrängt die Maschine den Menschen. Unter richtigen Zuständen wird sie ihm dienen.« (Wilde 1891: 44 f.)

Als mit den Jahrzehnten die negativen Folgen des industriellen Fortschritts deutlicher wurden, etwa Atombombe und Umweltverschmutzung, und die positiven Folgen der Industrie im Ostblock ausblieben, begannen in den linken sozialen Bewegungen auch wieder solche Stimmen laut zu werden, gegen die Marx, Engels und besonders Lenin heftig gekämpft hatten. Zum bekanntesten Kritiker der Industrialisierung wurde Günther Anders. Anders lehnt zwar den technischen Fortschritt nicht rundherum ab und weiß den Wunsch zu würdigen, vermittels Maschinen Elend zu mildern und dem Schlaraffenland näher zu kommen, aber er fordert entschieden mehr Bedacht bei der Entwicklung und Skepsis beim Einsatz von Technik: »Wahnsinn wäre es, in der Gegenwart eines hungernden Inders, dessen Land durch die Serienproduktion von Traktoren gerettet werden könnte, Technik als solche zu beargwöhnen. Täten wir das, so hätte der Mann jedes Recht, uns als seine Feinde zu bekämpfen. […] Es wird eine der Hauptaufgaben der Philosophie der Technik sein, den dialektischen Punkt ausfindig zu machen und zu bestimmen, wo sich unser Ja der Technik gegenüber in Skepsis oder in ein unverblümtes Nein zu verwandeln hat.« (Anders 1980: 127) Im gleichen Werk wendet sich Anders auch direkt an die Adresse der Sozialisten und gegen deren Auffassung, nicht die Industrie, sondern die gesellschaftlichen Zustände seien das Problem. Maschinen würden sich nicht willfährig den gesellschaftlichen Verhältnissen anpassen und auch nicht plötzlich nur noch die Ansprüche der Menschen erfüllen; sie hätten eigene Ansprüche, etwa nach Energie und Wartung, gehorchten eigenen Bewegungsgesetzen, stellten Anforderungen an ihre Umgebung (Autos etwa an das Verkehrsnetz), konstituierten selbst einen immer umfassenderen Zusammenhang, worin die eine die andere Maschine bedinge und voraussetze und auch die Menschen immer abhängiger würden, und bildeten mehr und mehr eine zweite Natur. Die Menschen passten die Maschinen nicht nur ihren Wünschen an, sondern wären auch gezwungen, sich an sie anzupassen, und das im Zeitalter der Industrialisierung mehr, als ihnen lieb ist. Sie reagierten mit »prometheischer Scham«. So nennt Anders das Phänomen, mit dessen Diagnose sein Werk beginnt.

Dem griechischen Mythos nach trotzte der Gott-Titan Prometheus wider die Götter und schlug sich auf Seiten der Menschen, brachte ihnen das Feuer und wurde ihr Lehrmeister und Vorbild. Statt sich den Göttern zu unterwerfen, lernten die Menschen von ihm zu rechnen und zu schreiben, die Bahnen von Mond, Sonne und Sternen zu verstehen, Häuser und Schiffe zu bauen, Felder zu bestellen, Tiere zu halten und Bodenschätze zu fördern. »Er unterwies sie in allem, was ihnen nützlich war und sie zufrieden und glücklich machte.« (Schwab 1840: 17) Darum hieß ihn der junge Marx den »vornehmsten Heiligen und Märtyrer im philosophischen Kalender« (Marx 1839: 263), darum die berühmte Ode des jungen Goethe über den prometheischen Schöpferstolz.20

Prometheischer Stolz sei überholt. Mehr und mehr, so Anders, sei der Mensch eingeschüchtert durch die Anzahl und Komplexität der ihn umgebenden Maschinen und die Überlegenheit und Übermacht der Industrie. »›Wer bin ich schon?‹ fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks, ›wer bin ich schon?‹« (Anders 1956: 24 f.) Besonders beschämend für den Menschen sei, nicht perfekt konstruiert, sondern ein Abkömmling der Natur zu sein, ganz anders als seine Produkte, die planmäßig und zweckmäßig auf die Welt kämen. Lässt sich die prometheische Scham beobachten? Leicht zu erkennen sei sie nicht; da es ihr, wie jeder Scham, an Selbstüberzeugung fehle, äußere sie sich nicht aktiv, sondern versteckt und verkleidet, gar in der Flucht nach vorn: in der Selbstverdinglichung der Menschen, deren Identifikation mit den Maschinen. Durch Make-Up, Human Engineering und obstinate Tanzmusik versuchten sich die Menschen selbst »ins Reich des Hybriden und Artifiziellen hinüber« zu retten (ebd.: 38) und ihrer Scham zu entkommen. Sie hoffen in Hingabe an die Technik ihre Makel los und in der Identifikation mit dem technischen Fortschritt fortschrittlicher zu werden – heutzutage so wie die selbsternannte »Cyberanthropologin« Amber Case: »Wir schaffen Roboter, Handys und andere technische Geräte nach unseren eigenen Bedürfnissen. Sie machen uns funktionaler, produktiver, einfach besser. Die Technik macht uns zu Supermenschen. Autos machen uns schneller, das Internet lässt uns umfassender denken und durch Netzwerke werden wir sozialer.«21

 

Als 1893 Engels nach 16 Jahren Exil nach Deutschland heimkehrte, schilderte er seinen Genossen seine Begeisterung: »Und da habe ich mich bei meiner Reise überzeugen können, wie großartig der Umschwung ist, der in den ökonomischen Verhältnissen Deutschlands stattgefunden hat. Vor einem Menschenalter war Deutschland ein ackerbauendes Land mit einer zu zwei Dritteln ländlichen Bevölkerung; heute ist es ein Industrieland ersten Ranges, und den ganzen Rhein entlang, von der holländischen bis zur Schweizer Grenze, habe ich nicht ein einziges Fleckchen gefunden, wo man sich umschauen kann, ohne Dampfschlote zu sehen.« (Engels 1893r: 413)

Auch eine solche Welt, bloß unter kommunistischen Vorzeichen, schildert Alexander Bogdanov, eine enigmatische Gestalt des russischen Kommunismus, in seinem Roman Der Rote Stern von 1908. Auf diesen Stern verschlägt es zu Beginn des Romans den Erdenmensch Leonid, ausgewählt, den Kommunismus kennenzulernen. Er besichtigt unter anderem das »Institut für Rechnungswesen«, das Rechenzentrum der Produktion. »Die schwarzen Mauern waren mit Reihen von glänzenden weißen Zeichen bedeckt; dies waren die statistischen Arbeitstabellen. Auf der einen mit Nummer eins bezeichneten stand: ›Der Maschinenbetrieb verfügt über einen Überschuß von 968.757 täglichen Arbeitsstunden, davon 11.325 Arbeitsstunden erfahrener Spezialisten. […]‹ Auf der Tabelle, die die Nummer zwei trug, war zu lesen: ›In den Konfektionsbetrieben ist ein Mangel von 392.685 täglichen Arbeitsstunden, davon 21.380 Arbeitsstunden erfahrener Mechaniker für die Spezialmaschinen und 7.852 Arbeitsstunden der Spezialisten für Organisation.‹« (Bogdanov 1908: 50) Während Leonid die Tabellen betrachtet, wird er von einem Bewohner des roten Sterns aufgeklärt: Das Institut habe an allen Produktionsstandorten Agenturen, die stündlich den Umsatz der Arbeitskraft und den Umsatz der Rohstoffe und Güter verzeichneten und an die Zentrale übermittelten. Sodann berechnete es den globalen Arbeitsbedarf und lenkte die Arbeitskräfte in all jene Produktionszweige, wo Arbeit anstehe. Das sei schon die höhere Phase des Kommunismus. Früher, in der ersten Phase, habe allgemeine Arbeitspflicht geherrscht. Doch mit der Zeit hätten Erfindungen den Produktionsprozess mehr und mehr erleichtert, Maschinen unliebsame Arbeiten übernommen, den Arbeitstag verkürzt und die Arbeitspflicht hinfällig gemacht. Leonid zeigt sich besonders angetan von der allgegenwärtigen Kraft der Elektrizität und lernt auf seiner Reise den technischen Fortschritt kennen: gewaltige Maschinen, Fluggeräte, optische Apparate (zum skypen, wie man heute sagen würde) und Bluttransfusionen, die das Leben verlängern. Soweit scheint der Kommunismus auf dem roten Stern ein voller Erfolg zu sein. Doch in dem Roman herrscht kalte Grundstimmung. Anfangs hat der Leser noch das Gefühl, als müsse er sich mit Leonid noch an die Umgebung gewöhnen. Doch die Stimmung will sich nicht aufhellen: Das rötliche Licht auf dem Stern, die Gleichheit seiner Bewohner, deren Tatkraft, Nüchternheit und Wissenschaftlichkeit, deren Geschlechts- und Lieblosigkeit, die schwarzen Wände und Zahlentabellen im Institut, die geometrischen Formen der Gebäude und die »gigantischen Fabriken mit schauerlich schönen Maschinen« (ebd.: 63). Leonid wird seelenkrank und kommt in eine Klinik. Dort verliebt er sich in seine Ärztin Netti, die er anfangs für einen Arzt hält. Doch kaum beginnt es auf dem Roten Stern zu menscheln, muss Netti zu einer Expedition auf die Venus aufbrechen. Ihr Fachwissen ist gefordert. Leonid bekommt erklärt, warum diese Expedition notwendig ist: »In der letzten Epoche der Geschichte haben wir die Ausbeutung unseres Planeten um das zehnfache erhöht, unsere Bevölkerung wächst an und noch weit mehr steigern sich unsere Bedürfnisse. Schon mehr als einmal bedrohte uns auf dem einen oder anderen Arbeitsfeld die Erschöpfung der Naturkräfte und Mittel.« (ebd.: 65) Die Wälder auf dem Roten Stern seien schon abgeholzt, seine Landschaft verunstaltet, die Luft verschmutzt und das Klima durcheinandergebracht. Leonid will daraufhin von den Bewohnern wissen, warum es nicht möglich sei, den Produktionsprozess zur Ruhe kommen zu lassen und das Erreichte glücklich und zufrieden zu genießen, woraufhin sie seine Unerfahrenheit und Naivität belächeln. In der Ruhe lasse sich Glück doch gar nicht finden. Von wegen: Auf dem Wasser liegen und in den Himmel schauen. Als Adorno sich ein solches Glück ausmalte, hatte er womöglich Nettis schlechtes Beispiel vor Augen. »Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.« (Adorno 1951: Aph. 100)

Bogdanov illustriert in seinem Roman, wiewohl und weil er Industrialisierung und kommunistische Planwirtschaft guthieß, die Entfesselung der Produktivkräfte und die Beherrschung der Natur mit allen Konsequenzen, auch den negativen. Eine Mischung aus Utopie und Dystopie. Doch Günter Maschkes Nachwort der deutschen Ausgabe von 1972 zeigt, wie der Roman auch als reine Utopie missverstanden werden kann. Als würde Bogdanov im roten Stern den Fixstern des Kommunismus darstellen und die Ruhelosigkeit der Marsmenschen und den Raubbau an der Natur gutheißen. So liest Maschke den Roman und hebt sofort den Zeigefinger: »Versöhnung zu denken, ist Bogdanov, dem Propheten der Kooperation und Automation, verwehrt; er vermag das Verhältnis von Natur und Gesellschaft nur als Kampf, Ausbeutung, permanenten Krieg anzusehen – seine Definition der Technik bleibt bürgerlich.« (Maschke 1972: 137) Im Wissen um Bogdanovs Roter-Planet-artigen Lebenslauf und Tod kommt diese Lesart nicht von ungefähr. Der Kommunist Bogdanov war nicht nur Romancier, sondern hatte auch eine Theorie der Planung verfasst, sich als Tüftler und Forscher probiert und mit Bluttransfusionen experimentiert. Was Letztere betrifft, versuchte er deren lebensverlängernde Wirkung zu beweisen und ist dabei 1928 in einem Selbstversuch gestorben.

In seinem Eifer für den Kommunismus, seiner Hoffnung auf die Produktivkräfte und seinem Kampf gegen die Maschinenstürmer übersieht Marx einen Tatbestand, den er selber untersucht und auf zweihundert Seiten beschrieben hat: die reelle Subsumtion der Produktion unter das Kapital und die damit einhergehende Transformation der Produktionsbedingungen und -abläufe (Marx 1872k: 331–530). Diese zweihundert Seiten legen eigentlich den Schluss nahe, dass der Gebrauchswert der Industrie (und überhaupt der Produktivkräfte) von den Verhältnissen, in denen er entstand, kontaminiert ist. Abseits der Öffentlichkeit, in einem Manuskript, zieht Marx diesen Schluss auch: »In der Maschine und noch mehr in der Maschinerie als einem automatischen System ist das Arbeitsmittel verwandelt seinem Gebrauchswert nach, d. h. seinem stofflichen Dasein nach in eine dem Capital fixe und dem Kapital überhaupt adäquate Existenz und die Form, in der es als unmittelbares Arbeitsmittel in den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen wurde, in eine durch das Kapital selbst gesetzte und ihm entsprechende Form aufgehoben. Die Maschine erscheint in keiner Beziehung als Arbeitsmittel des einzelnen Arbeiters. Ihre differentia specifica ist keineswegs, wie beim Arbeitsmittel, die Tätigkeit des Arbeiters auf das Objekt zu vermitteln; sondern diese Tätigkeit ist vielmehr so gesetzt, daß sie nur noch die Arbeit der Maschine, ihre Aktion auf das Rohmaterial vermittelt — überwacht und sie vor Störungen bewahrt. Nicht wie beim Instrument, das der Arbeiter als Organ mit seinem eignen Geschick und Tätigkeit beseelt und dessen Handhabung daher von seiner Virtuosität abhängt. Sondern die Maschine, die für den Arbeiter Geschick und Kraft besitzt, ist selbst der Virtuose, die ihre eigne Seele besitzt in den in ihr wirkenden mechanischen Gesetzen und zu ihrer beständigen Selbstbewegung, wie der Arbeiter Nahrungsmittel, so Kohlen, Öl etc. konsumiert (matières instrumentales). Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt. […] In der Maschinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der lebendigen Arbeit im Arbeitsprozeß selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der lebendigen Arbeit seiner Form nach ist. Das Aufnehmen des Arbeitsprozesses als bloßes Moment des Verwertungsprozesses des Kapitals ist auch der stofflichen Seite nach gesetzt durch die Verwandlung des Arbeitsmittels in Maschinerie und der lebendigen Arbeit in bloßes lebendiges Zubehör dieser Maschinerie; als Mittel ihrer Aktion.« (Marx 1857/58: 592 f.) Marx argumentiert hier nicht wie Anders; er analysiert die Maschine weiterhin als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse, jedoch konsequenter als er es sonst tut. Er drückt sich nicht um die Wahrheit herum, dass auch der Gebrauchswert, das stoffliche Dasein der Maschinerie, kapitalistisch entstanden und kapitalistisch ist. Solcher Gebrauchswert kann nicht einfach in den Kommunismus verpflanzt werden, aus der Pestquelle kapitalistischer Industrie kann im Kommunismus nicht plötzlich reinstes Wasser fließen. Das Fließband etwa könnte im Kommunismus vielleicht langsamer laufen, seine Eigenlogik – in Charlie Chaplins Modern Times treffend illustriert – aber bliebe: Die Menschen müssten sich ihr unterordnen und stumpfsinnigste Bewegungen in bleierner Monotonie ausführen.

Als einer der wenigen Marxisten hat Horst Friedrich, seinerzeit Hochschullehrer für Marxismus-Leninismus in der DDR, den oben zitierten Passus in den Marx’schen Manuskripten betont und daraus geschlossen, dass der Kommunismus nicht nur die Revolution der Eigentums- und Produktionsverhältnisse, sondern auch der Produktionsmittel erfordere (Friedrich 1981: 227 f.). Und was wäre in dieser Hinsicht heute nicht alles zu tun? Man denke etwa an die Zellen und Adern des kapitalistischen Produktionsorganismus, d. h. an die Fabriken und Bergwerke, in denen die Menschen schuften, und an das lärmende Straßennetz, in dem die Städte und Landschaften gefangen sind. Diese kapitalistische Industrie und Infrastruktur wären in der kommunistischen Gesellschaft nicht nur Erbe, sondern auch Bürde. Sie müssten umgestaltet werden. Was für ein Aufwand! Kommunisten wollen ihn in der Regel nicht wahrhaben. Sie, die sonst nie verlegen sind, sämtliche Übel des Kapitalismus aufzuzählen, erblicken in dessen Industrie und Technik naiv und frohgemut die Mitgift, die dem Kommunismus mit auf den Weg gegeben wird.22

Der Aufwand wäre selbst dann gewaltig, unterstellte man, der industrielle Organismus, wie ihn das Weltkapital geschaffen hat, sei nicht kontaminiert und könne in neuen Verhältnissen höheren Zwecken dienen. Denn dieser Organismus hat zwei Voraussetzungen: den Akkumulationstrieb des Kapitals und die Zufuhr großer Mengen Arbeitskraft. Das Kapital hat die menschliche Gesellschaft unvergleichlich unter Strom gesetzt und die Produktivkräfte gewaltig entfesselt. Wer sollte es halbwegs ersetzen und seine Produktivkräfte wach halten? Bevor es sich zum Prinzip der Produktion aufgeschwungen hatte, hatte die Entwicklung vom Rad bis zur Dampfmaschine Jahrtausende in Anspruch genommen. »In den vorkapitalistischen Gesellschaftsformationen existiert ja gar kein allgemeines, treibendes Motiv, die Produktivkräfte zu entwickeln […] Nur die Konkurrenz als ›stummer Zwang‹ (Marx) des warenproduzierenden Systems, entstanden und wirkend ›hinter dem Rücken‹ der Subjekte, konnte die Produktivkräfte derart in Bewegung setzen, wenn auch in schreienden Widersprüchen von Destruktion und Emanzipation.« (Kurz 1991: 84 f.) Unter der Ägide des Kapitals dauerte es von der Dampfmaschine bis zum Computer und zur Nanotechnologie dann nur noch drei Jahrhunderte. Eine Erfindung jagte die andere; auf die erste folgte die zweite und auf die zweite die dritte industrielle Revolution. Was würde mit dem kapitalistischen Produktionsorganismus geschehen, würde man ihm seine Lebensgier nehmen, d. h. den Akkumulationstrieb des Kapitals abschaffen? Wodurch könnte der Akkumulationstrieb des Kapitals ersetzt werden? – Es müsste ja nicht gleich die Hast der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung beibehalten werden, aber es müsste zumindest so viel Kontinuität gewahrt bleiben, dass der Organismus weiter produzierte: nicht unbedingt PKW und Smartphones, aber unbedingt die Nahrungsmittel, Wohnstätten, Kleider und Arzneien für sieben Milliarden Menschen (samt der Produktionsmittel, die zur Produktion dieser Güter notwendig sind). Was würde mit dem komplexen Produktionsorganismus ohne die Zufuhr gewaltiger Mengen Arbeitskraft geschehen? Er verschlingt, um sich daran zu weiden, tagtäglich die Energien und Lebenskräfte von Milliarden schwerstarbeitender Lohnarbeiter. Welchem Arbeiter wäre es zu verübeln, bliebe er nach der Revolution zuhause, statt sich morgens in den Berufsverkehr Richtung Fabrik zu stürzen, um darin einen weiteren Tag zwischen Stahl und Lärm mit monotonen Tätigkeiten zu verbringen? Blieben zu viele Arbeiter am Morgen nach der Weltrevolution im Bett, würden der globale Produktionsorganismus kollabieren und die Supermarktregale Tag für Tag leerer werden.

 

Arbeitsscheine in der ersten Phase: Notwendigkeit, Funktion, Konsequenz

Angenommen, der Produktionsorganismus würde nicht kollabieren, sondern wachsen, stellte sich immer noch die Frage, inwieweit das Leistungsprinzip abgeschafft und das höhere Prinzip des Kommunismus in Kraft treten könnte. Hatte doch Marx an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass da »immer ein Reich der Notwendigkeit« bleiben würde, »in allen Gesellschaftsformen und unter allen Produktionsweisen«, und es nur darum gehen könne, dieses Reich so »rationell« wie möglich zu bewältigen (Marx 1894: 828). Bliebe ein solches Reich der Notwendigkeit bestehen, so blieben höchstwahrscheinlich auch Arbeiten übrig, um die sich niemand reißen würde. Darauf, wie diese Arbeiten gerecht verteilt werden könnten, gibt das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« keine Antwort. Bei Lichte betrachtet erweist es sich als außerökonomisches Prinzip, als eins, das im Reich der Notwendigkeit nicht weiterhilft, als auf das Reich der Freiheit zu verweisen. Zur Bewältigung des Reichs der Notwendigkeit vermag Marx kein besseres ökonomisches Prinzip anzugeben als das der Äquivalenz, das Prinzip der Tauschgerechtigkeit: Jedem nach seiner Leistung. Die Arbeitsscheine, wie sie Marx im Sinne hat, sollen dafür sorgen, dass es bestmöglich gilt.

Glücklich war Marx mit den Arbeitsscheinen nicht. Im ersten Band seines ökonomischen Hauptwerks deutet er sie erstmals, aber nur halbherzig an: »Nur zur Parallele mit der Warenproduktion setzen wir voraus, der Anteil jedes Produzenten an den Lebensmitteln sei [im Verein freier Menschen, H. G. F.] bestimmt durch seine Arbeitszeit.« (Marx 1872k: 93) Nur zur Parallele? Im zweiten Band bringt er abermals die Arbeitsscheine als zukünftige Instrumente ins Spiel, und wieder lässt er seinen Unmut durchblicken: »Die Produzenten mögen meinetwegen papierne Anweisungen erhalten, wofür sie den gesellschaftlichen Konsumtionsvorräten ein ihrer Arbeitszeit entsprechendes Quantum entziehn.« (Marx 1885: 358) Meinetwegen? In der Kritik des Gothaer Programms schließlich steht er dann unumwunden zum Einsatz der Arbeitsscheine – gefolgt von seinen Ausführungen, warum und wie der Einsatz dieser Zertifikate schließlich selbst ein Ende finden müsse.

Es mag nun den Anschein haben, als handele sich die kommunistische Gesellschaft in ihrer ersten Phase Geld und Waren wieder ein. Dass die Arbeitsscheine am Ende doch auch nur Geld seien, ist auch unter Marxisten keine seltene Behauptung, entweder als Vorwurf (Elbe 2001) an Marx gerichtet oder zwecks Rechtfertigung (S. Varga 1957: 239 u. Kosta 1984: 28) des Geldes im Sozialismus. Marx war anderer Auffassung. Im Gegensatz zu den Stundenzetteln in den Visionen von John Grey (1798–1850) und Pierre Joseph Proudhon (1809–1865), die die Warenwirtschaft fortbestehen lassen wollen, wären die Arbeitsscheine, so Marx, auf der Grundlage einer geplanten gesamtgesellschaftlichen Produktion kein Geld.

Die Frage, was Geld sei, behandelt Marx ausgehend vom Tausch zweier Waren. Würden zwanzig Ellen Leinwand gegen einen Rock getauscht, so stehe zur Debatte, auf welcher Grundlage ihr Verhältnis zustande komme. Marx’ Erklärung: Die beiden Waren würden als »Ausdrücke derselben Einheit« getauscht (Marx 1872k: 64). Die Einheit sei der Wert, dessen Substanz die allgemein gesellschaftliche Arbeit. Diese aber, obgleich sie Marx dem Tausch zweier Waren vorerst unterstellt, kann aus diesem noch nicht hergeleitet werden. Denn die Abstraktion von Schneiderei und Weberei ergibt noch nicht allgemein gesellschaftliche Arbeit. Selbst wenn an den verschiedensten Orten immer wieder andere Waren getauscht würden und der Kreis sich am Ende schlösse: Autos gegen Schuhe, Schuhe gegen Bücher und Bücher gegen Autos, bliebe die Abstraktion auf den jeweiligen Tausch und die jeweiligen Arbeiten beschränkt. Damit sich die allgemein gesellschaftliche Arbeit als allen Arbeiten Gemeinsames und als Substanz des Wertes herausbilden könne, sei eine »einheitliche Erscheinungsform« (ebd.: 79) vonnöten, »die sichtbare Inkarnation, die allgemeine gesellschaftliche Verpuppung aller menschlichen Arbeit« (ebd.: 81). Eine solche Inkarnation müsse aber selber die Verkörperung von Arbeit, selber eine Ware sein. Sonst könnten sich die anderen Waren nicht zu ihr ins Verhältnis setzen. Schließlich sei die Produktion in der kapitalistischen Gesellschaft atomisiert; ihr allgemein gesellschaftlicher Charakter könne sich nur im Tausch darstellen, also im Warentausch. Außer den Waren gibt es nichts auf dem Markt; es ist keine Instanz auszumachen, die den Wert der Güter ausrechnen und ihn auf die Preisschilder schreiben würde. Angesicht von Banknoten, die an sich nur das Papier wert sind, aus dem sie bestehen, wirkt die Behauptung, dass das Geld im Grunde eine »besondre Ware neben andren Waren« (Marx 1894: 621) sei, nicht selbstverständlich. Doch die Banknoten, so Marx, stünden nicht für sich, sondern verwiesen als Geldzeichen auf tatsächliches Geld, d. h. die Geldware, die vorwiegend in Gestalt von Gold in den Kellern der Banken lagere. Wenn Banken und Staat zu viel Papier zu Wert stempelten, das keinen solchen repräsentiere, so würde sich dieser Mangel früher oder später in Krisen offenbaren: im Wertverfall der Geldzeichen (Marx 1859ö: 98).

Historisch – aber ihrer Handlichkeit und Haltbarkeit wegen nicht zufällig – hätten sich die Edelmetalle, insbesondere das Gold, zur Geldware und damit zum Geld gemausert. In diesem wird die Verausgabung derjenigen Kraft, die der Schöpfung von Gebrauchswerten dient, als Essenz aller verschiedenen gesellschaftlichen Arbeiten in unbewusster Form erfasst. Sobald über die Grenzen der Gemeinwesen hinweg getauscht wird, wird die Arbeit über die Grenzen hinweg geteilt. Im entgrenzten Tauschhandel setzt jedes Gemeinwesen einen Teil der eigenen Arbeitskraft ein, um andere Gemeinwesen mit bestimmten Gütern zu versorgen und im Austausch Güter zu erhalten, die in anderen Gemeinwesen produziert wurden. Aus den isolierten Produktionszusammenhängen entsteht ein globaler Produktionszusammenhang, worin die verschiedenen Arbeitskräfte eine globale Arbeitskraft ergeben. Deren Verausgabung und Verteilung wird über den Weltmarkt organisiert und durch das Geld, genauer das Weltgeld dargestellt, welches »leibhaftes Gold und Silber« sei (Marx 1872k: 159): »Erst auf dem Weltmarkt funktioniert das Geld in vollem Umfang als die Ware, deren Naturalform zugleich unmittelbar gesellschaftliche Verwirklichungsform der menschlichen Arbeit in abstracto ist. Seine Daseinsweise wird seinem Begriff adäquat« (ebd.: 156).23 Im Jargon des jungen Marx (Marx 1844m: 565) ließe sich auch sagen: Als Weltgeld ist das Geld das entäußerte Vermögen der ganzen Menschheit. Dass dieses Weltgeld Ware sein müsse, leuchtet besonders für frühere Zeiten ein: Was hätte ein Chinese, der im 3. Jahrhundert n. Chr. seine Seide mit einem alten Römer tauscht, mit einer papiernen altrömischen Banknote, hätte es diese damals gegeben, anfangen sollen. »Bringe Papiergeld in ein Land, wo man diesen Gebrauch des Papiers nicht kennt und jeder wird lachen über deine subjektive Vorstellung.« (Marx 1839: 371) Natürlich will der weitgereiste Händler etwas in die Hand, klingende Münzen und keine »Papierlappen« (Marx 1859ö: 98).

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