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Erste und höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft

Relativ ausführlich, verglichen mit seinen anderen Schriften, stellt Marx seine Vorstellung der kommunistischen Gesellschaft in der Kritik des Gothaer Programms vor, einer Schrift von 1875. Die kommunistische Gesellschaft, so behauptet Marx darin, untergliedere sich in zwei Phasen, nämlich in die erste Phase und die höhere Phase.16 Beide Phasen, so hatte Marx schon in der Kritik der Politischen Ökonomie angedeutet, würden sich durch die Art und Weise der Verteilung der Konsumgüter und den Entwicklungsstand der Produktivkräfte unterscheiden (Marx 1872k: 93).

Schon in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft werden das Privateigentum an den Produktionsmitteln und mit ihm auch Ware, Geld, Kapital und Markt abgeschafft sein. »Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebensowenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einen Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren.« (Marx 1875: 19 f.). Die Gesamtarbeit aller würde bewusst organisiert und die Konsumtion durch den Tausch geregelt werden. Jeder Produzent, so Marx, erhielte »von der Gesellschaft einen Schein« (ebd.: 20), worauf verzeichnet sei, welche Arbeitsleistung er erbracht habe. Mit diesen Zertifikaten könne sich der Produzent einen entsprechenden Anteil der Lebensmittel aus den Güterdepots herausziehen. Wenngleich also der Tausch zwischen den Produzenten abgeschafft wäre, würde weiterhin getauscht: Arbeit gegen Konsumgüter. Dieser Tausch würde, nachdem ihn die kapitalistische Gesellschaft nur suggeriert hatte, erstmals tatsächlich stattfinden. In der kapitalistischen Gesellschaft nämlich gelte der Tausch von Arbeit und Produkten nur zwischen den Warenproduzenten, sprich: den Kapitalisten. Hingegen auf dem sogenannten Arbeitsmarkt scheine es nur so, als tauschten die Arbeiter ihre Arbeit gegen Lohn. In Wahrheit verkauften die Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt nicht ihre Arbeit, sondern gleich ihre Arbeitskraft. Und sie hätten gar keine andere Wahl, weil ihre Arbeitskraft ohne die Produktionsmittel, über die der Kapitalist verfüge, zu nichts zu gebrauchen sei. Der angebliche Tausch von Arbeit und Lohn sei gar keiner. Denn das Verhältnis von Arbeitern, die über keine Produktionsmittel verfügten, und Kapitalisten, die darüber verfügten, sei ein Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis und kein Verhältnis von gleichberechtigten Tauschpartnern bzw. gleichgestellten Bürgern, als die Arbeiter wie Kapitalisten de jure gelten. Sobald ein Arbeiter seine Arbeitskraft an den Kapitalisten verkauft habe, gehöre diese dem Kapitalisten samt den Waren, die durch die Verausgabung der Arbeitskraft produziert würden. Was der Kapitalist dem Arbeiter für dessen Arbeitskraft gebe, sei nicht der Lohn für deren Verausgabung, sondern so viel, dass der Arbeiter sich und seine Arbeitskraft reproduzieren und keinen besser zahlenden Kapitalisten finden könne. Nach der Revolution aber, in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wenn die Produktionsmittel vergesellschaftet und damit die Klassen abgeschafft wären, würde das Prinzip des Tausches auch in der Entlohnung der Arbeitsleistung gelten und mit ihm das Prinzip des Rechts, wonach alle Menschen am gleichen Maßstab zu messen sind. Jeder Arbeiter bekäme in Form der Arbeitsscheine und der Güter, die er sich damit aus den Güterdepots holen könne, ein tatsächliches Äquivalent für seine geleistete Arbeit: »Es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern Form ausgetauscht. Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht, obgleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen« (ebd.: 20).

Marx zählt die Arbeitsscheine zu den »Muttermalen« (ebd.) des kapitalistischen Systems, gegen die, wie es scheint, noch kein Kraut gewachsen ist. Marx weiß um das erste Naturgesetz proportionaler Produktion: dass eine Gesellschaft nur das konsumieren kann, was sie produziert hat. Mit anderen Worten: In der Summe können alle Einzelnen nur so viel konsumieren, wie sie in der Summe produziert haben. Wenn nun ein Teil der Gesellschaft mehr konsumiert, als er produziert hat, muss ein anderer Teil der Gesellschaft weniger konsumieren, als er produziert hat. Eingedenk dieser Tatsachen gerät Marx’ Appell für Gerechtigkeit zuweilen ebenso engherzig wie die Gesetze auf Morus’ Utopia oder in Winstanleys Gütergemeinschaft: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (Marx 1867: 193). Offenbar sieht Marx in den Arbeitsscheinen das bestmögliche Instrument, um die Befolgung dieses Naturgesetzes zu garantieren. Wenn jedem Einzelnen nur so viel Reichtum zugestanden wird, wie er selber Reichtum produziert hat, kann in der Summe nicht mehr Reichtum konsumiert werden, als durch die Mitglieder der Gesellschaft produziert worden ist.

Um aber den Reichtum, den jeder produziert hat und konsumieren darf, ermessen zu können, müsse die »Arbeitszeit« als Maß dienen: »als Maß des individuell verzehrbaren Anteils des Produzenten an der Gemeinarbeit und daher auch an dem individuell verzehrbaren Teil des Gemeinprodukts« (Marx 1872k: 93). Dieses Maß könne aber nicht die individuelle Arbeitszeit sein. Sonst könnte sich ja, wer besonders lange arbeite, gleichviel wie viel er dabei produzierte, besonders umfangreich am gesellschaftlichen Gütervorrat bereichern. Wenn schon, denn schon: Die »Arbeit, um als Maß zu dienen, muß der Ausdehnung oder Intensität nach bestimmt werden« (Marx 1875: 21). Das hieße, dass alle Arbeiten, ob Holz hacken oder Herz operieren, als allgemeine Arbeit ausgedrückt werden müssten, um alle Produzenten mit der gleichen Sorte von Arbeitsscheinen entlohnen zu können. Damit diese Scheine ihren Sinn erfüllten, müssten schließlich auch die Güter in den Güterdepots auf den gleichen Nenner gebracht werden: »Die Gesellschaft«, so schreibt Engels im Anti-Dühring, einer politischen Kampfschrift, an der Marx mitgearbeitet hat, »kann einfach berechnen, wieviel Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken.« (Engels 1878: 288)

Marx selber findet nicht viel Gefallen an der von ihm dargestellten ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft. Denn das Prinzip der Arbeitsscheine, die Gerechtigkeit des Tausches von Arbeitsleistungen, hat eine ungerechte Kehrseite: Die Arbeiter werden nur unter dem Gesichtspunkt ihrer Arbeitsleistung betrachtet, während ihre Bedürftigkeit keine Berücksichtigung findet. »Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc.« (Marx 1875: 21) Daher müsse auch die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft noch überwunden werden. »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft […] kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (ebd.) Dann würde das Individuum nicht mehr anhand des Maßstabs seiner Arbeitsleistung bemessen und nicht mehr allein unter diesem Gesichtspunkt seiner Arbeitsleistung gefasst, sondern es selbst lieferte dann den Maßstab für das, was es bekäme und gäbe.

Exkurs I: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!

Pippi Langstrumpfs Vater ist ein »Negerkönig«. In den Neuveröffentlichungen der Pippi-Langstrumpf-Bücher wurde das Wort »Negerkönig« durch das Wort »Südseekönig« ersetzt. An den gesellschaftlichen Verhältnissen in den Romanen hat sich damit wenig geändert: Die Königstochter lebt von Reichtümern, die sie der Herrschaft ihres Vaters über die Bodenschätze und Untertanen seiner Insel verdankt. Pippi macht, was ihr gefällt; jedoch beruht ihre Freiheit auf Ausbeutung. Genauso wie die Freiheit in der »Abtei Thelema« in François Rabelais’ Roman Gargantua und Pantagruel. Die Abtei stellt das Gegenteil der üblichen Klöster dar. Die einzige Ordensregel lautet: »TU, WAS DIR GEFÄLLT!« (Rabelais 1553: 180) Die Bewohner stehen auf, wann sie wollen, essen und trinken, wenn sie Appetit haben, und arbeiten oder schlafen, wie es ihnen passt. Sie wohnen in schönen Gemächern, besuchen die Büchereien, Lustgärten und Badehäuser der Abtei, werden nicht nach Geschlechtern getrennt, achten sehr auf ihre Kleidung und genießen auf Festen miteinander. Während Rabelais das Leben in der Abtei in bunten, kräftigen Farben schildert, beantwortet er die Frage der Bewirtschaftung der Abtei beiläufig: Jene, die den Saus und Braus der Abteibewohner ermöglichen, wohnen und arbeiten in einem riesigen Gebäude »außen am Park von Thelema« (ebd.: 179). Sie dienen dem schönen Leben und bleiben davon ausgeschlossen.

Zu leben, wie es einem gefällt, ist ein Wunschtraum vieler Menschen. Mitmenschlich und sozial ist er dann, wenn er die Ausbeutung anderer Menschen aus- und alle Menschen einschließt. Die Frage ist, inwieweit dieser Traum in das Idealbild der höheren Phase des Kommunismus eingeflossen ist. »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Besonders der erste Halbsatz lässt sich unterschiedlich auslegen.17 »Jeder nach seinen Fähigkeiten«, das kann entweder heißen: Jeder arbeite, was er will und wie es ihm liegt! Das kann aber auch heißen, und zwar im Sinne von Platon (Politeia 433) und damit im Sinne eines gemeinschaftlichen Funktionszusammenhanges: Jeder soll seinen Platz im Produktionsprozess einnehmen und seinen Teil zum Ganzen beitragen; jeder soll das Seine tun! In diesem Sinne hat es die offizielle DDR-Philosophie zumeist ausgelegt: »Die Verwirklichung des Prinzips ›Jeder nach seinen Fähigkeiten‹ ist eine große Errungenschaft für das Individuum, einer der wesentlichen Vorzüge des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Dieser Vorzug erschöpft sich nicht darin, daß der einzelne seine Fähigkeiten entfalten kann, sondern daß die Gesellschaft mit zwingender Notwendigkeit darauf bestehen kann, daß er dies tut. Jeder ist verpflichtet, seine Kräfte anzuspannen, um zur Entwicklung der Gemeinschaft und der Gesellschaft beizutragen.« (Stiehler 1978: 133)

 

Sinngemäß war das kommunistische Leitmotiv schon Mitte des 18. Jahrhunderts formuliert worden, und zwar von Étienne-Gabriel Morelly, einem in ärmlichen Verhältnissen lebendem Lehrer, der seine Bücher anonym veröffentlicht hat und erst nach seinem Tod als ihr Urheber ausgemacht werden konnte. Morelly zufolge bestünde der ideale Zustand darin, dass jeder seinen Nutzen zum Gemeinwesen beitrage und sich gemäß seinen Bedürfnissen aus dem gemeinschaftlichen Gütervorrat bediene, ohne dass von ihm eine Gegenleistung erwartet werden würde. Wie aber sollte der angestrebte Zustand verwirklicht werden? Ganz einfach! Es handele sich nicht um eine Utopie, sondern um einen Zustand, der durch den Sündenfall des Eigentums abhandengekommen sei und wiederhergestellt werden müsse.

Den unverdorbenen Zustand schildert Morelly in seinem Roman Basiliade, dessen Helden, wie in so vielen Utopien, auf einer Insel leben – ohne Eigentum, gemäß der Schöpfung. »Die Absicht der Gottheit ist stets eindeutig: All ihre Gaben hat sie in ein und dieselbe Schatzkammer gelegt. Alle laufen herbei und bemühen sich, diese zu öffnen. Jeder schöpft aus ihr, je nach seinen Bedürfnissen, ohne sich darum zu kümmern, ob der eine mehr nimmt als der andere. Stillen Wanderer an einer Quelle ihren Durst, so werden sie nicht im geringsten neidisch, wenn ein anderer, von stärkerer Begierde geplagt, in langen Zügen mehrere Becher dieses erfrischenden Nasses hinunterstürzt. Soll der Zugang zu dieser köstlichen Quelle erweitert werden, so können mehrere Arme, wenn sie sich zusammentun, dies mühelos bewerkstelligen, und ihre Arbeit wird großzügig belohnt. Genauso verhält es sich mit den Gaben der Natur.« (Morelly 1753: 162) Zwei Jahre später versucht der Autor, einen solchen Zustand in einem weiteren Buch systematisch zu begründen und darzustellen. »Man kann also mit Seneca sagen: Quicquid nos meliores beatosque facturum est, natura in aperto aut in proximo posuit [Alles, wodurch wir besser und glücklicher werden können, hat uns die Natur offen oder sehr nahe gelegt]. Gerade in diesen Absichten also hat die Natur die Kräfte der ganzen Menschheit mit verschiedenen Verhältnissen unter alle Individuen der Gattung verteilt, aber sie hat ihnen ungeteilt das Eigentum des erzeugenden Feldes ihrer Gaben überlassen, allen und jedem die Benutzung der freien Geschenke. Die Welt ist ein für alle Gäste hinlänglich versehener Tisch, dessen Gerichte bald allen gehören, weil alle Hunger haben, bald nur einigen, weil die anderen gesättigt sind […] Alles ist angepaßt, alles gewogen, alles vorhergesehen in dem wundersamen Automat der Gesellschaft« (Morelly 1755: 92–94). Plötzlich aber, wie in den Romanen Morus’ und Campanellas, bekommt der ersehnte Zustand repressive Züge. In den verschiedenen Berufsständen werden Berufsuniformen getragen, die Erziehung der Kinder ist nicht frei, sondern wird allgemeinverbindlich geregelt, die Städte sind planmäßig eingerichtet und vor allem sauber, Gesetze und Strafen sorgen für ein geordnetes Zusammenleben. Der Besitz von Privateigentum wird mit lebenslanger Gefangenschaft in einer Höhle geahndet. Dass der prädestinierte, natürliche Zustand in dem späteren Werk repressive Züge annimmt, ist der von Eigentum befleckten und von Mangel gekennzeichneten Realität geschuldet. Während der ursprüngliche Zustand in dem Roman auf einer unverdorbenen, fruchtbaren Insel präsentiert wird, muss er, wie es das zweite Werk zeigen will, in der verdorbenen Geschichte erst wieder zur Geltung gebracht werden. Die Vorsehung muss erst wieder durchgesetzt, der »wundersame Automat der Gesellschaft« wieder in Ordnung gebracht werden, um die Quellen der Natur wieder zum Sprießen zu bringen. Und in Ordnung käme der Automat, wie Morelly zu verstehen gibt, erst dann, wenn seine Teile wieder wie vorgesehen funktionierten. Die Einzelnen müssten der Vorsehung gehorchen. »Jeder nach seinen Fähigkeiten!« Jeder soll das Seine tun! Gott, so Morelly, habe jedem Einzelnen bestimmte Fähigkeiten in die Wiege gelegt, und zwar nicht beliebig, sondern wohlweislich. Kombiniert würden diese Fähigkeiten der Natur alle nötigen Gaben entlocken können. So erinnert das Bild vom »wundersamen Automaten der Gesellschaft« letztlich an jenes Bild vom Organismus, welches der Frühsozialist Dézamy zur Beschreibung der sozialistischen Gesellschaft verwandt hat: Die Organe sollen gefälligst ihre Funktion erfüllen.

Wie Morelly in seinem Roman spricht auch Charles Fourier von einem Zustand der Erlösung von Zwang, Herrschaft und Hunger. Für alle könne zukünftig genügend Reichtum zur Verfügung stehen und niemand bräuchte mehr zur Arbeit gezwungen werden – würde »die Arbeit so viel Reiz bieten wie heute unsere Festlichkeiten und Schauspiele« (Fourier 1829: 192). Arbeit sollte kein Fluch mehr sein, sondern attraktiv werden, nicht etwa ihres Lohnes, sondern ihrer Art und Weise wegen. Mit dieser Zukunftsutopie richtete er sich zugleich gegen die Saint-Simonisten, die zur gleichen Zeit wie er in Frankreich wirkten, und ihr Prinzip: »Jedem nach seiner Leistung!«

In Frankreich selber blieb Fourier einsam und unbeachtet. Seinen Lebensabend verbrachte er in einem bescheidenen Zimmer inmitten zahlloser Zimmerpflanzen, die er hegte und pflegte. Aber in den 1840er Jahren, ein reichliches Jahrzehnt nach seinem Ableben, fanden seine Ideen plötzlich in den USA zigtausende Anhänger und Widerhall in den größten Zeitschriften. Ein Bericht von Albert Brisbane, des Gründers der amerikanischen Fourierist Society, gibt einen Eindruck von der Begeisterung: »Jetzt zum ersten Mal war ich auf eine Idee gestoßen, der ich früher nie begegnet war – auf die Idee, die menschliche Handarbeit zu ›veredeln‹ und ›anziehend‹ zu machen, die bisher als eine göttliche, dem Menschen auferlegte Strafe betrachtet worden war. In diese Sphäre erniedrigender mühsamer Arbeit – das öde Los der Massen, die den Menschen mit ihrem prosaischen, lähmenden, ertötenden Einfluß zu überwältigen schien, den Gedanken der Anziehung einzuführen, diese Art der Arbeit zu erheben, ihr Würde zu verleihen – das war in der Tat eine gewaltige Revolution.« (zit. n. Hillquit 1903d: 73 f.) Brisbane hofft und bangt, die Massen mögen von ihrem öden Los befreit werden, indem dieses zu ihrem Glückslos würde. In diesem Punkt, so warnt Ludwig von Mises, würden sich die Sozialisten kräftig in die Taschen lügen: »Ex definitione kann Arbeit nicht unmittelbar Lust bereiten, da doch allgemein Arbeit gerade das genannt wird, was unmittelbar keine Lustgefühle bereitet und eben nur darum geleistet wird, weil mittelbar durch den Arbeitsertrag Lustgefühle erzeugt werden, die jene primären Unlustgefühle aufwiegen.« (Mises 1932: 147) Aber vielleicht hatte Fourier ja den Stein der Weisen gefunden, durch den die Arbeit in ein Fest verwandelt werden könnte?

Die Produktion, so Fourier, müsste grundlegend umorganisiert werden. Die Werkstätten und Arbeitsorte werden in der freien Assoziation nicht mehr eng und stickig sein, sondern gemütlich und festlich, zwischen den Arbeitsstätten und Wohnstätten wird es überdachte Spazierwege geben. Da Langweile eines der schlimmsten Übel sei, werden die Arbeiten nicht länger als zwei Stunden dauern und alternierend ausgeführt. Das bedeutet natürlich, dass jeder Bürger in der freien Assoziation mehrere Tätigkeiten beherrschen müsse. Darin sieht Fourier ganz und gar kein Problem und führt das Beispiel eines Kindes vor Augen, dem man eine Miniaturwerkstatt zur Verfügung stelle. Augenblicklich beginne das Kind zu zimmern, zu tischlern, zu schmieden, zu drehen usw. Zwanzig oder gar vierzig Tätigkeiten beherrsche jeder Mensch. Bloß blieben all seine Möglichkeiten in der auf Konkurrenz und Isolation gründenden Gesellschaft verschüttet (wie zudem das Potenzial eines jeden Menschen auf wissenschaftlichem und künstlerischem Gebiete). In der freien Assoziation könnte sich der Mensch endlich in vielen Tätigkeiten entfalten. Um noch mehr Freude zu bereiten, würden die Tätigkeiten in Gruppen ausgeführt. Und des Arbeitseifers und der Produktivität wegen würden die Gruppen miteinander konkurrieren. Nicht so wie in der bürgerlichen Konkurrenz, sondern im Sinne einer sozialen Konkurrenz: Einerseits käme jedes Arbeitsergebnis der ganzen Assoziation zugute, andererseits kämpften die Gruppen gegeneinander um Ruhm und Anerkennung – und zwar nicht zu knapp: Zwischen den Gruppen gebe es »Kämpfe« und ein »abwechslungsreiches Intrigenspiel von Bündnissen und Rivalitäten« (Fourier 1808: 365). Für gute, aber auch schlechte Arbeitsleistungen erhielten die Gruppen entsprechende Würdigungen in Form von Urkunden. Letztlich solle der unpersönliche und spielerische Charakter trotz allen Wettkampfs aber immer gewahrt bleiben, wofür auch insbesondere die Tatsache sorge, dass die Arbeiten und Gruppen beständig wechselten. Die Zusammensetzung der Gruppen sei eine Wissenschaft für sich. Die Mischung müsse stimmen. Langweilige Harmonie schwebt Fourier nicht vor. Die Charaktere und Leidenschaften müssten in einer Gruppe so zusammenfinden, dass sie sich gegenseitig entfachten, aufschaukelten und ergänzten. Das Gemisch dürfe nicht in die Luft fliegen, müsse aber brodeln. Jeder einzelne Bestandteil darin solle in Wallung sein, um zur Hochform aufzulaufen.

Fourier liebte es, den erwünschten Zustand auszumalen. Indes wirken seine Bilder nicht wie Ikonen, sondern eher wie Lieblingsbilder aus dem Zeichenblock eines Kindes – immer könnten neue dazukommen, beispielsweise seine Skizzen einer zukünftigen Armee. Zu dieser wolle dereinst jeder, aber nur den Schönsten und Besten, Männern wie Frauen, würde Einlass gewährt. Ungeheure romantische Genüsse warteten dort, garantiert durch Feste mit ausgeklügelten Zeremonien, an deren Ende keiner einsam zu Bett ginge. Tagsüber würde dann die ungeheure Kraft, die in der Vergangenheit in Kriege verschleudert worden sei, in Feldzüge investiert, auf jedem von diesen werde die Armee »dreißig Brücken über Flüsse schlagen, dreißig verkargste Berge mit Erde bedecken, dreißig Bewässerungsgräben ausheben und dreißig Sümpfe trocken legen« (ebd.: 242). Solche Arbeitsleistungen klingen gewaltig, sie überflügeln noch jene, die die kapitalistische Epoche zuwege gebracht hat. Und tatsächlich hat es den Anschein, als wolle Fourier den Akkumulationstrieb des Kapitals, der in der Menschheit ungeheure Arbeitsleistungen freigesetzt hat, buchstäblich humanisieren – der Trieb solle kein ökonomischer Zwang mehr sein, sondern von Herzen kommen, aus vollster Leidenschaft. Fourier, der jeden Zwang ablehnt und auf die Schöpfung vertraut, konnte auf keinen anderen Antrieb als diesen inneren kommen. Denn jeder äußere Antrieb, der es nur annähernd mit dem Akkumulationstrieb des Kapitals aufnehmen könnte, stünde doch sofort und zurecht unter Verdacht, ein Zwang zu sein. Er hoffte auf die Fortführung der Entfesselung der Produktivkräfte durch die Befreiung der menschlichen Leidenschaften von ihren Ketten. Sie sollten anstelle des Akkumulationstriebs des Kapitals treten; daher Fouriers eigenwillige Utopie der Leidenschaften.

»Die Moralisten«, darunter auch Platon, würden »die Leidenschaften zügeln und unterdrücken, die sie nicht befriedigen können« (ebd.: 124). Doch in den richtigen Verhältnissen wäre das, was heute als Not erscheint, eine Tugend: »Die Heftigkeit unserer Leidenschaften, über die wir uns beklagen, verbürgt unser zukünftiges Glück.« (ebd.: 148) All unsere Leidenschaften seien im Grunde gut, Hass und Habgier so gut wie Liebe und Freundschaft, es komme allein darauf an, sie zu befreien. In einer Gesellschaft, in der sich die Menschen in Familien und Privatarbeiten isolierten, sei die Unterdrückung der Leidenschaften logisch. Aber Menschen seien dazu gemacht, zusammen zu leben und zu arbeiten. Insofern wäre die genossenschaftliche Ordnung jener Zustand, der unserer Natur und darin dem Edelsten, unseren Leidenschaften, entspräche. In dieser Ordnung wäre es dann nur noch eine Frage der Wissenschaft und Perfektion, diese Leidenschaften so zusammen und ineinander zu fügen, dass die Menschen mehr und mehr Potenzial frei setzten. Es würde bewiesen werden, »daß alle unsere Eigenschaften gut und verständig verteilt sind« (ebd.: 123), und sich zeigen, dass alle Leidenschaften, richtig konzertiert, eine große Symphonie ergäben. Jedes Bedürfnis würde durch ein Produkt einer Arbeit befriedigt werden, die in irgendeiner Konstellation irgendwem Spaß machen würde.

 

Fourier mag derjenige gewesen sein, der diese Fügung aller Leidenschaften am stärksten betont und ausgemalt hat. Mit der Hoffnung auf diese Fügung ist er aber nicht ganz allein. So proklamiert der deutsche Frühsozialist Wilhelm Weitling: »Die Gesamtheit der Fähigkeiten aller reicht immer hin, die Summe von Genüssen herbeizuschaffen, welche die Begierden aller zu ihrer Befriedigung verlangen« (Weitling 1842: 114). Und der französische Frühsozialist Théodore Dézamy glaubt, dass »jeder nützlichen Tätigkeit ein natürlicher Trieb […] entspricht« (zit. n. Meyer 1977: 142). Auch der junge Friedrich Engels ist von dieser Hoffnung erfüllt und voll des Lobes: »Fourier war es, der zum ersten Male das große Axiom der Sozialphilosophie aufstellte: Da jedes Individuum eine Neigung oder Vorliebe für eine ganz bestimmte Arbeit habe, müsse die Summe der Neigungen aller Individuen im großen ganzen eine ausreichende Kraft darstellen, um die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Aus diesem Prinzip folgt: wenn jeder einzelne seiner persönlichen Neigung gemäß tun und lassen darf, was er möchte, werden doch die Bedürfnisse aller befriedigt werden, und zwar ohne die gewaltsamen Mittel, die das gegenwärtige Gesellschaftssystem anwendet. Diese Behauptung scheint kühn zu sein, und doch ist sie in der Art wie Fourier sie aufstellt, ganz unanfechtbar, ja fast selbstverständlich – das Ei des Kolumbus. Fourier weist nach, […] daß daher keine Notwendigkeit besteht, Menschen zur Tätigkeit zu zwingen, wie im gegenwärtigen bestehenden Gesellschaftszustand, sondern nur die, ihren natürlichen Tätigkeitsdrang in die richtige Bahn zu lenken. Er beweist ferner, daß Arbeit und Vergnügen identisch sind, und zeigt die Vernunftwidrigkeit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, die beide voneinander trennt« (Engels 1843: 483). Allerdings lässt Engels der Behauptung, die Bedürfnisse der Menschen und ihre Neigungen zu bestimmten Tätigkeiten griffen perfekt ineinander, keinerlei Begründung folgen. Er behilft sich mit rhetorischem Nachdruck: Fourier habe eine »unanfechtbare« Behauptung aufgestellt, das »große Axiom der Sozialphilosophie« entdeckt, den »Nachweis« erbracht. Im Grunde aber handelte es sich bei Fouriers Entdeckung um kein neues Axiom der Sozialphilosophie, sondern um eine »sakramentale Formel«: »Sie unterstellt der realen Gesellschaft, einem Aggregat von vernunftbegabten Triebwesen, einem Kräfteparallelogramm von Wünschen, Interessen und Verantwortlichkeiten, die Verwandelbarkeit in einen Gesamtorganismus, dessen Glieder ähnlich zusammenstimmen sollen wie nach dem Wunsch des Apostels Paulus die Glieder der christlichen Gemeinde zum ›Leib Christi‹. Jedes Gemeindeglied, so Paulus [1. Kor. 12], hat sein ›Charisma‹, will sagen, seine je besondere Begabung und Energie, die es zum ›Leib‹ beiträgt. Es ist Organ, nicht bloß Funktion, und zwischen Organen eines Leibes besteht unmittelbare vitale Verbundenheit.« (Türcke 2015: 440) Wenn wirklich alle Bedürfnisse und Neigungen perfekt ineinander griffen, wäre das ein Beweis dafür, dass die Welt im Grunde nicht nur schnöde Materie, sondern ein Paradies wäre und jemand für das harmonische Ineinander aller Bedürfnisse und Neigungen gesorgt haben müsste.

»Die Natur hatte uns allen ein Paradies geschaffen […] Lasst uns versuchen, es wiederherzustellen.« (Weitling 1842: 80) – Was bei Weitling noch deutlich herausklingt, versucht Engels im Begriff »Axiom« verschwinden zu lassen: Gott! Mit diesem begründet Fourier seine Sozialutopie. Die Ordnung der Leidenschaften und Anziehungskräfte sei »das weiseste und bewundernswürdigste Werk Gottes« und wird »die universelle Einheit auf Erden stiften und Kriege, Revolutionen, Armut und Ungerechtigkeit austilgen« (Fourier 1808: 139). Fourier glaubte an die Sinnhaftigkeit der Schöpfung, an eine Art glückliche Determination, daran, dass alles nur ins Lot gerückt werden müsste: »Ich will beweisen, daß alle Leidenschaften, so wie sie von Gott erschaffen wurden, gut sind. Sie sind gut und nützlich, vorausgesetzt, daß sie in einer Ordnung der Dinge, die das Gegenteil der zersplitterten […] Arbeit bildet, zum Tragen kommen.« (Fourier 1822: 210) Diesen Ansatz verfolgt Fourier konsequent und alles Menschliche und Allzumenschliche umarmend. So zieht er aus der Tatsache, dass Kinder gerne Süßes essen, den Schluss, dass dies von Gott nicht anders gewollt sein könne und Kinder sich dereinst vornehmlich von Süßigkeiten ernähren würden. Zudem wären Kinder dafür gemacht, dereinst solche Arbeiten zu erledigen, die Erwachsene anwiderten: Toiletten putzen und Kanalisation reinigen. Hätten Kinder doch eine große Leidenschaft für Kot und Dreck. Und wo er einmal beim Thema ist, stellt er en passant auch noch fest, dass »in der neuen Gesellschaftsordnung der einfache Mann jeden Tag in Weinen schwelgen« werde (Fourier 1808: 231). Keine Leidenschaft gebe es, die von der Erlösung ausgespart bliebe und nicht ihren Sinn offenbaren würde.

Wenn es nun auch unmöglich erscheint, an ihre Erfüllung zu glauben, so muss zumindest zugegeben werden, dass die Gesellschaftsutopie Fouriers, wenngleich vielleicht etwas zu betriebsam und erregt, doch voller Herzlichkeit und Humanität ist. Seine Parteinahme für die Leidenschaften hebt ihn aus der Reihe der Frühsozialisten heraus, die die Einzelinteressen zum Zwecke des Allgemeinwohls zügeln wollten. Seine Überzeugung, »daß alle Wesen, so wie sie sind, gut sind« (ebd.: 378), beugt den Ketten vor, in die die Einzelnen auf Utopia und in der Civitas Solis geschlagen werden. Seine Utopie ist die größtmögliche Verneinung des Opfers. Keine Leidenschaft dürfe unterdrückt, keine Arbeit ungewollt angerührt, niemandem irgendetwas vorenthalten werden.

Ohne Gott allerdings wäre seine Utopie nicht plausibel. Und ihre Verwirklichung wäre, wenn man so will, ein Gottesbeweis. Denn wenn die Menschen einen Zustand im Sinne Fouriers eines Tages mit eigener Kraft herbeigeführt haben sollten, hätten sie ihn nicht aus dem Nichts schaffen können. Sie sind auf das Diesseits, wie sie es vorfinden, verwiesen. Sie können es umformen, neu zusammensetzen und in eine neue Ordnung bringen. Aber alles, was sie dabei zusammenfügen, muss sich zusammenfügen lassen, alles was sie dabei erschaffen, ist seiner Möglichkeit nach vorhanden, schlummert als Potenz in der Welt. Sollte es den Menschen daher wirklich eines Tages gelungen sein, alles, was ist, in eine solche Ordnung versetzt zu haben, dass sich alles gefügt hat und alles menschliche Leid beseitigt ist, dann muss dieser Zustand als möglicher in der Welt geschlummert haben. Die Vorstellung einer Welt aber, in der ein solcher Zustand schlummert, lässt sich rein materialistisch und ohne Zusatz oder Rest von Metaphysik kaum erklären.

Das im Hinterkopf zurück zu Marx: Dieser proklamiert die höhere Phase als Resultat der menschlichen Produktivkraftentwicklung, letztlich als eine Errungenschaft der Industrialisierung. Der »enge Rechtshorizont« (»Jedem nach seiner Leistung«) der ersten Phase könne, so Marx, »erst dann« überschritten werden, »nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen […].« (Marx 1875: 21) Drei Kennzeichen der höheren Phase gibt Marx hier an: 1. Die Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit wird verschwinden. Das soll vermutlich nicht bedeuten, dass die Arbeitsteilung aufhörte, sondern dass sie nicht mehr Hemmschuh individueller Entfaltung wäre. Die Individuen sollen nicht mehr gezwungen sein, den ganzen Tag einen speziellen Handgriff oder Rechenschritt zu wiederholen. 2. Alle Springquellen des Reichtums werden voller fließen. Das bedeutet vermutlich, dass die Produktionsmittel allen gehörten und so effizient wären, dass genügend Reichtum für alle produziert würde. Am liebsten wäre es Marx, wenn die Menschen in Zukunft auf Basis industrieller Produktion kaum noch »materielle Arbeit« (Marx 1894: 827) zu erledigen hätten. 3. Die Arbeit wird selbst zum ersten Lebensbedürfnis werden. Das heißt vermutlich, dass alle Menschen, weil sie satt wären und dank der Produktionsmittel nicht mehr im Schweiße ihres Angesichts arbeiten müssten, schöpferischen Tätigkeiten nachgehen und als Erfinder, Wissenschaftler, Künstler etc. ihre Fähigkeiten bzw. Talente entwickeln könnten.18 Marx selbst hat sich in jungen Jahren als Dichter versucht und im Alter mit Lust und Laune mathematischen Aufgaben und chemischen Formeln gewidmet. Jedenfalls scheint er darauf zu hoffen, dass in allen Menschen schöpferische Anlagen schlummerten und im Kommunismus, wenn endlich Muße dafür wäre, zur Entfaltung drängten.