Verein freier Menschen?

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a) Proportionale Produktion überhaupt

Die Menschen haben verschiedene Bedürfnisse. Um sie zu befriedigen, müssen sie arbeiten. Ist ihnen kalt, müssen sie Kleidung anfertigen oder Häuser bauen, haben sie Hunger, müssen sie Früchte sammeln oder Getreide ernten, leiden sie an Schmerzen, müssen sie Medizin herstellen. Die Befriedigung all dieser Bedürfnisse erfordert Arbeit. Diese ist Kraftverausgabung und Mittel zum Zweck. Marx kennt auch »freie Arbeiten, z. B. Komponieren« (Marx 1857/58: 512). Sofern es aber in seiner Kritik der politischen Ökonomie um Arbeit geht, ist in der Regel solche gemeint, die nicht aus Freiheit, sondern aus der Not geboren ist, und der Herstellung von Gütern dient, die die Existenz sichern. »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der eigentlichen Sphäre der Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen.« (Marx 1894: 828) Jede Gemeinschaft oder Gesellschaft, wie klein oder groß auch immer, hat nur in bestimmten Maßen Arbeitskraft zur Verfügung. Denn die Arbeitskräfte der Menschen können zwar verschiedentlich ausgebildet werden, etwa zur Arbeitskraft eines Jägers, Agrarwissenschaftlers oder Mediziners, basieren aber auf den »Naturkräften« (Marx 1872k: 192) des Menschen und bleiben durch diese bedingt. Diese Naturkräfte sind nicht unerschöpflich und müssen durch Kalorien, Schlaf und mehr oder weniger Balsam regeneriert werden. Da nun eine Gemeinschaft oder Gesellschaft nur ein begrenztes Maß an Arbeitskraft zur Verfügung hat, gilt es, diese klug einzuteilen, nämlich so, dass möglichst viele Bedürfnisse, insbesondere die dringlichsten, befriedigt werden. Es nützt wenig, wenn die Gesellschaft genügend Häuser gebaut hat, deren Bewohner im Winter aber nicht mit Brot zu versorgen vermag. Das ist quasi das Grundgesetz proportionaler Produktion: die Arbeitskraft so innerhalb des gesellschaftlichen Produktionszusammenhangs zu verteilen, dass möglichst viele Bedürfnisse befriedigt werden, mindestens aber solche, die existentiell sind.

Die kluge Verteilung dieser Arbeitskraft verkompliziert sich, da die Menschen nicht nur in der Lage sind, Lebensmittel zu produzieren, sondern auch Produktionsmittel. Deren Produktion hat große Vorteile, aber auch ihren Preis. In der Zeit, in der die Menschen für die Produktion produzieren, können sie keine Lebensmittel produzieren: »Wenn der Wilde Bogen, Pfeile, Steinhämmer, Äxte, Körbe etc. macht, so weiß er ganz genau, daß er die so verwendete Zeit nicht auf Herstellung von Konsumtionsmitteln verwendet hat, daß er also seinen Bedarf an Produktionsmitteln gedeckt hat und weiter nichts.« (Marx 1885: 436) Ob der Wilde das »ganz genau« weiß, sei dahingestellt. Zweifellos hängt aber die Güte seines Lebens davon ab, inwieweit es ihm gelingt, seine Arbeitskraft in den angebrachten Proportionen zu investieren. Modernen Gesellschaften geht es ebenso. Wenn eine Industriegesellschaft viele Traktoren und andere landwirtschaftliche Produktionsmittel herstellt und einen zu geringen Teil der Gesamtarbeit in die unmittelbare Bestellung der Felder und Herstellung von Brot investiert, wird es ihren Mitgliedern bald schon an Lebensmitteln mangeln. Wenn diese Gesellschaft aber umgekehrt zu wenig landwirtschaftliche Produktionsmittel produziert, wird es ihr bald daran mangeln und in der Folge auch an Lebensmitteln. In Industriegesellschaften kann der Produktionsprozess viele Glieder haben und das Endprodukt, d. h. Lebensmittel für ihre Mitglieder, in weite Ferne rücken: Wenn etwa Rohstoffe gefördert und Bauarbeiter engagiert werden, um ein Labor zu bauen, wenn Professoren jahrelang arbeiten, um Wissenschaftler auszubilden, wenn diese Wissenschaftler in jenem Labor endlich nach zehn Jahren Arbeit ein chemisches Verfahren entwickeln, durch welches Saatgut besonders gut und schonend gereinigt werden kann, und wenn das neuartig gereinigte Saatgut erstmals im großen Stile durch Bauern ausgesät wird und sich im folgenden Jahr als gute Ernte offenbart. Auch das ist proportionale Produktion: Nach Jahren oder Jahrzehnten zeigt sich in Gestalt von zahlreicheren oder besseren Produkten, dass der Teil der gesamtgesellschaftlichen Arbeitskraft, der nicht mehr unmittelbar für die Produktion von Konsumgütern verausgabt worden ist, in den richtigen Dosierungen in den Bau von Forschungseinrichtungen und die Ausbildung von Fachkräften investiert worden ist.

Die Grundzüge proportionaler Produktion illustriert Marx am Beispiel Robinsons. Dieser hat viele, verschiedene Bedürfnisse (Essen, Trinken, Obdach, usf.) und versucht, seine Arbeitskraft gemäß seinen Bedürfnissen auf verschiedene Produktionszweige (Jagen, Schöpfen, Bauen usf.) zu verteilen. Vormittags, so notiert Robinson in sein Tagebuch, gelte es für ihn zu jagen, um an Essen für den Tag zu kommen, mittags wolle er, solange die Sonne brenne, schlafen, abends könne er andere Tätigkeiten verrichten. Je mehr seiner Bedürfnisse er schließlich befriedigen kann, desto klüger hatte er seine Arbeitskraft eingeteilt, desto besser ist ihm proportionale Produktion geglückt. Dabei kommen zu den Bedürfnissen des Endverbrauchers Robinson noch die des Produzenten Robinson hinzu: Sichel, Spaten, Sieb etc. Robinson ist kein Wilder, sondern ein guter Engländer, und als solcher, so stellt Marx augenzwinkernd fest, nehme er die Organisation der Produktion sehr genau und beginne, »bald Buch über sich selbst zu führen. Sein Inventarium enthält ein Verzeichnis der Gebrauchsgegenstände, die er besitzt, der verschiednen Verrichtungen, die zu ihrer Produktion erheischt sind, endlich die Arbeitszeit, die ihm bestimmte Quanta dieser verschiednen Produkte im Durchschnitt kosten« (Marx 1872k: 91).

Auf Robinsons Insel ist der Produktionszusammenhang überschaubar. Schwerer wird proportionale Produktion, wo mehr Menschen füreinander und miteinander arbeiten. Traditionelle Gesellschaften meistern sie, weil sich in ihnen das Gefüge der Arbeitsteilung über Jahrtausende herausgebildet und bewährt hat. Marx führt die Beispiele der patriarchalischen Bauernfamilie und traditionellen indischen Dorfgemeinde an. Die Familienarbeit einer sich selbst versorgenden Bauernfamilie wird geteilt, indem jedes Mitglied durch Alter und Geschlecht in den Funktionszusammenhang eingetaktet ist und weiß, zu welcher Jahreszeit es welche Arbeiten zu erledigen hat. Auch in der urindischen Dorfgemeinde, so Marx’ Beispiel, ist die Teilung der Gesamtarbeit bzw. Gemeindearbeit naturwüchsig entstanden. Sie hat sich über Jahrhunderte eingespielt. Der Sohn näht, weil der Vater schon genäht hat; würde er sich verweigern, brächte er den gewachsenen Organismus in Gefahr. »Das Gesetz, das die Teilung der Gemeindearbeit regelt, wirkt hier mit der unverbrüchlichen Autorität eines Naturgesetzes« (ebd.: 379). Neben der Tradition können noch Hierarchie, Befehl und Ausbeutung die Arbeitsteilung strukturieren, etwa in Sklavenhaltergesellschaften oder auf einem feudalen Gut. Wie auch immer sie zustande kommt, die Arbeitsteilung muss wohlproportioniert sein, sonst nützt die größte Arbeitsanstrengung wenig.

In dem Maße, wie die Arbeit geteilt und spezialisiert wird, und die Anzahl der Menschen, deren Tätigkeiten ineinandergreifen, größer wird, wächst die Komplexität der Aufgabe. Traktoren beispielsweise bestehen aus tausenden Teilen. Wenn am Ende der Produktion ein paar spezielle Schrauben fehlen, verkörpern nicht nur alle anderen Bestandteile der Traktoren sinnlos verausgabte Arbeit, sondern auch die Fabrikhallen, in denen sie lagern. Dann hätte sich der Teil der gesellschaftlichen Arbeitskraft, der anderen Produktionszweigen, beispielsweise der Landwirtschaft, entzogen wurde, um die Traktoren herzustellen, ohne Nutzen und auf unbestimmte Zeit in nutzlosen Fabrikhallen und funktionsuntüchtigen Traktoren manifestiert.

b) Proportionale Produktion mittels Wertgesetz

In der kapitalistischen Gesellschaft hat sich der Produktionszusammenhang und die Teilung der Arbeit globalisiert. In Traktoren Made in Germany sind Teile verbaut, die in der Slowakei aus Stahl gefertigt werden, der in Österreich mit polnischer Kohle geschmolzen wird. In einem amerikanischen Smartphone, das in China zusammengesetzt wird, sind Rohstoffe aus Afrika und Südamerika verbaut. Aber der globale Produktionszusammenhang ist weder traditionell gewachsen, noch wird er organisiert. Er regelt sich, wie Marx auf tausenden Seiten zu zeigen versucht, über den Wert und dessen Formen.

Das Geld als geläufigste aller Wertformen bezeichnet Marx als die »allgemeine Erscheinungsform« und die »allgemeine gesellschaftliche Verpuppung aller menschlichen Arbeit« (ebd.: 81). Diejenige Arbeit, die Wert bildet und sich im Geld verpuppt, nennt Marx »abstrakt menschliche«, »gleiche menschliche« oder »allgemein menschliche« Arbeit. Sie fasst, was allen Arbeiten gemein ist: Verausgabung von Kraft zum Zwecke der Herstellung nützlicher Dinge zu sein. So wie Robinsons verschiedene Arbeiten auf der Insel nur »verschiedne Betätigungsformen desselben Robinson« sind und dessen Kraft beanspruchen, so handelt es sich bei den Tätigkeiten des Bäckers, Lehrers, Maurers, Managers innerhalb des gesellschaftlichen Produktionszusammenhangs um »verschiedne Weisen menschlicher Arbeit« (ebd.: 90). Und so wie Robinson nicht unendlich arbeiten kann, so ist auch das Arbeitsvermögen im kapitalistischen Produktionszusammenhang bedingt. Egal, »wie verschieden die nützlichen Arbeiten oder produktiven Tätigkeiten sein mögen, es ist eine physiologische Wahrheit, daß sie Funktionen des menschlichen Organismus sind und daß jede solche Funktion, welches immer ihr Inhalt und ihre Form, wesentlich Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Muskel, Sinnesorgan usw. ist.« (ebd.: 85) Jedes Produkt des Weltmarktes resultiert, unabhängig von seiner konkreten Gestalt, aus der Verausgabung solcher Arbeitskraft. Zur Darstellung kommt diese Verausgabung in kapitalistischen Verhältnissen nicht bewusst, aber vermittels des Warentausches auf dem Markt: im Wert. Dieser erfasst im Grunde die Verausgabung von Naturkräften, selbst dann, wenn es sich um intellektuelle, komplizierte, hochqualifizierte Arbeit handelt. Gerade dann. Der Nanotechnologieingenieur etwa, aus dessen Arbeit große Werte resultieren, ohne dass er im herkömmlichen Sinne im Schweiße seines Angesichts schuftet, hat immense Schufterei zur Voraussetzung. Seine Ausbildung kostete die Arbeitskraft von Pförtnern, Professoren, Heizern, Köchen und Sekretären, für die Bücher, aus denen er sein Wissen schöpft, mussten Holzfäller, Buchbinder und Schriftsteller Kraft aufwenden, der Computer, mit dem er rechnet, resultierte aus den Anstrengungen in Minen, Fabriken und Kraftwerken. All diese Arbeitskräfte, die an der Herausbildung seiner Arbeitskraft mitgewirkt haben, konnte die Gesellschaft nicht unmittelbar für die Produktion von Konsumgütern aufwenden. Diese Arbeitskräfte schlagen sich erst nachträglich im Endprodukt nieder, vermittels seiner Arbeitskraft – indem er z. B. ein Produktionsmittel für die Landwirtschaft ersinnt, mit dessen Hilfe mehr Konsumgüter produziert werden können. Seine Arbeitskraft ist also eine zusammengesetzte Arbeitskraft; und der Wert, den er letztlich erschafft, drückt nicht nur die Verausgabung seiner, sondern vieler Arbeitskräfte aus (die alle ernährt werden müssen, wenngleich sie nicht unmittelbar Endprodukt herstellen).

 

Marx will der Ökonomie das Naturwesen Mensch ins Bewusstsein rufen: Produktion ist »Stoffwechsel mit der Natur« (ebd.: 192), Konsumtion ist es auch (ebd.: 185 u. 597). Die blank anmutenden Kategorien in der Zirkulationssphäre sind Ausdrücke dieses Stoffwechsels. Ähnlich wie diese blanken Kategorien hatte bereits der junge Marx Hegels Weltgeist auf den Stoffwechsel zurückzuführen versucht: Hegel habe im Weltgeist zwar den Produktionsprozess der Menschen erfasst, aber nur innerhalb der Abstraktion des Geistes. Doch der Mensch sei mehr als Geist. »Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen […], teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, wie es auch das Tier und die Pflanze ist« (Marx 1844m: 578). Die jeweilige Rückführung der blanken ökonomischen Kategorien und des ehrwürdigen Weltgeists auf den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur kann auch materialistische Kränkung genannt werden: Höheres (Geld, Geist) wird auf Niederes (Natur, Stoffwechsel) zurückgeführt. So gesehen passt die grobe Formulierung von der »materialistischen Erdung« auf Marx’ Methode ganz gut: Das Geld, als Inbegriff des Reichtums, und der Weltgeist, als Inbegriff des Denkens, werden in ihren Grund zurückgestoßen.

Angesichts des immensen Reichtums, der in Geld und Zins wie der numerische Ertrag unternehmerischen Geschicks erscheint, erinnert Marx an die eigentlichen Schöpfer und zugleich Leidtragenden des Reichtums: die ausgebeuteten Arbeitskräfte.12 Das sind sowohl die Proletarier als auch die Naturkräfte im Menschen. Beides ist der Grund allen Kapitals und gleichzeitig dessen Opfer. Beides wird ausgebeutet: den Proletariern wird ein Teil des Äquivalents ihrer Arbeit vorenthalten, die Naturkräfte der Produzenten werden vom Kapital ausgesaugt und in dessen Substanz umgewandelt und einverleibt (Marx 1872k: 247). Die »kapitalistische Produktion« sei, so Marx, »eine Vergeuderin von Menschen, von lebendiger Arbeit, eine Vergeuderin nicht nur von Fleisch und Blut, sondern auch von Nerven und Hirn« (Marx 1894: 99). Gegen diesen Raubbau richtet sich der Materialismus. »Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd.« (Adorno 1966: 207) Diesseits dieses Konjunktivs zielt er auf die Schonung des Fleisches bzw. eine vernünftige Ökonomie der Kräfte. Die Produzenten sollen die kapitalistische Produktionsweise abschaffen, sich assoziieren und den Produktionsprozess »unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn« (Marx 1894: 828). So die Idee des Kommunismus.

Im kapitalistischen Produktionszusammenhang planen nur die einzelnen Unternehmen den Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte, das aber nicht mit Bedacht auf deren Schonung, sondern auf deren profitabelste Ausnutzung. Übergreifend gibt es innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses gar keine bewusste Ökonomie der Kraft. Es wird nicht bewusst auf die Gesamtkraft, deren Einteilung und Reproduktion reflektiert. Die Gesamtarbeit und ihre Teilung regeln sich Marx zufolge in der kapitalistischen Gesellschaft über das Wertgesetz. Dieses vermittle das »gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit« bzw. garantiere, »daß die unabhängig voneinander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit allseitig voneinander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftliches Maß reduziert werden« (Marx 1872k: 86 u. 89). Während das Wertgesetz im Verlauf der Darstellung und besonders im Band III klarer wird, muss er es zu Beginn von Band I noch unterstellen. Dort behauptet er, dass sich in der Wertgröße Arbeitszeit darstelle, allerdings nicht irgendeine, sondern die »im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit« (ebd.: 53). Die Formulierung »gesellschaftlich notwendig« bedeutet zweierlei. Erstens: Wer eine Ware außerordentlich langsam produziert, stellt deswegen keinen außerordentlich großen Wert her, sondern muss die Ware schließlich zu einem ähnlichen Preis verkaufen wie die Konkurrenz. Zweitens, was oft vergessen wird: In der Wertgröße einer Ware stellt sich dar, inwieweit diese nötig ist (inwieweit diese nachgefragt wird) und somit, inwieweit die Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion aufgebracht worden war, gesellschaftlich notwendig gewesen ist. Wenn jemand einen Gebrauchswert produziert, der kaum oder gar nicht nachgefragt wird, war seine Arbeit umsonst; Angebot und Nachfrage entscheiden mit über den Wert eines Gebrauchswertes (auch das ist Teil des Wertgesetzes; siehe Marx 1894: 33–220). Die Unternehmer versuchen die Herstellung jener Waren, die kaum mehr profitabel verkauft werden können, zu drosseln und stürzen sich und die Arbeitskraft, die ihnen zu Diensten ist, auf jene Produktionszweige, in denen Waren hergestellt werden, die sich gewinnbringend verkaufen lassen. Sie hecheln der Profitrate nach. Jedes einzelne Unternehmen versucht, die eigene Produktivität zu verbessern oder die nächste Marktlücke zu erspähen und zu füllen. Daher rührt die Innovationskraft des Kapitals, die bis heute fortwährt.

Am aktuellen Beispiel ausgeführt, dem Markt für Mobiltelefone: Die letzten Jahre krähte kein Hahn mehr nach denen des einstigen Branchenführers Nokia (neuerdings versucht Nokia, sich Marktanteile auf dem Mobiltelefonmarkt zurück zu erkämpfen). Zu den neuen Branchenführern wurden Firmen, die kräftig in die Produktion von Smartphones investierten: Samson, Apple, Huawei, Lenovo, LT. Die Profitrate war hoch, die Marktlücke da. Allein im Jahr 2013 wurden eine Milliarde Smartphones verkauft. Nun aber zeichnet sich ab, dass auf dem Smartphone-Markt die Profitrate durch die Menge der Anbieter und deren Preiskampf wieder sinken wird. Je mehr Waren (oder Dienstleistungen) einer Sorte auf den Markt geschleudert werden, ohne dass die Nachfrage entsprechend steigt, desto stärker sinkt der Anteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die jede einzelne dieser Waren (oder Dienstleistungen) zu verkörpern imstande ist. Die Profitrate fällt. Die großen Anbieter von Gadgets sind schon auf der Suche nach noch unbekannten Märkten und investieren Milliarden in neue Wearables (tragbare Computer z. B. als Brillen oder Uhren) oder das Internet der Dinge. Nicht nur die jetzigen Marktführer auf dem Smartphone-Markt müssen dann auf der Hut sein, sondern auch ihre Zulieferer und App-Entwickler. Verschläft bspw. ein Produzent von Display-Glas den Schwenk und produziert weiter sein Glas für Smartphone-Touchscreens, so wird er es bald nur noch billig losschlagen können – summa summarum zu einem Gesamtwert, »als ob es in der notwendigen Proportion produziert wäre« (Marx 1894: 649). Der Gebrauchswert schlägt auf den Tauschwert zurück.

Indem die Unternehmen sich selbst erhalten und sich aus Produktionszweigen zurückziehen, in denen die Profitrate sinkt, und in Produktionszweige investieren, in denen mehr Profit zu erwirtschaften ist, verteilen sie die gesellschaftliche Arbeitskraft und Produktionsmittel auf die Produktionszweige – in den gebotenen Proportionen. So wie der große Weltmarkt funktioniert im Grunde auch der Konkurrenzkampf in einer beschaulichen Stadt: Der alteingesessene Techniker merkt anhand der Preise, die er für seine Dienste nehmen kann, wie notwendig diese noch sind. Ist ein neuer Techniker in die Stadt gezogen, womöglich einer, der in der Lage ist, Flachbildfernseher zu reparieren, so wird der angestammte Techniker auf seine alten Tage entweder noch mal in seine Produktionsmittel und eine Weiterbildung investieren oder sich vorzeitig aufs Altenteil setzen müssen. Ob Kleinstadt-Techniker oder Nokia, den privaten Warenproduzenten geht es heute kaum anders als zu Marx’ Zeiten. Die sogenannten Launen des Marktes demonstrieren ihnen, dass sich ihre »Unabhängigkeit […] in einem System allseitiger sachlicher Abhängigkeit ergänzt« (Marx 1872k: 122).

Der Anteil derjenigen in diesem System, die selber kein Endprodukt für die Konsumenten, sondern Produktionsmittel und Rohstoffe schaffen, wird im Vergleich zu denen, die Endprodukte schaffen, immer größer. Und die Kette bis zum Endprodukt wird immer länger: Rohstoffe werden für Produktionsmittel produziert, mit deren Hilfe Produktionsmittel produziert werden, die bei der Produktion von Endprodukten eingesetzt werden. Das System der Arbeitsteilung gerät immer komplexer und wird zum einen, innerhalb von großen Unternehmen, von technischen Direktoren und Computern koordiniert und zum anderen, zwischen den Unternehmen, vom Markt. Nachdem im März 2011 Japan durch einen Tsunami erschüttert wurde, musste die amerikanische Firma Apple etliche Tage lang die Produktion von Computern einstellen, weil ein bestimmtes Bauteil aus Japan, zwei Dollar das Stück, auf dem Weltmarkt nicht mehr zu erhalten war (Die Zeit, 6.10.2011). Doch bald schon versorgte der Weltmarkt Apple wieder. Bei solchen Bauteilen ist relativ offensichtlich, dass ihr Wert in den Wert der Produkte einfließt. Bei Produktionsmitteln verhält es sich ähnlich, aber weniger offensichtlich. Sie sind selbst das Ergebnis der Verausgabung von Arbeitskraft. Als solche haben sie Wert und verlieren diesen, im dem Maße, wie ihr Gebrauchswert im Einsatz verschleißt. Sie verlieren ihren Wert aber nicht so wie Lebensmittel, durch deren Konsumtion Gebrauchswert und Tauschwert gleichermaßen verschwinden. Sondern sie werden produktiv konsumiert; während sich ihr Gebrauchswert abnutzt, wandert ihr Wert in die hergestellten Waren ein: »Seelenwandrung« (Marx 1872k: 221) nannte Marx das, als er den Produktionsprozess des Kapitals analysierte.

Diese Seelenwanderung sei an einem anderen aktuellen Beispiel illustriert: Verteuert sich das Kerosin, so werden auch die Waren teurer, die mit Flugzeugen transportiert werden müssen, bevor sie verkauft werden können. Wobei der Wert nicht aus dem Kerosin entstammt, sondern aus dessen Produktion. Im Kerosinverbrauch überträgt er sich auf die Waren, die mithilfe des Kerosins produziert, d. h. transportiert werden. Während Robinson die Zeit, die er auf die Produktion von Produktionsmitteln und Endprodukten aufwendet, im Blick hat und nach bestem Wissen einteilt, regelt sich die Arbeitsteilung in der kapitalistischen Gesellschaft über den Wert und die Einzelaktionen der Unternehmen. So könnten sich amerikanische Unternehmen entscheiden, bestimmte Bauteile aus China nicht mehr einfliegen zu lassen, weil sie mit dem Kerosin teurer geworden sind, sondern selber zu produzieren. Die chinesischen Unternehmer würden daraufhin womöglich nicht mehr Flugzeuge chartern, sondern Schiffe, um ihre Produkte auf dem amerikanischen Markt wieder konkurrenzfähiger zu machen. Die Luftspedition hätte sodann mit sinkender Nachfrage zu kämpfen, während in der Seespedition mit steigender Nachfrage die Profitrate wüchse, woraufhin Kapital samt lebendiger und geronnener Arbeitskraft (in Form von Lohnarbeitern und Schiffen) in diese Sparte wandern würde.

 

So setzt sich durch »das Gesetz des Werts« in der »vollständigsten Anarchie« und in den »zufälligen Fluktuationen« der Warenproduktion »das gesellschaftliche Gleichgewicht der Produktion« durch (Marx 1894: 887 f.). Insofern trifft Adam Smith einen Punkt, wenn er von einer »invisible hand« spricht: Die Warenproduzenten handeln für sich genommen egoistisch und auf eigene Faust, fügen sich aber, wie von Zauberhand dirigiert, zu einem arbeitsteiligen Ganzen. Dass z. B. eine bestimmte Schraube für einen Traktor nicht zu haben ist, wenn dieser für die Ernte gebraucht wird, kommt in der kapitalistischen Produktionsweise kaum vor. Das Wertgesetz und die Jagd nach Profiten sorgen für die Schraube und insgesamt für proportionale Erledigung aller Tätigkeiten und deren Ineinandergreifen, sogar über Ländergrenzen und Kontinente hinweg. Allerdings hat die kapitalistische Marktwirtschaft, die »invisible hand«, einen hohen Preis. Ein paar Beispiele: Der Markt besorgt die Yacht jedem, der Geld hat, aber nicht Lebensmittel für die, die keins haben. Die eine Milliarde Smartphones, die 2013 verkauft wurden, sind größtenteils in China vom Band gelaufen, wo Arbeitskraft derzeit billig zu haben bzw. der »Exploitationsgrad der Arbeitskraft« (Marx 1872k: 232) besonders hoch ist. Die globale Industrie wächst schneller, als ihr Kohlendioxidausstoß gesenkt werden kann; die Autofirma VW hat, wie 2015 aufgedeckt wurde, auf dem US-amerikanischen Markt jahrelang Abgaswerte fingiert und somit Kunden und Gesetzgeber geprellt, um ihre Autos an die Kunden bringen zu können. Zusammengefasst: In ihrem Überlebenskampf um den Profit hecheln die Unternehmen nur der Befriedigung derjenigen Bedürfnisse nach, die sich durch Geld bekunden, und nehmen keine Rücksicht auf Arbeitskräfte und Natur.

Im Laufe der Darstellung des Kapitals zeigt Marx, wie sich der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit nicht nur in Warenwert und Geld verpuppt, sondern auch in allen weiteren Kategorien der Ökonomie: Kapital, Zins, Grundrente, Produktionskosten, Profit etc. Da all diese Kategorien in der Praxis den Anschein erwecken, als handele es sich bei ihnen um Eigenschaften von Produkten, Geld, Boden und anderen Dingen, bezeichnet Marx diese ökonomischen Kategorien auch als Fetische, Mystifikationen oder verrückte Formen. Sofern er sie so bezeichnet, will er nicht behaupten, sie ließen sich durch Aufklärung oder Ideologiekritik beseitigen: Die Erkenntnis ändert nichts an der Vergegenständlichung der gesellschaftlichen Arbeit (ebd.: 88). Immerhin hatte schon die klassische bürgerliche Ökonomie um Adam Smith, Benjamin Franklin und David Ricardo die Entdeckung gemacht, dass Geld und der Warenwert Ausdrücke menschlicher Arbeit sind. Da die klassische Ökonomie jedoch nicht über den Tellerrand der kapitalistischen Epoche habe schauen wollen, habe sie vergessen zu fragen, »warum dieser Inhalt jene Form annimmt, warum sich also die Arbeit im Wert und das Maß der Arbeit durch ihre Zeitdauer in der Wertgröße des Arbeitsprodukts darstellt« (ebd.: 94 f.). Marx kennt die Antwort: die Eigentumsverhältnisse, speziell das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Auf Basis ihres Privateigentums an den Produktionsmitteln produzieren die Privatunternehmen voneinander unabhängig, obwohl sie alle in einem großen Produktionszusammenhang verflochten sind, eigentlich also gar nicht voneinander unabhängig sind. Der Produktionszusammenhang existiert, aber nicht unmittelbar. Er zeigt sich erst vermittelt, nämlich in der Zirkulation. Dort erst, durch die Wertgrößen ihrer Produkte, setzen sich die verschiedensten Produktionseinheiten zueinander ins Verhältnis. Das wird laut Marx immer so bleiben, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln existiert. Der gegenständliche Schein der gesellschaftlichen Arbeit, d. h. die Vermittlung der Produktion über den Wert und seine Formen, könne nur durch die Revolution der Eigentumsverhältnisse verschwinden. Früher oder später werde diese Revolution stattfinden: Die Arbeiter würden ihre Ausbeuter enteignen, die Produktionsmittel vergesellschaften, ihre »vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft« (ebd.: 93) organisieren und somit die bewusste Einheit der Produktion anstelle der unbewussten Einheit der kapitalistischen Produktion verwirklichen.

c) Planmäßige proportionale Produktion

Marx denkt sich die Revolution wie das Aufbrechen einer reifen Frucht. In der »kapitalistischen Hülle« sei der Kommunismus schon enthalten. »Sie wird gesprengt.« (ebd.: 791)13 Ähnlich betrachtet er auch die kapitalistischen Kategorien. Als Formen seien diese nun, da der Inhalt darin herangereift ist und verborgen liegt, ein Problem. Der »Inhalt der Wertbestimmungen« selber sei nicht das Problem, sondern zu befreien (Marx 1872k: 85; vgl. auch Marx 1880w: 375) und einer höheren Rationalität zuzuführen. Mit dem »Inhalt der Wertbestimmungen« meint er zum einen die Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Sinnesorganen, die sich in Form des Wertes darstellt, und zum zweiten die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die sich in Form der Wertgröße darstellt. Mit der kommunistischen Revolution sollen die »verrückten Formen« (Marx 1872k: 90) beseitigt werden und ihr Inhalt eine bessere Form erhalten. Vorbildhaft sei Robinson und dessen Buchführung. In Robinsons Buch seien in vernünftiger Form »alle wesentlichen Bestimmungen des Werts enthalten« (ebd.: 91). So rationell müsse auch der Kommunismus die Produktion organisieren, »bloß gesellschaftlich statt individuell« (ebd.: 92). Es »bleibt, nach Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, aber mit Beibehaltung gesellschaftlicher Produktion, die Wertbestimmung vorherrschend in dem Sinne, daß die Regelung der Arbeitszeit und die Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit unter die verschiednen Produktionsgruppen, endlich die Buchführung hierüber, wesentlicher denn je wird.« (Marx 1894: 859) Via Buchführung und Regelung sollen die Verausgabung der Arbeitskräfte und die Zeiten, die für jede Tätigkeit aufgebracht werden muss, so vernünftig wie möglich geplant werden – vernünftig in dem Sinne, dass die Arbeitskräfte nicht überspannt, die Arbeiten gerecht auf alle Schultern verteilt und mit den Produkten der Arbeit die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden.

Später wurde die kommunistische bzw. sozialistische Wirtschaftsweise auch »Planwirtschaft« genannt. Marx hat kein planwirtschaftliches Konzept ausformuliert, aber gelegentlich Stichworte Richtung Planwirtschaft geliefert: »Produktion nach einem gemeinsamen Plan«, »planmäßige Kontrolle«, »bewußte und planmäßige Assoziation« (Marx 1871: 343, 1872k: 95, 1894: 673).14 Öfter und bestimmter kommt er auf die planmäßige proportionale Produktion im Kommunismus zu sprechen: Die kommunistische Gesellschaft werde ihre Arbeitskraft so auf die verschiedenen Geschäftszweige verteilen, dass sie die Bedürfnisse ihrer Mitglieder erfüllen kann, mit kluger Voraussicht auch auf die Geschäftszweige, in denen erst mal Produktion für die Produktion stattfindet, sprich Produktionsmittel produziert werden, die später erst der Produktion von Konsumgütern zugutekommen.15 Der Bau einer Eisenbahnlinie z. B. könne jahrelang viel Arbeitskraft beanspruchen, die der Gesellschaft dann anderswo, z. B. in der Produktion von Lebensmitteln, fehlt, und könne am Ende doch einen Nutzeffekt haben, der größer sein wird als Kosten und Entbehrungen. Das Verhältnis von Kosten und Nutzen werde die Gesellschaft im Voraus durchrechnen. Offenbar hielt Marx aber nicht alles für völlig berechenbar, so den Verschleiß von fixem Kapital (so nennt er alle Produktionsmittel, z. B. Maschinen und Fabrikhallen, die im Gegensatz zu Rohstoffen nur langsam verschleißen). Da dieser Verschleiß sich nicht genau antizipieren lasse, müsse die kommunistische Gesellschaft das betreffende Kapital auf Überschuss bzw. Vorrat produzieren. Insgesamt, so zeigt sich Marx überzeugt, werde die Proportionalität der Produktion durch bewusste Regelung im Kommunismus besser glücken als vermittels Wertgesetz und Krisen in der kapitalistischen Produktionsweise.