Verein freier Menschen?

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

An dieser Stelle unterbricht Thomas Morus den Seemann mit dem Einwand, wie ihn Aristoteles gegen Platon vorgetragen hatte: »›Mir dagegen‹, erwiderte ich, ›scheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu einem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?‹« (ebd.: 45) Für die gerechte Verteilung und Erledigung der Arbeit, so erwidert der Seemann, ist auf Utopia gesorgt: Die Syphogranten wachen darüber, dass jeder sein Gewerbe betreibt und keiner viel weniger oder deutlich mehr als sechs Stunden täglich arbeitet. Außerdem böten sich auf Utopia keine Möglichkeiten zum Müßiggang. In ihrer Freizeit besuchen die Utopianer entweder wissenschaftliche Vorlesungen oder spielen, allerdings nichts Verderbliches wie das Würfelspiel, sondern zwei Spiele, die Geist und Moral schulen. Das eine, worin eine Zahl die andere sticht, nennen sie Zahlenkampf, in dem anderen kämpfen Tugenden mit Lastern. Bliebe vielleicht noch der Ausflug ins Grüne, um dem Schlendrian mal freien Lauf zu lassen? Riskant! Wer die Reise in andere Städte oder aufs Land nicht beantragt hat und erwischt wird, wird gezüchtigt und mit Zwangsarbeit bestraft. Letztere hat auf der Insel durchaus System. Viele schmutzige Arbeiten, beispielsweise das Schlachten des Viehs, werden von Zwangsarbeitern ausgeführt. Bei diesen handelt es sich um verurteilte Verbrecher. Da das Gemeinwesen von solcherlei Zwangsarbeit profitiere, empfiehlt der Seefahrer ein ähnliches Strafsystem für England. Verbrecher sollen zur Zwangsarbeit in Steinbrüche und Bergwerke abkommandiert werden!

Auch in der Civitas Solis, die Tommaso Campanella hundert Jahre später in seinem utopischen Roman von 1623 vorstellt, leben die Einwohner in einer Gütergemeinschaft; Geld wird nur für den Außenhandel benötigt, die Bürger der Civitas Solis besitzen kein Eigentum, arbeiten gemäß ihren Fähigkeiten, liefern die Resultate ihrer Arbeit an die Behörden und bekommen von diesen die Güter ihres Bedarfs zugeteilt. Aber auch in Campanellas Roman bleibt eine solche Utopie nicht unwidersprochen. Hier ist der sogenannte »Großmeister« der Gesprächspartner. Und auch er trägt den bekannten Einwand vor: »Dann will also niemand arbeiten. Jeder erwartet, daß die anderen arbeiten, damit er selbst leben kann. Das bringt bereits Aristoteles gegen Platons Staatsidee vor.« (Campanella 1623: 123) Darauf erwidert der Admiral, der von der Civitas Solis berichtet, zum einen, dass die Einwohner ihr Vaterland so sehr liebten, dass sie dafür auch bereitwillig ihre Arbeit verrichteten, und zum zweiten, dass Behörden darüber wachten, was den Einwohnern jeweils zustehe. »Was sie benötigen, bekommen sie von der Gemeinschaft, und die Behörden achten streng darauf, daß keiner mehr erhält, als er verdient, jedoch auch keinem etwas Notwendiges vorenthalten wird.« (ebd.: 124) Genauer wird der Arbeits- und Distributionsprozess nicht geschildert. Gerechtigkeit wird aber offenbar ganz großgeschrieben. Und vermutlich warten drakonische Strafen, versuchte man, die Behörden zu hintergehen. Schwerverbrecher, soviel erfährt man, werden in der Civitas Solis von der Gemeinschaft zu Tode gesteinigt.

Winstanleys Gütergemeinschaft: Wirtschaftsordnung im Sinne Gottes

Der moderne Kommunismus speiste sich auch aus einer Unterströmung des Abendlandes, die alles andere als areligiös war: dem mittelalterlichen Chiliasmus (vgl. Cohn 1957). In dessen Geschichte wurde der Gemeinbesitz und mithin auch ein Kommunismus der Produktion durch die verschiedensten Eiferer gepredigt, etwa durch Johannes von Brünn, Joachim von Fiore, Marguerite Porete, John Wiclif, Johannes Hus, Thomas Müntzer, die Essäaer, Katharer, Amalrikaner, Beginen, Taborianer und Wiedertäufer. In dieser Tradition stand keine innerweltliche Begründung der Gütergemeinschaft im Vordergrund, sondern der Glauben an den Messias und den Antichristen, aus deren bevorstehendem Endkampf der Messias als Sieger hervorgehen und all jene in die Hölle schicken würde, die nicht im Sinne der Urkirche gelebt und keine Gütergemeinschaft praktiziert hätten. Die Urkirche wird übrigens auch in den Romanen Campanellas und Morus’ gewürdigt, dort aber nur zur Untermalung einer ansonsten innerweltlichen Begründung.

Eine Zwischenstellung hat Gerrard Winstanley. Dieser englische Autor begründete die Gütergemeinschaft Mitte des 17. Jahrhunderts äußerst religiös und forderte sie zugleich politisch. Seine Schriften waren Appelle; sie wahrten zur Gütergemeinschaft keinerlei ontologische, ironische oder literarische Distanz. Die Gütergemeinschaft ist darin kein Muster im Himmel und kein Traumzustand auf einer fernen Insel, sondern das politische Ziel.

Winstanley stammte aus einer armen Familie, sein Vater war Händler, er selber scheiterte als solcher und rutschte tiefer, in eine wachsende Klasse herumziehender Tagelöhner, in der kaum einer das vierzigste Lebensjahr erreichte und die Kindersterblichkeit bei siebzig Prozent lag. Er verdingte sich als Tagelöhner und später als Pferdeknecht. Dann schloss er sich den »Diggern«, den »Umgrabern« an, eine Strömung land- und arbeitsloser Bauern und Handwerker. Die Digger eigneten sich in den Anfangsjahren der englischen Republik wiederholt brachliegendes Land an, um darauf zu leben, zu wirtschaften und eine Gütergemeinschaft zu errichten. Dabei endeten diese Versuche in den besseren Fällen vor Gericht und mit Geldstrafen, öfter aber im Schnellverfahren durch Schlägertrupps, die von den gesetzlichen Eigentümern des Landes angeheuert wurden, um die Besetzer zu vertreiben. Als die schätzungsweise zweihundert Digger nach ein paar Jahren aufgerieben waren, legte Winstanley den Spaten zur Seite. 1652 griff er zur Feder und verfasste in englischer Sprache, damals die Sprache der unteren Schichten Englands, Das Gesetz der Freiheit, eine ausführliche Streitschrift für die Gütergemeinschaft, adressiert an keinen Geringeren als an den Republikkönig Oliver Cromwell.

Wiewohl religiös begründet, zielt Winstanley auf eine Revolutionierung des Diesseits durch Menschenhand. Er will den Menschen vor Augen führen, was sie zu Lebzeiten im Diesseits zu tun, wie sie vernünftig und im Sinne Gottes zu leben hätten. Es Gott recht zu tun, bedeute, der Vernunft getreu zu handeln; das Vernünftige zu erkennen, bedeute Gott zu erkennen. Gott und Vernunft seien ein und dasselbe. Die Kirche erwecke nicht den Anschein, als helfe sie, die Vernunft und Gottes Gesetz auf Erden zu verwirklichen. Im Gegenteil. Die Kirche verhindere im Diesseits die göttlichen Gesetze, indem sie Herrschaft und Ausbeutung aufrecht erhalte und dabei die unterjochten Massen mit Verweis aufs Jenseits dreist von den falschen Zuständen im Diesseits abzulenken versuche. Die Gütergemeinschaft sei die gottgewollte Wirtschaftsform und ganz im Gegensatz dazu seien Eigentümer wie auch deren Ursache, die Habgier, ein Sakrileg. Adam sei bestraft worden, weil er aus Habgier in den Apfel gebissen habe.

Ob Winstanley zumindest von Morus’ Utopia Notiz genommen hatte, ist unbekannt. Jedenfalls unterscheidet sich seine skizzierte Gütergemeinschaft nicht wesentlich von den Gütergemeinschaften auf Utopia und in der Civitas Solis. Die kleinste Einheit der Gemeinschaft stellt die Familie dar, wovon jede ein bestimmtes Gewerbe betreibt und dabei hilft, die Lagerhäuser und Scheuern der Gemeinschaft mit allen notwendigen Gütern zu füllen. »Und wenn irgendein einzelner oder eine ganze Familie Getreide oder sonst etwas Lebensnotwendiges braucht, so mögen sie es sich unentgeltlich aus den Lagerhäusern holen.« (Winstanley 1652: 254) Die Organisation der Produktion regeln sogenannte Vorsteher, die demokratisch gewählt werden. Sie sorgen dafür, dass genügend Arbeitsmittel vorhanden sind, die Familien ihre Güter in die Lager bringen, die Lager in allen Belangen ausreichend gefüllt sind und jeder Jugendliche einen Beruf erlernt, in der Regel den seiner Eltern.

Die Frage, die Aristoteles und Zuhörer in Morus’ und Campanellas Romanen stellen: was die Menschen in der Gütergemeinschaft zur Arbeit anhalte, wird in Winstanleys Schrift zwar nicht zitiert, aber beantwortet. Zunächst scheint es so, als vertraue er der Nächstenliebe; aus dieser heraus würden die Menschen füreinander arbeiten. Indes reicht diese offenbar nicht aus. Denn die Vorsteher gehen nicht nur Organisationsaufgaben nach, sondern achten darauf, dass jede Familie ihren Teil zur Arbeit beiträgt und keiner dem Müßiggang frönt. Den von Winstanley ausformulierten Gesetzen nach soll, wer der Arbeit erstmals unbegründet fernbleibe, öffentlich gemaßregelt, beim zweiten Mal ausgepeitscht und beim dritten Mal mit zwölf Monaten Zwangsarbeit bestraft werden. Winstanley erhofft sich von der Zwangsarbeit nicht nur einen materiellen Gewinn für die Allgemeinheit, sondern auch den Reifungsprozess der Müßiggänger zu anständigen Mitgliedern der Gütergemeinschaft. Im Gegensatz dazu sollen Verstöße gegen das Gemeineigentum als Sakrileg unversöhnlich bestraft werden. Wer irgendwas kauft oder verkauft, soll hingerichtet werden.

Frühsozialismus: Kooperation statt Konkurrenz, Gemeinnutz statt Eigennutz

Als Frühsozialismus wird diejenige vormarxistische sozialistische Strömung bezeichnet, die mit der Französischen Revolution einsetzte. Im Unterschied zu den bürgerlichen Revolutionären verlangten die Frühsozialisten, nach einem Bericht von Heinrich Heine, »nicht bloß Gleichheit der Gesetze, sondern auch Gleichheit der Genüsse« (Heine 1840: 96).

Wie schon die Digger suchten auch die Frühsozialisten das Glück auf Erden. Auch sie richteten die Vorstellungen, die vorher auf ein Reich Gottes hin gespannt waren, aufs Diesseits; was bisher als Ausgang der göttlichen Vorsehung ersehnt ward, wurde nun als politisches Ziel proklamiert. Der englische Frühsozialist Robert Owen deklarierte die Gütergemeinschaft im Wortlaut der biblischen Propheten (Michah 4,4) als einen Zustand, in dem »jeder Mensch ohne Angst unter seinem eigenen Weinstock und Feigenbaum sitzt« (Owen 1835: 122). Auf dem ersten sogenannten Pariser Kommunistischen Bankett von 1840 wurde der Sozialismus als gelobtes Land gepriesen (vgl. Höppner u. a. 1975: 429.). Und der französische Frühsozialist Victor Considerant erwartete von der Umsetzung der sozialistischen Gütergemeinschaft nicht weniger als die »soziale Verwirklichung des Christentums, die Ankunft des Himmels und seiner Gerechtigkeit auf Erden, das wieder gewonnene Paradies!« (Considerant 1841: 248 f.) In solchen Worten zeigt sich zum einen, wie tief ausgerechnet die sozialistische Bewegung, die seit dem Kommunistischen Manifest ihren wissenschaftlichen und antiutopischen Charakter zu betonen nicht müde wurde, vom Heilsversprechen berührt war. Zum anderen zeigt sich in den Worten das materielle Versprechen der Moderne. Die Frühsozialisten waren die Zeitzeugen des hereinbrechenden Industriezeitalters. Sie erlebten, wie binnen kürzester Zeit gewaltige Produktivkräfte erwuchsen. Nach der Erfindung der Spinnmaschine konnte plötzlich ein Arbeiter so viel Tuch produzieren wie zuvor zweihundert. Und zugleich sahen die Frühsozialisten, wie trotz des Wachstums der Industrie die Zahl derjenigen wuchs, die in den Fabriken schufteten und in hässlichen Stadtvierteln in beengten Verhältnissen darbten. Mit dieser Schieflage von Fortschritt der Industrie und Verschleiß von Menschen wollten sich die Frühsozialisten nicht abfinden – die anstehende Aufgabe schien ihnen offensichtlich: »Wie schafft man das größte Angebot der wertvollsten Produkte mit dem geringsten Aufwand an Arbeitsleistung und mit größtem Nutzen für alle – das ist das Problem, welches die Wissenschaft aufgefordert ist zu lösen.« (Owen 1827: 36 f.). Die Lösung des Problems verkündeten die Frühsozialisten gleich mit: die Gütergemeinschaft. Dass die Menschen im Elend lebten, liege an der mangelnden Organisation der Arbeit. Statt zu konkurrieren, müssten die Produzenten kooperieren (Babeuf 1795: 60 f.). Man müsste »alle Tätigkeiten, Anstrengungen, Talente und Energien zentralisieren, konzentrieren, kombinieren, vereinigen und in Übereinstimmung bringen« (Dézamy 1842: 502). Während die Frühsozialisten in anderen Fragen unterschiedlicher Auffassung waren, etwa jener, ob der erwünschte Zustand friedlich oder militant, gegen oder mit der Bourgeoisie zu erreichen sei, waren sie sich in dem Ziel einer organisierten gesellschaftlichen Produktion einig. Sie wollten die Gütergemeinschaft oder Kommune, wie sie schon durch Morus, Campanella und Winstanley beschrieben worden war. Das Privateigentum müsse abgeschafft, die Arbeit kooperativ geleistet und gemeinsame Vorratsspeicher angelegt werden.

 

Auf die alte Frage Aristoteles’, wie in einer Gesellschaft, in der an die Stelle des Privateigentums das Gemeineigentum getreten wäre, die Bürger zur Arbeit angehalten würden, lässt sich im Frühsozialismus oft eine Antwort finden, die schon bekannte: Müßiggang sei ein Kapitalverbrechen und müsse hart bestraft werden, zum Beispiel mit Verbannung oder Zwangsarbeit.9 Die Frühsozialisten waren zumeist der Überzeugung, dass das Gemeinwohl zu schützen sei und dem individuellen Wohl schließlich zugutekäme, während umgekehrt jeder Egoismus dem Gemeinwohl schade und folglich auch allen Einzelnen. Gemeinnutz vor Eigennutz. Manche Frühsozialisten haben den individuellen Genuss regelrecht verachtet (z. B. Laponneraye 1838: 291 u. 282). Bei der Beurteilung dieses Antiindividualismus müssen gleichwohl mildernde Umstände in Erwägung gezogen werden, insbesondere historische: Die Frühsozialisten erlebten die kapitalistische Produktionsweise in ihrer besonders brutalen und durch keinen Sozialstaat gemilderten Entstehungsphase. Die Proletarisierung der Bauern und Handwerker und im Gegensatz dazu die Aufhäufung des Reichtums durch die Reichen ließen kaum einen anderen Schluss zu als den, dass einige Wenige auf Kosten vieler Armer lebten. Die überkommene Ständeordnung bestand teils fort; oftmals waren es Adlige, die aufgrund ihrer überlieferten Privilegien und ihres Landbesitzes zu den Gewinnern der hereinbrechenden kapitalistischen Epoche wurden und dabei ihr überkommenes Weltbild pflegten, wonach Standesunterschiede und das ausbeuterische System der Herrschaft gottgegeben seien. Die Frühsozialisten verurteilen das Wohlleben und den Reichtum der Oberschicht als Ursachen der weit verbreiteten Armut und hofften auf eine sozialistische Zukunft, in der das Allgemeinwohl geachtet und Arbeit und Reichtum gerecht verteilt würden.

Friedrich Nietzsche warnte davor, dass mit dem sozialistischen Ruf nach absoluter Gerechtigkeit eine neue »Schreckensherrschaft« errichtet würde, durch die das Individuum in ein »zweckmässiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll« (Nietzsche 1878: Aph. 473). Wie vorausschauend, könnte man heute meinen – angesichts des Realsozialismus. Vielleicht aber hatte Nietzsche schlichtweg die Schriften des Frühsozialisten Théodore Dézamys gelesen und ernst genommen. Dieser meint, die Gesellschaft sei wie ein Organismus und jeder Mensch wie ein Organ. Und kein Organ dürfe dabei versagen, seine Funktion auszuüben! Jedes Organ müsse dem Gemeinwohl dienen! Und wenn nicht? »Wenn aber ein Organ von diesem physiologischen Gesetz abweicht? Dann ist es irgendwie unpässlich, krank oder verletzt.« (Dézamy 1842: 492 f.) Was nun macht man mit einem kranken Organ? Man versucht, es zu heilen, es umzubessern. Bisweilen regen die Frühsozialisten auch restriktivere Maßnahmen an: etwa Ausstoßung (Owen 1827: 61).

Insoweit unterscheiden sich die Vorstellungen der Frühsozialisten kaum von denen Morus’, Campanellas und Winstanleys. Neu war, dass sich die Frühsozialisten keine Existenz als »Digger« vorstellen wollten. Wenngleich viele frühsozialistischen Utopien noch in ländlichen Kommunen angesiedelt sind, wird die Industrialisierung nicht abgelehnt, sondern erhofft. Auch die mit Industrialisierung und Handel einhergehende Globalisierung soll im Zusammenhang der Kommunen aufbewahrt werden; viele Frühsozialisten bauten darauf, dass die Grenzen zwischen Völkern verschwinden, Fahnen und Folklore der Vernunft weichen und die Menschen auf Erden zu einem einzigen Volk würden. Um es mit einem deutschen Frühsozialisten auf den Punkt zu bringen: »Unsere Sache ist keine deutsche, sondern eine menschliche« (Becker 1844).

Ein zentrales Thema waren Industrie und Industrieorganisation allerdings bei den wenigsten Frühsozialisten. Wenn doch, so nahmen sie nicht selten die sozialistische Administrativwirtschaft oder gar Zentralverwaltungswirtschaft des Realsozialismus in Grundzügen vorweg (etwa Blanc 1839: 362 und Cabet 1841: 385 f.). Ausgestaltet wurde das Konzept von solcherart Planwirtschaft dann besonders durch Claude-Henri de Saint-Simon und dessen Anhänger, die Saint-Simonisten. Sozialismus, so ließe sich ihre Lehre zusammenfassen, sei durch die kooperative und fachmännische Direktion der Industrie gekennzeichnet. Industriedirektoren werden im Sozialismus noch wichtiger werden und die Leitung der Gesamtindustrie übernehmen, die Verwaltung perfektionieren, einen genauen Plan der durch die Gesellschaft zu leistenden Arbeiten aufstellen und den Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten ihren Platz im Produktionsorganismus zuweisen. Die Befürchtung, wonach diese »Oberen« falsch entscheiden oder willkürlich handeln könnten, sahen die Saint-Simonisten gelassen: »Zweifellos ist irren menschlich; doch wird man zugeben müssen, daß Menschen mit hervorragenden Fähigkeiten, die den Standpunkt der Allgemeinheit im Auge haben und nicht betriebsblind sind, in ihren Entscheidungen seltener fehl gehen.« (Carnot 1830: 166) Die Anklänge an Platon sind deutlich herauszuhören, auch in einer weiteren Hinsicht: Erziehung sei wichtig. Jeder müsse lernen, beflissen zur Gesellschaft beizutragen, ob als Direktor eines Betriebes, als Bauer auf dem Feld, als Arbeiter an einer Maschine, als Wissenschaftler in der Forschung oder als Künstler bei der Fertigung von Kunstwerken zum Wohle der Gesellschaft. Jene, die nichts beitragen, etwa Adlige, Grundstücksbesitzer, Wucherer und Herumtreiber, werden in der sozialistischen Industriegesellschaft nicht geduldet. Sämtliche Geburtsprivilegien und das Erbrecht werden abgeschafft und der liberale Individualismus durch ein christliches Miteinander abgelöst. Das Prinzip dieser Gesellschaft werde sein: »Jedem eine Arbeit nach seinen Fähigkeiten und jedem ein Entgelt nach seiner Leistung.« Das war der Leitspruch der Saint-Simonistischen Zeitung Le Globe, die 1831 und 1832 erschien. Etwas einprägsamer wurde er zum Motto der Saint-Simonisten: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung!« Ganz neu war dieses Motto keineswegs; ähnlich hatte es schon in Campanellas Sonnenstaat geheißen: »Die Behörden achten streng darauf, daß keiner mehr erhält, als er verdient.«

Von Marx glauben wir zu wissen, dass Geschichte immer zweimal stattfindet: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Doch im Falle des Sozialismus verhielt es sich umgekehrt. Die Tragödie begann 1917 in Sowjetrussland. Die Farce aber hatte zuerst stattgefunden: als Realfrühsozialismus in den USA.

Die USA boten im 19. Jahrhundert zahlreichen Immigranten aus Europa, die zu neuen Horizonten aufbrechen wollten, genug Raum. Im Zuge dieser Einwanderungswellen spülte es auch viele Utopisten an Land, darunter auch Frühsozialisten (z. B. Victor Considerant, Robert Owen, Étienne Cabet), die dort Siedlungen nach eigenen Grundsätzen gründeten. »Die Geschichte dieser Experimente ist ein eintöniger Bericht von Mißerfolgen.« (Hillquit 1903d: 84) Nahezu alle Frühsozialisten gaben nach ein oder zwei Jahren schon auf – pleite, erschöpft und von Mücken zerstochen.

Beachtenswert an der Geschichte dieser frühsozialistischen Gemeinden in den USA ist, dass im Gegensatz zu ihnen die benachbarten und gleichzeitig entstandenen christlichen Gemeinschaften ungleich länger durchhielten, obwohl auch diese oft quasi-kommunistisch – von der Urkirche inspiriert – als Gütergemeinschaften gegründet worden waren. Die Gründe für diese Differenz mögen vielfältig gewesen sein: Zum einen waren die sozialistischen Gemeinden oftmals so demokratisch organisiert, dass sie sich an jeder Streitfrage spalteten, während die christlichen Gemeinden brav ihren jeweiligen Führern folgten. Zum zweiten wurden die christlichen Gemeinwesen durch die Religion zusammengehalten. Sie zerfielen nicht so schnell und gaben auch dem größten Leid einen Sinn. Zum dritten rekrutierten sich die christlichen Sekten in der Regel aus europäischen Bauern und Handwerkern. Die sozialistischen Siedler hingegen waren vornehmlich freie Geister aus dem europäischen Bürgertum. Und als solchen erging es ihnen wie Bouvard und Pécuchet im Roman von Gustave Flaubert: Ihr romantischer Dilettantismus versagte vor der Realität, ihr argloser Übereifer verpuffte nach ein paar Monaten Land- und Bauarbeit. Zum vierten hielten die christlichen Gemeinden nicht verbissen an der Gütergemeinschaft fest. Wesentlicher war ihnen ihr Glauben und Fortbestand: »So war ihr materieller Erfolg zum guten Teil nicht ihrem Kommunismus, sondern ihrem Abfall vom Kommunismus zuzuschreiben.« (ebd.: 130)

Dieses Urteil über die Misserfolge der frühsozialistischen Gemeinden in den USA stammt von dem dortigen Gründer der Sozialistischen Partei, Morris Hillquit. Ist er vom sozialistischen Glauben abgefallen? Nein, Hillquit war Marxist und hielt nicht viel von den frühsozialistischen Versuchen: »Die Zeiten der Robinson Crusoes, mögen es Individuen oder Gesellschaften sein, sind […] vorbei. Die industrielle Entwicklung der letzten Jahrhunderte hat eine große gegenseitige Abhängigkeit der Menschen und Nationen voneinander geschaffen, und hat die Menschheit tatsächlich zu einem einzigen organischen Körper gemacht. In der Tat sind alle die bewundernswerten Werke unserer heutigen Zivilisation ein Produkt der bewußten oder unbewußten Zusammenarbeit der Arbeiter auf dem Felde, in den Gruben, auf den Eisenbahnen und den Dampfschiffen, in den Fabriken und Laboratorien der ganzen Welt; das einzelne Glied der Gesellschaft leitet seine Macht einzig und allein von der Teilnahme an dieser großen kooperativen Arbeit oder ihren Resultaten ab, und kein Mensch, so wenig wie eine Gruppe von Menschen, kann sich von ihr trennen, ohne in die Barbarei zurückzusinken. Diese Unteilbarkeit des gesellschaftlichen Organismus war der Fels, an dem alle kommunistischen Experimente scheiterten.« (ebd.: 131) Kommunismus, so gibt der Marxist Hillquit zu verstehen, wird nur im großen Stile funktionieren.

Kommunismus: Herrschaft der Vernunft?

Nikolaj Tschernyschewskis Was tun? von 1863 gehörte im späten 19. Jahrhundert zu den bekanntesten sozialistischen Werken. Zu Beginn des Romans sitzt die Hauptfigur, Wera Pawlowna, im Haus ihrer Familie fest, darauf wartend, dass ein möglichst reicher Mann erscheine, ihren Eltern gefalle und mit ihr eine Familie gründe. Als sie der Dinge harrt, die da kommen mögen, widerfährt ihr ein Albtraum: Sie ist im Keller eingeschlossen. Daraus erwacht, begreift sie den bösen Traum als Parabel ihrer Lebenssituation und will aus dem Keller ausbrechen. Sogleich ergreift sie die Initiative, lernt Sozialisten kennen, liest wissenschaftliche, sozialistische Abhandlungen (von westeuropäischen Frühsozialisten) über Wirtschaft und Liebe, emanzipiert sich von ihrem Elternhaus, führt eine moderne, nicht der Tradition, sondern der Vernunft gehorchende Beziehung und gründet eine genossenschaftliche und erfolgreiche Näherei. Nachdem sie ihr Leben derart vernünftig eingerichtet hat, träumt sie wieder, diesmal von einem sozialistischen Russland, »so fruchtbar wie jener Landstrich, von dem man im Altertum sagte, dort flössen Milch und Honig« (Tschernyschewski 1863: 521), bewirtschaftet von Menschen, die nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander arbeiten und sich abends in Gemeinschaftsunterkünften treffen, die lichtdurchflutet sind, ähnlich dem »Schloß auf dem Hügel von Sydenham: Stahl und Glas – weiter nichts« (ebd.: 517). Mit diesem Schloss ist ein Gebäude gemeint, das damals, ein Jahrzehnt zuvor, im Londoner Stadtteil Sydenham als Hauptgebäude der Weltausstellung errichtet worden war und seines Glases und Gerüstes wegen in der Weltöffentlichkeit Kristallpalast genannt und zum Symbol der Moderne wurde. Heute sind solche lichtdurchfluteten Gebäude Legion, damals bereitete der riesige, helle Innenraum seinen Besuchern einen magischen Moment. In besagtem sozialistischem Traum trifft sich abends die Kommune im Kristallpalast, hell erleuchtet durch elektrisches Licht. Vom finsteren Kellerloch in die hell erleuchtete Zukunft. Tschernyschewski fordert seine Leser auf, es der Romanheldin gleich zu tun: »Erhebt euch aus eurem Kellerloch, meine Freunde, erhebt euch, es ist nicht so schwer, kommt heraus in die freie, helle Welt« (ebd.: 438).

 

Ein Leser antwortete Tschernyschewski schnell und ausführlich. Dostojewski veröffentlichte 1864, ein Jahr nachdem Was tun? erschienen war, die Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Darin sträubt sich der Ich-Erzähler, in jene angepriesene freie, helle Welt zu streben. Das Leben, so argumentiert er, sei mehr als Vernunft. Würde es dieser vollständig untergeordnet, so würden die Menschen vielleicht funktionstüchtig werden, aber zugleich einen Gutteil ihres Lebens aufgeben. Jenseits der Existenz im Kellerloch im Diesseits reiner Vernunft, das von den modernen Humanisten als Paradies angepriesen wird, drohe eine viel schlimmere Existenz. »Sie glauben an den Kristallpalast, den in aller Ewigkeit unzerstörbaren, also an etwas, dem man weder heimlich die Zunge herausstrecken noch die Faust in der Tasche ballen kann. Nun, und ich fürchte diesen Palast vielleicht gerade deshalb, weil er aus Kristall und in alle Ewigkeit unzerstörbar sein wird und weil man ihm nicht einmal heimlich die Zunge wird herausstrecken können.« (Dostojewski 1864: 41) Die Unkenrufe des Kellerbewohners erwiesen sich, wie der Realsozialismus zeigte, als richtig. Und auch auf Utopia müsste er seine Zunge hüten. »Nichts kann bei Tische gesagt oder getan werden, was den Nachbarn ringsum entginge«, die Türen der Häuser können nicht verschlossen werden, es gibt »keinerlei Privatbereich«, »keine Weinstube, keine Bierschenke, nirgendwo ein Freudenhaus, keine Gelegenheit zur Verführung, keinen Schlupfwinkel, keine Lasterhöhle. Vor aller Augen vielmehr muß man seine gewohnte Arbeit verrichten oder seine Freizeit anständig verbringen.« (Morus 1516: 52 u. 62 f.) Utopia wäre für den Kellerbewohner die Hölle!

Und wie würde es ihm in der kommunistischen Gesellschaft ergehen, die so eingerichtet wäre, wie Marx es sich gewünscht hat? Marx kritisierte die kapitalistische »Anarchie« und zielte auf »durchsichtige« ökonomische Verhältnisse (Marx 1871: 343 u. 1872k: 93). Malt er sich einen Kristallpalast aus und die Herrschaft der Vernunft? Oder vermag er wirtschaftliche Verhältnisse zu denken, die vernünftig sind, ohne dass die Vernunft im buchstäblichen Sinne herrscht und ohne dass das Wirtschaftsleben der Gesellschaft von oben bestimmt wird?

Marx

Proportionale Produktion

So detailliert, wie etwa Thomas Morus Utopia vorstellt, schildert Karl Marx den Kommunismus nicht. Eine Utopie auszumalen, war nicht sein Anspruch. Er wollte keine Luftschlösser erfinden, sondern die herrschende Gesellschaft kritisieren und darin die objektiven Tendenzen des Kommunismus auffinden.10 Mit dem Anspruch der Kritik der herrschenden Gesellschaft war es Marx so ernst, dass er die letzten drei Jahrzehnte seines Lebens an seiner Kritik der politischen Ökonomie saß – ein Mammutwerk und »Monument prätentiöser Pedanterie« (Wells 1921: 24), das abgesehen von Kapital Band I niemals fertig wurde (Bd. II u. III hat Engels mühsam aus dem vorhandenen Manuskriptwust zusammengeflickt; überdies vorhanden sind Vorstudien, Notizen, Texte, Briefe etc.). Seite um Seite versucht Marx darin den kapitalistischen Wirtschaftsprozess nachzuvollziehen. Die kommunistische Gesellschaft wird dabei nirgends eingehend erläutert, bildet aber Ferment und Fluchtpunkt der Kritik, wird gelegentlich blitzlichtartig als Verneinung, Nachfolgerin und Nutznießerin der kapitalistischen Gesellschaft näher bestimmt und gewinnt so an Gestalt.

In einem Brief (an Ludwig Kugelmann) erklärt Marx das Problem, dem sich alle Produktionsweisen stellen müssen, auch die kommunistische. Hier soll dieser Brief, bei der Rekonstruktion des Kommunismus aus den Schriften Marx’, als Vademecum dienen: »Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellt, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, daß die den verschiednen Bedürfnismassen entsprechenden Massen von Produkten verschiedne und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsform ändern kann, ist self-evident. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiedenen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionale Verteilung der Arbeit durchsetzt in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte. Die Wissenschaft besteht nun eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt. […] Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft besteht eben darin, daß a priori keine bewußte gesellschaftliche Regelung der Produktion stattfindet. Das Vernünftige und Naturnotwendige setzt sich nur als blindwirkender Durchschnitt durch.« (Marx 1868: 552 f.)

Drei Aussagen aus diesem Briefabschnitt sollen hervorgehoben werden: a) In jeder Gesellschaft muss gearbeitet und die Arbeit den zu befriedigenden Bedürfnissen gemäß auf die verschiedenen Produktionszweige verteilt (proportioniert) werden. b) Der gesellschaftliche Zusammenhang der Produktion und die proportionale Verteilung der Arbeit regeln sich in der bürgerlichen, sprich kapitalistischen Gesellschaft, blindlings vermittels des Tauschwerts und des Wertgesetzes. c) Der Fluchtpunkt ist bewusste proportionale Produktion zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung.11