Anika, Omas später Besucher

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Hannelore Deinert

Anika, Omas später Besucher

Bei der letzten Reise nimmt man besser kein schweres Gepäck mit.

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Beerdigung

Omas Haus

Oma ist einverstanden.

Das Hochzeitsbild

Ein unheimlicher Besucher

Die Beichte

Im Schatten der Kapelle

Verzeihen und versöhnen

Der Heimkehrer

Impressum neobooks

Die Beerdigung

Lina wollte nach der Beerdigung allein sein. Zwar hatte sie wie die Erwachsenen eine Rose und damit einen flüchtigen Blick auf den mit Lilien geschmückten Sarg in der Grube werfen dürfen, aber dann hatte sie genug gehabt von den traurigen, verheulten Gesichtern und bekümmerten Mienen der Nachbarn und Bekannten. Nachdem sich die Trauergesellschaft in ein Gartenlokal zum Leichenschmaus, allein schon dieses Wort fand Lina schaurig, zurückgezogen und bei Kaffee und Kuchen der lieben Verstorbenen gedachten, Lina eine große Tasse Kakao getrunken und ein Stück Erdbeertorte mit einem Klecks Sahne darauf verdrückt und sich dabei ihr dunkelblaues Hängekleidchen verkleckert hatte, schlich sie davon. Niemand vermisste sie jetzt, Mama, Papa, Tante Edith und die anderen waren viel zu sehr mit sich und ihrer Trauer beschäftigt.

Lina lief durch eine Wiese, es summte und brummte und schwirrte um sie her, im hohen Gras rupfte und roch sie an Gänseblümchen, Sauerampfer und blühendem Klee, hinunter zum See und entdeckte an der Uferböschung, hinter dichtem Schilf und hohen Brennnesseln versteckt einen Kahn, der sich sanft auf den ans Ufer plätschernden Wellen wiegte. Sie trat die hohen Brennnesseln, die ihre nackten Arme und Beine streiften nieder und bahnte sich einen schmalen Pfad zum Kahn hinunter, kurzentschlossen kletterte sie hinein. Sie löste die Leine, mit der er an einem in die Böschung geschlagenen Pfahl gebunden war, griff sich das Ruder und stieß sich damit vom Ufer ab. Sie setzte sich auf die Ruderbank und schaute zu, wie sich das Ufer geruhsam entfernte. Es war so still und friedlich, nur das leise Glucksen der Wellen an der Bootswand und ein frohes Vogelgezwitscher war zu hören. Sie legte sich auf die harten Holzplanken, legte die Füße mit den Socken und Sandalen auf die Ruderbank, verschränkte die Arme unter dem Nacken und schaute zu den weißen, lockeren Wolkengebilden hinauf, die wie auseinandergezogene Wattebälle am lichtblauen Himmel hingen und sich langsam, sehr langsam veränderten. Lina dachte an ihre Oma, dabei kringelte sie, wie immer, wenn sie nachdachte, eine ihrer rotblonden Haarsträhnen um einen Finger. „Ob sie wohl jetzt dort oben ist, irgendwo?“, grübelte sie. „Vielleicht sitzt sie auf einer der Wolken und schaut zu ihr herab? Nein, das war nicht möglich, was wollte sie da oben, außerdem hatte Oma Höhenangst.“

Es war ihr schon aufgefallen, wie zittrig und vergesslich sie in letzter Zeit geworden war und für alles ein wenig länger brauchte wie sonst. Einmal, als das Zittern besonders arg war, wollte Lina wissen, wenn sie, die Oma, einmal sterben muss, ob sie dann in den Himmel kommt. Oma hatte sich mit ihrer umständlichen Art neben sie gesetzt, sie mit einem seltsam lagen Blick angeschaut und gesagt:

„Eher nicht, Lina. Der Himmel ist für die Braven reserviert und dazu gehör’ ich leider nicht. Ich habe in meinem Leben unbedachte und unverzeihliche Dinge getan.“

„Nie und nimmer, Oma, wie kannst du sowas sagen!“, hatte ihr Lina heftig widersprochen und die Arme um sie geschlungen. „Du bist die beste Oma der Welt!“

Ja, das stimmte, Oma war unglaublich lieb, sie schimpfte nie, war nie ungeduldig oder gar zornig, immer nur wuselte sie still in ihrem Haus und in ihrem Gemüsegarten herum, in dem auch ein Apfel- und ein Pflaumenbäumchen standen. Jeden Herbst waren sie so schwer beladen, dass die ganze Familie bei der Ernte und beim Einkochen mithelfen musste. Dann war der Gefrierschrank zu Hause so proppenvoll mit Pflaumenmus und Apfelkompott, das sie locker den ganzen Winter davon essen konnten. Jedenfalls konnte Lina nicht glauben, dass für ihre Oma, die zu jeder Zeit bereit war für die Enkel und deren Freunde Pfannkuchen oder Kartoffelpuffer mit Apfel- oder Pflaumenmus zu kochen, nicht ein hervorragender Platz im Himmel reserviert sein sollte. Doch dann fiel ihr ein, dass Oma einmal mit einem wehmütigen Seufzer gesagt hat, dass der Himmel für sie schon auf Erden sei, hier bei ihren Kindern und Enkeln und in ihrem Haus und ihrem Garten. Einen andern Himmel könne sie sich nicht vorstellen.

„Aber“, hatte Lina besorgt gefragt, „wenn du einmal tot bist, Oma, wo willst du dann hin?“

„Hm, Lina, vielleicht hab‘ ich ja Glück und bleib‘ in euren Herzen.“

„Ja“, sinnierte Lina, „das hat Oma gesagt. Und jetzt war sie wirklich tot? Aber was heißt tot sein eigentlich? Besonders lang und besonders fest zu schlafen, weil man besonders müde geworden ist? Wer bestimmt das und wer weckt einem nach einer angemessenen Zeit wieder auf, so wie es zum Beispiel die Eltern jeden Morgen tun? Der liebe Gott, dessen Kinder wir sind und der gescheiter als der gescheiteste Mensch ist?

Jemand rief ihren Namen, Lina rappelte sich hoch und sah Micha und ihren Cousin Karsten am Ufer stehen, hinter ihnen kamen die Eltern und Tante Edith über die Wiese hergelaufen, sie riefen und gestikulierten aufgeregt. Dann watete Micha ins Wasser und graulte zu ihr herüber. Er zog sich prustend am Kahn hoch, plumpste ins Boot und nahm das Ruder in die Hände, dabei schimpfe er wie ein Rohrspatz: „Wirklich, Lina, wie kannst du den Eltern das antun, gerade heute. Was glaubst du, wie lange wir dich schon suchen!“

Omas Haus

Jedenfalls war es Lina am nächsten Morgen überlassen, ob sie sich stark genug fühlte, um in die Schule zu gehen. Trotz der grausig juckenden Pusteln auf ihren Waden und Armen, die sie sich gestern am Seeufer bei den Brennnesseln geholt hatte, Mama hatte sie noch am Abend dick mit Wundpuder bestäubt, wollte Lina in die Schule gehen, schon wegen Anika. Sie hatte ihr versprochen von Omas Beerdigung zu erzählen, ihr Uropa ist nämlich voriges Jahr auch gestorben.

Frau Ullrich, die Klassenlehrerin, ermahnte die Schüler heute besonders rücksichtvoll zu Lina zu sein, denn ihre Oma sei überraschend gestorben und sie sei deshalb sehr traurig. Lina war das peinlich, sie war gar nicht traurig, jedenfalls nicht hier in der Klasse. Zum Glück vergaßen die Mitschüler schnell ihre Rücksichtnahme und verhielten sich ganz normal.

Nach der Schule tigerten Lina und Anika, sie hatten ein stückweit denselben Weg, nach Hause. Lina erzählte von der Beerdigung, wie schrecklich traurig alle gewesen waren, Mama und Tante Edith hätten andauernd geweint und taten es immer noch. Aber sonst sei sie, die Beerdigung, recht feierlich und ergreifend gewesen, meinte sie.

„Bei meinem Uropa hat keiner geweint“, erinnerte sich Anika. „Vielleicht weil er schon uralt war. Mama sagte, die Beerdigung sei so eine Art Abschiedsfeier für Uropa gewesen.“

„Ja, das stimmt“, nickte Lina. „Aber wo sind sie jetzt, Anika? Wo ist dein Uropa und meine Oma jetzt?“

„Na, wo schon? Im Himmel natürlich.“

Sie kamen auf die Idee, den kleinen Umweg zu Omas Haus zu machen, um zu sehen, wie es dort aussieht, ohne Oma. Man konnte es sich gar nicht vorstellen.

Neben dem Gartentürchen ragten aus dem Briefkastenschlitz Reklamezettel. Lina ließ sie stecken und kletterte über den Jägerzaun, das machten sie und Micha immer, auch wenn es Oma nicht recht war, denn Papa musste ständig die lockere Latte wieder annageln. Anika kletterte ihrer Freundin hinterher und folgte ihr auf dem gepflasterten, mit Löwenzahn und Klee bewachsenen Weg zur Haustür. Während Lina im Geranientopf auf der Küchenfensterbank nach dem Hausschlüssel tastete, Oma verwahrte ihn immer dort, betrachtete Anika das schwerbeladene Pflaumenbäumchen im Vorgarten und, wie immer wenn sie da war, das hübsche, mit blauen Vergissmeinnichten umrandete Keramik-Schildchen neben der Haustür, mit der Nummer 7 und dem Namen „Liselotte Huber“darauf, es hatte Linas Mama modelliert. Lina aber, den Schlüssel in der Hand, beschlich eine ungewohnte Scheu, durften sie überhaupt, ohne Oma gefragt zu haben das Haus betreten? Es war so merkwürdig ruhig hier, fast schon ein wenig unheimlich. Oma hatte nie etwas dagegen gehabt, wenn sie und Micha ihr Haus eroberten, Zimmer für Zimmer, wenn sie Schätze fanden, von denen sie einiges mit nach Hause nehmen durften. Im Speicher konnte man in Kartons die tollsten Dinge entdecken, ein „Schwarzes Peter Spiel“ zum Beispiel, vergilbt zwar und mit seltsamen Bildern, aber deshalb umso interessanter, oder fantasievolle Holzmarionetten. Micha fand einmal einen großen, mit Löchern versehenen Holzkubus und in einem Leinenbeutel die dazugehörenden Spielfiguren.

 

„Ein Reise- Schach- und Mühlespiel“, hatte Oma lächelnd erklärt. „Es gehörte eurer Mutter und eurer Tante Edith. Es sind Erinnerungsstücke, behandelt sie gut.“

Sie durften den Keller erforschen, in dem das unergründliche Sammelsurium eines langen Lebens lagerte, kistenweise seltsames Küchengerät, Vasen, Töpfe, Spielsachen aus Blech, beispielsweise eine Blechtrommel, alte Teppiche, Kleider, Hüte, Gartengeräte, es war herrlich darin zu forschen und zu entdecken. Aber heute war es anders, heute war Oma nicht da. Als nun Lina mit dem Hausschlüssel in den Händen und Anika neben sich, so zögernd vor dem ihr so vertrauten Häuschen stand, da glaubte sie Omas liebe, alte Stimme zu hören:

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