Tanz in die Angst

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Tanz in die Angst
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Hanna Zimmermann

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

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Dieses Werk wurde vermittelt von der Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/chaoss (Regentropfen), MikeDotta (Frauenkopf)

Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-89425-763-7

1. Auflage 2020

Nach ihrem Studium der Germanistik und Wirtschaftswissenschaften arbeitete Hanna Zimmermann zunächst in der Automobilbranche als Referentin im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Seit 2018 ist sie für eine internationale Netzwerkagentur als PR-Beraterin für Kunden aus der ganzen Welt tätig. Ihr Herz und ihre Leidenschaft gehörten aber schon immer dem Schreiben und Erzählen von Geschichten.

Für Mama und Philip

Teil 1
Erschrecken

Doch Dämonen, schwarze Sorgen,

Stürzten roh des Königs Thron. –

Trauert, Freunde, denn kein Morgen

Wird ein Schloß wie dies umlohn!

Was da blühte, was da glühte

– Herrlichkeit! –

Eine welke Märchenblüte

Ist’s aus längst begrabner Zeit.

Edgar Allan Poe,

»Das Geisterschloß«

»Alle haben geschrien und alle haben geweint. Das machen brave Mädchen so, sie zieren sich ein bisschen. Ich weiß, dass du es auch tun wirst, meine kleine Ballerina. Weil du weißt, was sich gehört. Und bald bin ich bei dir. Nicht mehr lange, meine Kleine. Dann gehörst du mir.«

Er schloss die Datei, nachdem er die letzten Worte getippt hatte, und machte sich auf den Weg.

1

Der Tag, an dem sie ihre Seele verlor, war ein Mittwoch.

Sophie lächelte, als sie die Haustür öffnete. Sie betrat das Treppenhaus und ließ die Tür ins Schloss fallen, ohne sich umzudrehen. Warum sollte sie auch?

Mit dem Fahrstuhl fuhr sie die drei Stockwerke bis in ihre Wohnung hinauf, warf ihren roten Wollmantel über die Garderobe, zog sich aus und stieg unter die Dusche.

Als sie zwanzig Minuten später in Shorts und mit der neuesten Ausgabe der »InStyle« auf dem Sofa saß, schreckte sie ein lautes Geräusch aus der Küche auf. Ihr Körper spannte sich instinktiv an, die kleinen Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Sie lebte allein. Wer sollte dort also etwas fallen lassen? Doch genau danach hatte es sich angehört.

Beruhige dich!

Die Küche lag auf dem Weg zur Tür. Sie musste an ihr vorbei, um aus der Wohnung zu kommen.

Du spinnst doch, dachte sie. Niemand bricht in den dritten Stock eines Altbaus ein und wirft dann deine Sachen durch die Gegend.

Sie lockerte ihre steifen Muskeln, wickelte die Zeitschrift in ihrer Hand zu einer festen Rolle und ging langsam auf die Küchentür zu. Als sie die Klinke drückte und blitzschnell nach dem Lichtschalter tastete, fragte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde, was sie denn tun würde, wenn sich wirklich jemand hinter der Tür befand. Ihn mit der »InStyle« verprügeln?

Das Licht erhellte den kompletten Raum innerhalb einer Sekunde und zu erkennen war – nichts. Weder in der Ecke noch unter dem Tisch. In der Dunkelheit vor dem Fenster spiegelte sich lediglich ihr eigenes Gesicht.

Erleichtert atmete Sophie aus, als sie endlich entdeckte, was sie so erschreckt hatte: Im Waschbecken lag die Spülbürste, die sie gestern Abend mit einem Saugnapf an den darüberliegenden Kacheln befestigt hatte. Sie hatte sich gelöst und war ins Becken gefallen, so simpel.

»Und du machst dir beinahe in die Hose«, sagte sie laut zu sich und lachte auf.

Um weitere Panikattacken zu vermeiden, beschloss sie, die Bürste liegen zu lassen, und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Erst unterwegs fiel ihr ein, dass ihre Wäsche noch in der Maschine im Keller lag.

Sie hatte keine große Lust, sich um diese Uhrzeit darum zu kümmern, doch was blieb ihr schon anderes übrig, wenn sie morgen früh frische Unterwäsche tragen wollte?

Sie zog sich rasch ein Paar Nikes über die nackten Füße, schnappte sich ihr Handy und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.

Die Enge in der kleinen Metallkabine war ihr noch nie geheuer gewesen und besonders in der Nacht kam ihr das kaltweiße Licht der Fahrstuhllampe vor wie die Beleuchtung in einem Leichenschauhaus. Nicht dass sie je in einem gewesen wäre, aber sie hatte genug Filme gesehen, um eine Vorstellung davon zu haben.

Sie hielt ihr Handy fest in der Hand, wie eine Notfallversicherung, falls der Fahrstuhl stecken bleiben würde. Ihre Beine froren in den knappen Shorts und sie freute sich darauf, bald wieder in eine Decke gewickelt auf ihrem Sofa liegen zu können.

Der Fahrstuhl kam im Erdgeschoss zum Stehen. Schnell huschte sie durch den Flur zur Kellertreppe – doch auf halbem Weg blieb ihr Blick an der Haustür hängen.

»Das gibt’s doch nicht!«, fluchte sie leise, während sie die Tür ins Schloss drückte. Seit Wochen gab es schon Probleme damit, sie würde morgen noch einmal den Hausmeister anrufen müssen.

Schon als Kind waren Keller für sie gruselige Orte gewesen: Ein paar Stufen nach unten brachten sie in einen Raum, der fernab der restlichen Welt zu liegen schien. Dort war jeder Besucher auf sich gestellt und niemand wusste, was hinter der nächsten Ecke lauerte. Ein Gefühl, das sie auch als Erwachsene nicht losgelassen hatte.

Sie öffnete die schwere Tür des Waschraums und ärgerte sich wie jedes Mal, dass sie durch einen speziellen Mechanismus nicht offen stehen blieb, sondern automatisch zufiel. Ein Unding, das dem Brandschutz geschuldet war.

Sie ging bis zur Mitte des Raumes, wo sich die Anschlüsse für ihre Wohnung befanden, und beobachtete dabei nervös die zweite Tür an der rückseitigen Wand, die tiefer in die Kellergänge hineinführte.

Du benimmst dich wie ein Kind. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst. Wer sollte denn bitte in ihrem Keller sitzen und darauf warten, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt herunterspaziert kam und ihre Wäsche holte?

Sie kniete sich vor die Maschine und begann die nassen Sachen in einen Korb zu legen, als ein Geräusch von links sie zusammenschrecken ließ. Langsam drehte sie den Kopf zur Tür. Sie war verschlossen, nichts rührte sich.

Du schnappst langsam über, dachte sie und wollte gerade den Rest ihrer Wäsche einsammeln, als sie erneut etwas vernahm.

Das zweite Geräusch war noch bedrohlicher und realer als das erste: der Klang eines Scharniers, das sich langsam bewegte.

Sophie hielt die Luft an, als sie ihren Kopf ein zweites Mal nach links wandte. Die hintere Tür war halb geöffnet. Dunkelheit drang durch den Spalt.

In Sekundenschnelle suchte ihr Gehirn nach einer rationalen Lösung dafür. Die Tür war eben noch verschlossen gewesen, das hatte sie genau gesehen. Und wäre sie schon vorher offen gewesen, woher kam dann das Geräusch?

Plötzlich machte es klick in ihrem Verstand. Ein Gefühl, als wäre die Temperatur im Raum um zehn Grad gefallen, überrollte sie. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, warum die Tür nicht geschlossen war: Jemand stand auf der anderen Seite und hielt die Klinke fest.

Sie sprang auf, wobei ihr Handy zu Boden fiel, und lief in Richtung Ausgang. Aus den Augenwinkeln nahm sie entsetzt wahr, wie der Durchgang zu den hinteren Räumen aufgerissen wurde und eine Gestalt in den Waschraum kam. Eine große, schnelle Gestalt … Wesentlich schneller als Sophie, die viel zu lange brauchte, um die rettende Tür zu erreichen.

2

Ein Tag zuvor

Sophie Finke war von klein auf lebhaft gewesen. Sie war im Grunde glücklich, auch wenn das Leben ihr in den vergangenen neunundzwanzig Jahren schon den ein oder anderen Stein in den Weg gelegt hatte. Manche Steine waren kleiner gewesen, wie das Abitur, das sie erst im zweiten Anlauf geschafft hatte. Manche Steine waren aber auch größer gewesen, wie der Tod ihrer Mutter, als sie noch ein Baby gewesen war. Doch wer bekam schon immer, was er wollte?

Dass es ihr trotz allem besser ging als vielen anderen, verdankte sie ihrem Vater.

Peter Finke war Inhaber einer erfolgreichen Werbeagentur in Mannheim, wo Sophie seit zwei Jahren in einem schicken Altbau lebte. In Hofheim, einem idyllischen Vorort, hatte sie ihre Kindheit verbracht. Seit sie ihr Germanistikstudium beendet und begonnen hatte, in der Agentur ihres Vaters als Texterin zu arbeiten, betrat sie ihr Elternhaus, das ihr als Kind immer wie ein Schloss vorgekommen war, nur noch als Besucherin. Als eine Fremde, die Zuflucht an einem vertrauten Ort suchte. Das Haus gehörte zu der scheinbar perfekten Welt, in der sie aufgewachsen war.

Sophie lag im Bett und lauschte dem Verkehr vor ihrer Wohnung. Die Frage, warum ihr diese Kindheit überhaupt so perfekt vorkam, schlich sich dabei nicht zum ersten Mal in ihren Kopf.

Es gab viele Dinge, die schiefgelaufen waren. Ihr Vater hatte hart arbeiten müssen, um sein Geschäft aufzubauen, und war oft unterwegs gewesen. Sie erinnerte sich an viele wichtige Momente und an lange Zeitabschnitte, in denen ihre Oma Erika allein mit ihr in dem großen Haus gelebt hatte. Sie waren ein unschlagbares Team gewesen. Keine ihrer Freundinnen hatte eine Oma gehabt, die zu Weihnachten so gute Plätzchen backen konnte.

 

Doch sobald ihr Vater das Haus nach einer durchgearbeiteten Nacht oder einem Wochenende auf Geschäftsreise betreten hatte, war er der Held gewesen. Er war der König und Sophie die Prinzessin.

Wenn er abends spät nach Hause kam, blieb sie wach und sprang aus dem Bett, kaum dass sie die Haustür hörte. Und egal, wie müde er war – er erzählte ihr jedes Mal eine Geschichte. Ihr Zimmer mit der roten Erdbeer-Tapete wurde zu einem Piratenschiff voller Abenteuer, zu einer Burg, aus der eine Prinzessin gerettet werden musste, oder zu einem fernen Planeten, auf dem ein kleiner Junge eine Schlange traf, die einen Elefanten verspeist hatte. Ihr Vater hatte alles getan, um auszugleichen, was mit ihrer Mutter geschehen war. Er hatte ihr die beste Kindheit ermöglicht, die es für ein Mädchen ohne Mutter geben konnte.

Sophie seufzte und nahm ihr Handy in die Hand. Sie beschloss, dass das genügend trübsinnige Gedanken für eine Nacht waren. Ein kurzer Blick auf Instagram würde sie bestimmt ablenken.

Mitten in der Nacht, dachte sie, erinnerst du dich manchmal an längst vergessene Dinge, die just wieder wahnsinnig wichtig werden. In der Regel hält das nur bis zum nächsten Morgen an, wenn Kaffee, Arbeit und die Frage, wie lange du das Wäschewaschen noch aufschieben kannst, Platz eins in deinem Kopf einnehmen.

Sie schmunzelte bei dem Gedanken. Kurz darauf schlief sie traumlos ein.

Der Wecker klingelte wenige Stunden später. Sophie lugte mit verkniffenem Gesicht unter der Decke hervor, kletterte seufzend aus dem Bett und schaltete ihren geliebten Kaffeevollautomaten ein.

Mit einer dampfenden Tasse betrat sie das Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Das dichte honigblonde Haar und die blauen Augen hatte sie von ihrer Mutter. Je älter sie wurde, desto ähnlicher sah sie der Frau, die sie nur von alten Fotos kannte. Das behauptete zumindest ihre Oma Erika.

Wie jeden Morgen vergaß sie die halb leere Kaffeetasse auf dem Fenstersims ihres Badezimmers, machte sich fertig, stellte im Keller den Timer ihrer Waschmaschine ein und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Es war Mitte September und die Sonne versteckte sich noch hinter dem künstlichen Licht der Straßenlaternen.

Ihr Büro lag in einem mehr als einhundert Jahre alten Gebäude an einer der Haupteinkaufsstraßen. So früh war Sophie meist der erste Mensch dort. Vor neun Uhr morgens schlief die Welt der Agenturen noch, sodass sie in Ruhe abarbeiten konnte, was sie am Vorabend hatte liegen lassen.

Sie hatte gerade ihren ersten Text für die neue Kampagne eines Kompaktpuder-Herstellers geschrieben, als Vicky durch die Bürotür kam. Vicky war ihre Kollegin und gleichzeitig beste Freundin. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und eine der hübschesten Frauen, die Sophie je gesehen hatte. Ihr langes braunes Haar war zu einem hohen Zopf gebunden und ihre stahlblauen Augen leuchteten über ihren vom Herbstwind geröteten Wangen. Als wäre das alles noch nicht genug, war sie auch noch der liebenswerteste Mensch, den Sophie kannte.

Allerdings traf sie nicht immer die klügsten Entscheidungen. Patrick, der erst seit ein paar Wochen in der Agentur arbeitete, lief nicht nur direkt hinter ihr, sondern trug auch noch ihre Laptoptasche um die Schulter. Er war frisch von der Uni gekommen und gehörte zu diesen wahnsinnig netten Kerlen, die für die meisten Frauen nie mehr als gute Freunde sein würden.

Sophie schüttelte den Kopf. Es war Zeit für eine kleine Pause. Unter einem Vorwand zog sie ihre Freundin in die Kaffeeküche.

»Vicky, du weißt, ich mag dich, aber damit tust du dir gerade echt keinen Gefallen.« Sie gab sich Mühe, so streng wie möglich auszusehen, doch als Vicky schelmisch zu grinsen begann, musste sie vor Lachen losprusten.

»Schon klar.« Vicky räusperte sich, offensichtlich in der Bestrebung, sich das verräterische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. »Er hat gestern noch mal bei mir gepennt. Wir saßen über einer Präsentation und ich brauchte ein bisschen Abwechslung. Du weißt genau, ich bin nicht gern einsam. Ich tue es auch nie wieder, großes Ehrenwort.«

»Das hast du schon öfter gesagt.« Sophie zog demonstrativ ihre Brauen nach oben – ein weiterer Versuch, Vicky ein schlechtes Gewissen zu machen – und fuhr dann schmunzelnd fort: »Im Grunde kann es mir ja total egal sein. Aber ich sage dir, der arme Kerl ist drauf und dran, sich in dich zu verlieben, und du weißt ja, wie kompliziert so was werden kann.«

»Tja, vielleicht verknalle ich mich ja auch in ihn«, entgegnete Vicky, doch der Klang ihrer Stimme verriet, dass sie selbst nicht daran glaubte.

»Dazu müsste er nur noch zwanzig Zentimeter wachsen, sich ein paar Muskeln zulegen und schnell den Motorradführerschein machen. Hast du ihm das schon gesagt?« Sophie wusste genau, auf welchen Typ Mann Vicky stand, und der schmal gebaute, freundliche Patrick passte leider nicht in dieses Schema.

»Ich brech ihm schon nicht sein kleines Herz, keine Sorge. Und jetzt lass mich endlich an die Kaffeemaschine, sonst schlafe ich noch im Stehen ein.«

Zwischen neuen Texten, Meetings und einem schnellen Mittagessen mit ihren Kollegen verging der restliche Tag wie im Flug. Es hatte sich so viel Arbeit angestaut, dass Sophie gar nicht merkte, wie spät es wurde. Erst gegen neunzehn Uhr fuhr sie ihren Laptop herunter, zog ihren roten Wollmantel über und verließ das Gebäude.

Es war mittlerweile dunkel geworden, doch auf der belebten Straße war so viel los, dass es Sophie nichts ausmachte. Im Gegenteil, allein an den beleuchteten Geschäften und an all den Menschen vorbeizulaufen, gab ihr eine gewisse Souveränität. Sie kümmerte sich um sich selbst, passte selbst auf sich auf – ein Gefühl, das ihr schon immer wichtig gewesen war.

Unwillkürlich machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Hätte sie gewusst, dass jemand dieses Lächeln beobachtete, wäre es mit Sicherheit schnell erstorben.

3

Der Mann im Keller packte sie von hinten und riss sie von den Füßen. Sie stöhnte vor Schmerz, als er ihren Körper mit seinem Gewicht auf den Boden presste. Panik durchdrang sie und unterdrückte jeden klaren Gedanken.

Er war so schwer, dass es Sophie die Luft aus den Lungen quetschte. Sein Keuchen dröhnte in ihren Ohren. Er küsste ihren Hals – nein, er leckte ihn ab wie ein wild gewordener Hund. Sein Atem roch abgestanden, wie altes Fleisch.

Dann hob er den Kopf. Erst da wurde ihr klar, dass er eine Maske trug. Das weiße Latexgesicht eines Clowns starrte ihr entgegen. Überdimensionale Lippen und zwei schwarze Kreuze bildeten eine Fratze wie aus einem Horrorfilm. Die leuchtend roten Haarbüschel wirkten fast surreal.

Unter den Ausschnitten für Mund und Augen lauerten trübe Pupillen und ein hämisches Grinsen. Wie Teile eines Raubtiers, das auf seine Beute wartete. Ein Kichern drang unter der Maske hervor. Sein Klang ging ihr durch Mark und Bein. Die Welt um sie herum verschwamm. Angst war alles, was sie noch spürte.

Sie wollte schreien, doch die Panik schnürte ihre Kehle zu. Der Mann begann sie zu würgen. Verzweifelt versuchte sie, seine riesige Pranke von ihrem Hals zu ziehen, während sich seine andere Hand zwischen ihren Beinen zu schaffen machte.

Der Fremde sagte nichts, nur sein heftiges Atmen und Stöhnen waren zu hören. Speichel lief aus seinem Mund und verlieh den roten Clownslippen einen abstoßenden Glanz. Sophie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde explodieren, und die Angst, keine Luft mehr zu bekommen, ließ ihren Leib bis in die Zähne erzittern.

Mit aller Kraft zerrte sie weiter an seiner Hand, doch es gelang ihr nicht, sie von ihrem Hals zu lösen. Egal, wie fest sie zog, er drückte nur noch mehr zu. Was sie auch tat, er war überall, presste jeden Zentimeter ihres Körpers entweder nach unten oder hielt ihn fest.

Als sie spürte, wie der Stoff ihrer Shorts über ihren Hintern nach unten glitt, glaubte sie, sie würde zu einem einzigen harten Stück Eis erstarren, während ihr Puls im Inneren nach Hilfe schrie. Tränen der Verzweiflung flossen über ihr Gesicht. Das durfte einfach nicht passieren, sie musste es verhindern!

In ihrer Panik riss sie beide Arme nach oben und schlug auf die Schläfe ihres Angreifers ein. Er ließ ihren Hals los, um die Schläge abzuwehren. Endlich drang wieder Luft in ihre Lungen. Reflexartig richtete sie ihren Kopf auf und biss ihm mit aller Kraft in die Nase. Das Latex der Maske und der Knorpel gaben unter ihren Zähnen nach, sie schmeckte das Blut, das innerhalb von Sekunden auf ihre Lippen tropfte.

Der Mann schrie vor Schmerz auf und ließ für den Bruchteil einer Sekunde von ihr ab. Blitzschnell wandte sie sich zur Seite, doch schon im nächsten Moment bekam sie einen heftigen Schlag ins Gesicht. Der Fausthieb traf ihr linkes Auge und knallte ihren Schädel mit voller Wucht gegen den Betonboden. Alles um sie herum drehte sich, als gäbe es weder oben noch unten, links oder rechts. Die Welt wurde schwarz und verstummte. Für einen unendlichen Moment war alles, was sie tun konnte, atmen.

Ihr gesamter Kopf pochte. Nur langsam nahm sie ihre Umgebung wieder wahr. Der Schlag hatte sie so hart getroffen, dass ihre Sinne wie ausgeschaltet gewesen waren. Sie konnte den Mann nicht sehen, nicht fühlen und das laute Piepsen in ihren Ohren ließ sie nur noch ein leises, dumpfes Stöhnen hören.

Adrenalin schoss durch ihren Körper. Das Piepsen wurde leiser und ihr Blick wieder klarer, die Schmerzen im Kopf rückten in den Hintergrund. Sie bäumte sich auf, als der Mann seine Hose öffnete. Ihre Shorts und Unterwäsche hatte er längst heruntergerissen, ihr T-Shirt war nach oben geschoben.

»Du bist hart im Nehmen, Kleine«, sagte er grinsend, während ihm wieder Speichel aus dem Mund lief. Er vermischte sich mit dem Blut aus seiner Nase. Der Mann starrte auf Sophie herunter, als sei sie ein Weihnachtsgeschenk, das er sich lange gewünscht hatte und so schnell nicht wieder hergeben würde.

Mit letzter Kraft drehte sie ihren Oberkörper so weit es ging zur Seite, sodass ihre Brust ein Stück frei wurde. Sie schrie all die Luft hinaus, die noch in ihren Lungen war. Der Schrei war laut, doch er erstarb viel zu schnell.

Der Mann brauchte keine Sekunde, um sie brutal auf den Rücken zurückzudrehen. Ihr Kopf knallte erneut auf den Beton und seine riesige Hand lag fest auf ihrem Mund. Nein, eher auf ihrem halben Gesicht. Keine Regung war mehr möglich. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf die abstoßende Maske zu blicken, die wieder direkt über ihr war. Sie konnte das Latex riechen und ihr wurde übel.

»Halt einfach still, kleine Ballerina, dann bin ich auch bald wieder weg.« Keuchend drückte er ihre Schenkel auseinander. Dann lächelte er.

Sophie wurde klar, dass sie verloren hatte. Alles in ihr brannte, als er in sie eindrang.

In ihrer Benommenheit flüchtete sie in die Vergangenheit. Sie war sechs Jahre alt und saß auf einer Schaukel im Garten ihrer Großmutter. Der Himmel war so blau, dass es fast unwirklich schien, während die Luft von der Augusthitze flimmerte. Sie schaukelte immer höher und höher, bis ihr gelbes Sommerkleid im Wind flatterte. Sie wartete auf ihren Vater. Dieses Gefühl von Vorfreude und Glück, als er lächelnd durch das weiße Gartentor kam, würde sie niemals vergessen. Ihr Ritter in glänzender Rüstung.

Doch diesmal kam niemand, um sie zu retten.