Der Zwilling

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Der Zwilling
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H. DERHANK

Der Zwilling

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Sylvie liebt Leon

Die Verwandlung

Eine fremde Welt betreten

Sich fragen, wer man ist

Ich in der Mundhöhle

Der Spiegel

Nullphase: Erwachen ohne Erinnerung

Seelenscan

Wiedergeburt II

Skepsis

Gänse im Park

Die Therapiegruppe

Ein ewiger Krebspatient

Orgasmus technicus

Traum(a)

Gottes Seele

Wieder (nicht) zu Hause

Das Geschäft mit Spenderkörpern und -hirnen

Und wenn wir uns lieben?

Schlaflos beieinanderliegen

Rekonvaleszenz

Wo Musik ist, lass dich nieder

Davon laufen lernen

Nach außen telefonieren

Ankommen

Der Vater

Werkstatt des Lebens

Avatare stürzen ab

The man with the child in his eyes

Der Andere

E-Mail for you

Mutter

Den Anderen von ferne retten

Meine Familie

Ich bin du

Meine, meine Familie

Sie hat Krebs und keinen Inder

Im Tal des Himalaja

Wen liebt Franka?

Katharina die Schöne

Angesichts des Todes

Die Beichte

Day After

Vergebung und ob man ein zweites Mal heiratet

Im Turm der GESELLSCHAFT ®

Mit Gewalt

Das morphocerebrale Feld

Kontinuum

Die Verwandlung

Erwachen

Dank

Der Autor

Der Verlag

Impressum neobooks

Sylvie liebt Leon


LSD - Verlag Literarische Sammlung DERHANK

www.LSD-Verlag.de


»Wir machen Sie unsterblich!«

Der größte aller Menschheitsträume ist wahr geworden: Jeder, der es sich leisten kann, lässt regelmäßig sein Gehirn scannen, damit bei Bedarf - sprich: im Todesfall - die Gesellschaft ® das gespeicherte Ich reinkarniert.

Thomas V. erwacht eines Tages im Körper von Leon P. Der wurde zwar nach einem tödlichen Unfall wiederbelebt, doch die Gesellschaft ® hat versehentlich das falsche Bewusstseins-Backup in dessen Kopf gepflanzt.

Ohne seine wahre Identität preiszugeben, spielt Thomas mit - spielt den Anderen, als wäre er es selbst. Er bekämpft den Ekel vor seinem fremden Körper, versucht, die nie gekannte Ehefrau zu lieben und sogar den schrecklichen neuen Vater zu akzeptieren, der sich für den Fall des eigenen Ablebens einen Ersatzkörper in Indien reserviert hat. Und tatsächlich, trotz vermeintlich eklatanter Erinnerungslücken wird

Thomas als Leon schließlich wahr- und angenommen.

Aber so sehr er sich auch bemüht, es zieht ihn immer wieder zurück in sein altes Leben - das jedoch besetzt ist von dem, der er einst gewesen zu sein glaubt: vom echten Thomas, der nichts von der Kopie seines Ich in einem Fremden weiß. So wird Thomas II zum heimlichen Stalker seiner selbst. Als dann noch eine längst verloren geglaubte Liebe wieder auftaucht, eskaliert die Situation. Und die Gesellschaft ® sieht sich genötigt, ihren Fehler wiedergutzumachen.

In einer nahen Zukunft ist der medizinische Fortschritt dank Gentechnik, künstlicher Organe und hochsensitiver Prothesen in der Lage, im Todesfall jeden Menschen, und sei er noch so alt, krank oder verletzt, wiederherzustellen. Einziger Schwachpunkt bleibt das Gehirn, das binnen weniger Minuten irreversible Schäden nimmt, weshalb eine Wiederbelebung zwar den Körper zurückholt, nicht aber das, was wir unter dem Wort 'Ich' verstehen. Erst die Entdeckung des 'morphocerebralen Feldes' verspricht den Durchbruch in die Unsterblichkeit. Dank einer digital gespeicherten Momentaufnahme des Bewusstseins lässt sich nun auch das Gehirn eines Verstorbenen nachzüchten, sodass der Mensch in Gänze wiederaufersteht.

Doch ist der, der dann erwacht, wirklich noch der, der er zuvor gewesen ist? Wann ist das Ich noch dasselbe Ich? Was ist es, was uns Persönlichkeit, Individualität, Identität verleiht? Wo bleibt die unverwechselbare Seele, wenn es den Neurowissenschaften gelingt, Kopien unserer selbst anzulegen? Und was sagt eigentlich Gott dazu?

Für Thomas, den ZWILLING, zerreißen bei der Suche nach seinem ich-bin-der-ich-bin die transzendenten Vorstellungen des Menschen wie illusionistische Vorhänge - als wären sie nur dazu geschaffen, die abgründigen Untiefen der Ichfalle zu verschleiern. Denn jenseits unserer Selbsttäuschung ist nichts: kein Gott, keine Seele, nicht einmal ein konsistentes Ich und auch sonst nichts, das über den Mahlstrom aufblitzender Wahrnehmungen hinauszeigt. Allein die Liebe ist noch für ein Wunder gut, aber auch die kann nur den retten, der nicht an ihr verzweifelt.

Erwachen

und sich wiederfinden in einem anderen Körper,

als dem erinnerten,

und allmählich begreifen,

dass man nicht mehr man selbst ist.

Leon, ach du mein wilder Leon.

Staubwedeln auf seiner Gitarre, im Musikzimmer, wo alles rumliegt, und Sylvie nicht staubwedeln müsste, weder als Putz- noch als Hausfrau, Staubwedeln ist eigentlich ein Tick und hat was mit Aneignen zu tun, sich die Wohnung in Besitz nehmen, das ganze Haus, wenn keiner da ist, denn der Junge trifft sich heute mal auswärts (ein Wunder), das Haus wäre aber genauso leer, wäre er hier, nein, das ist gemein, ich sollte so nicht über meinen Jungen denken, Jungs sind so, in dem Alter usw., und mein anderer Junge ist aber auf dem Heimweg, mein großer starker Junge Leon; ach du mein Leon.

 

Sylvie wedelt Staub, wo fast kein Staub ist, sie wedelt mit dem altmodischen Erbstück von anno Großmama, ein Stab aus fast schwarz gedunkeltem Holz und ebenso schwarzen, noch wunderbar erhaltenen, dicht gebundenen Straußenfedern, sie wedelt zwischen den unzähligen bunten elektrischen Effektgeräten, die in einem offenen Instrumentenkoffer anein­andergereiht liegen, sie wedelt zwischen den Kabeln und Steckern, sie wedelt an Mikrofonständern und Gitarrenhaltern, sie wedelt an Röhrenverstärkern, die so groß sind wie Wäschetruhen, an kleineren Amps und an Mischpulten, sie wedelt an Kopfhörern, Kabeltrommeln, Mikrofonen und an einem Aufnahmegerät, und sie wedelt an ihren eigenen Instrumenten, meine Flöten, denkt sie ein bisschen sentimental, ihre großen Blockflöten, die in einem Flötenständer stehen, und ein versuchsweise angeschafftes Didgeridoo, das sie auch spielt, nicht besonders gut, die Zirkulationsatmung will nicht bei ihr, Zirkulationsatmung ist wie gar nicht atmen, wie nicht atmen und trotzdem nicht ersticken, Zirkulationsatmung ist wie den Moment anhalten, wie Zeit anhalten und in der angehaltenen Zeit so was wie eine eigene Zeit spielen, so ist der Klang, den sie mag, den sie aber selbst nicht beherrscht auf dem Didge. Sylvie wedelt den imaginären Staub von dem australisch bunt bemalten Stamm aus Eukalyptusholz. Leons Gitarrenspiel ist so ähnlich, sie haben das Didge deswegen gekauft, um gemeinsam zu spielen, seine zeitangehaltene Elektrizität, und sie den zeitangehaltenen Atem.

Sollte nicht sein, leider, aber ihre Flöten schaffen das auch, und mit den Flöten ist sie gut, besonders mit den großen tiefen, der Bassflöte zum Beispiel, oder der Schalmei, ein Stiefkind in der Flötenreihe, so wie das Didge, aber die Schalmei spielt Sylvie göttlich, sagt jedenfalls Leon. Mein Beitrag ist klein, denkt sie, aber wenn sie zusammenkommen oder Konzerte geben, in kleinen Klubs und am liebsten bei Leuten zu Hause, Kammerkonzerte im Wohnzimmer, dann bin ich ich, dann ist Sylvie ganz bei sich, ganz glücklich, dann bilden Gestern, Heute und Morgen einen Punkt. Einen einzigen Punkt. Vielleicht liebe ich Leon manchmal deswegen so sehr, dass es wehtut. Was nicht normal ist, nach so langer Zeit, wer hat schon das Glück, einen Ehemann nach 16 Jahren immer noch so zu lieben, das ist nicht normal, das ist das Glück.

Denkt Sylvie.

Und: Ich könnte mich jetzt ausziehen. Und stattdessen die Schürze anziehen, die weiße mit Rüschen, und sonst nichts, und mich von ihm ertappen lassen, beim Wedeln, beim Wedeln mit nacktem Hintern, sie stellt sich vor, sie hätte ihre Sachen bereits ausgezogen, sie wedelt weiter und in ihrer Fantasie wedelt sie auf diese Art wie nackt, immer weiter und weiter, was immer unsinniger ist, das Wedeln, weil doch alles längst staubfrei ist, aber das macht nichts, sie tanzt durch das kleine Musikzimmer, und in ihrer Fantasie kommt Leon nach Hause und kommt die Treppe hinauf und dann erwischt er sie in flagranti, und er bestraft sie dafür, ein bisschen, was natürlich kein Bestrafen ist, wie auch kein Erwischen, sie fantasiert sich ja ihn und keinen anderen, aber trotzdem hat es dieses wie Verbotene, dieses Erwischtwerden, und Bestraftwerden, und dann fesselt er sie, ans Bett oder überhaupt fesselt er sie, immer noch, immer wieder bin ich von dir gefesselt, und ich dich auch, wir zwei sind voneinander gefesselt, und manchmal darf auch sie ihn ans Bett fesseln, und ich muss dann Sachen mit dir machen, dann wird er zum Vulkan, und darum wedle ich nackt, nackt, nackt, sie kneift sich durch die Jeans in ihren Po, als wollte sie testen, ob das ein Nackttraum ist.

Ich könnte mich ja wirklich ausziehen, denkt Sylvie und lacht. Lacht, weil das albern ist, genauso wie es albern ist, jetzt nach links und rechts zu schauen, ob nicht doch jemand da ist, der, gesetzt den Fall, sie zöge sich aus, sie beobachten könnte. Sie schaut auch zum Fenster, und zum Fenster hinaus, aber da sind nur die Blätter der Ulme und keine Möglichkeit für den Nachbarn, zu ihr hineinzusehen. Trotzdem spürt sie an ihren Wangen, dass sie rot geworden ist, sie könnte sich hier ausziehen, und dann muss sie pinkeln vor lauter Erregung. Sie eilt ins Bad, setzt sich auf die Toilette und dann klingelt das Telefon.

Aber Sylvie kann nicht rangehen, so mittendrin.

Und wenn das Leon ist?

Sie kriegt einen Schreck, es klingelt weiter und darum singt sie dagegen an, wie ein Kind, das sich Mut ansingt im Dunkeln, singt irgendwas, etwas, das sie sich selbst ausgedacht hat, vielmehr beim Pinkeln jetzt gerade ausdenkt, und der Klang des Telefons mischt sich in ihre Komposition.

Es hört auf zu klingeln, und Sylvie denkt, dass Leon es hasst, wenn sie nicht rangeht, dafür hätten sie schließlich überall diese schnurlosen Dinger rumstehen! Er regt sich so schnell auf, besonders nach so einer langen Arbeitswoche, und dann denkt sie: Er kommt doch hoffentlich nicht später? Schon wieder mal? Nein, es ist Freitag, heute nicht, er wird angerufen haben, dass er nun losfährt, dann wären das noch zehn Minuten, noch zehn Minuten!, soll ich mich jetzt ausziehen oder nicht? Und nun ist sie ganz hin und hergerissen, ob sie sich ausziehen soll oder nicht, Leon müsste ja gleich da sein, und Lust, Lust hätte sie ja, und wie!

Stattdessen zieht sie sich an, fasst sich noch einmal an den Schlüpfer und drückt ihre Finger ein wenig hinein, ins Feuchte, dann schließt sie hastig die Knöpfe ihrer Jeans, ich muss ihn zurückrufen, er hasst das, wenn nicht, sie geht also hinaus, schaut sich im Flur wieder um, als wäre sie nicht allein, kichert sich selbst zu, ein bisschen nervös, und greift zum Telefon. Auf dem Display steht: Leon. Er war es, wie erwartet, ich ziehe mich also ganz schnell aus und die Schürze an, die hinten offen ist, das wird ihn ablenken vom Wütendsein, es wird ihn wild statt wütend machen, oder - nein - ich rufe ihn doch eben an. Besser ist das.

Sie drückt die Rückruftaste und hält sich das Telefon ans Ohr, es tutet, einmal, zweimal, und dann geht Leon ran.

»Ja!«, sagt er. Nicht 'Ja?', sondern 'Ja!'

Sylvies Herz klopft, und sie ist nicht schnell genug, etwas zu sagen.

»Sugar?«, sagte er, Sugar. Dabei ist seine Stimme noch immer gereizt, aber er bekämpft das. Man hört leise Fahrgeräusche.

»Kommst du?«, fragt Sylvie. Auch sie hat etwas Geladenes in ihrer Stimme. Aber das andere Geladene. Unwillkürlich.

»Sugar«, nochmals er, »ich dachte, wir könnten heute ins Kino, wo Hendrik doch bei seinem Freund übernachtet, vorher was essen gehen und ... weil ich doch morgen ...“

»Mein Löwe ...«, gurrt Sylvie und findet das ein bisschen sehr devot, am Telefon zu gurren. Sie hört das 'Kalack-Kalack-' des Blinkers.

»Ja ...?«, sagt er.

»Komm erst mal nach Hause, ja?«

»Ja, sure, Baby, ...«

Sylvie atmet tief, so tief, dass sie sich selbst im Hörer hören kann. Sogar in seinem Auto müsste man das hören.

»Kommst du?«, im Ausatmen.

»Ja Sugar, ich komme... was ... was hast du denn?«

»Nichts ...« Sex.

»Du bist ja wie auf ...« Jetzt hört sie ihn atmen. Und dass er Gas gibt, als würde er innerlich und äußerlich beschleunigen. Synchron. Und dann macht er: »Mhhh ...«

Sex.

Sylvie kichert: »Komm schnell ...«, sagt sie, mehr ein Seufzen, laut geflüstert und fast ohne Stimme.

»Holla ...«, auch seine Stimme plötzlich erregt, »Sugar, du kleines ... und ob ich komme, I'm coming, ich rase, ich werde dich glei... hhhh... Shit! SHIT!!!«

Entsetzen und undefinierbare Geräusche; es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen, um sie als Bremsenquietschen und Aufprall zu interpretieren, ein lauter Knall und etwas wie Splittern oder Aneinanderstoßen, vielleicht sogar noch ein Schrei, aber undeutlich, und alles so schnell und die anschließende Stille so absolut, dass Sylvie nicht mehr weiß, was sie gehört hat.

Leon?

Die Verwandlung

Als Thomas Vanderra eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, links und rechts einige Apparaturen, von denen Schläuche, Katheder und Kabel ausgingen und an unsichtbarer Stelle mit ihm verbunden schienen. Insbesondere aber sein Gesicht fühlte sich an wie verformt; von einer ungeordneten Ansammlung aus ihm herauskragender Mundwerkzeuge und Antennen, die ihm hilflos vor den Augen flimmerten.

»Was ist mit mir geschehen?«, dachte er. Es war kein Traum.

Eine fremde Welt betreten

Eine fremde Welt betreten. Sich einen Moment erzwingen, ein Beisichsein, wo nichts ist, als Sichverlieren. Eine fremde Welt, die mich träumen lässt, sie wäre ich.

Eine fremde Welt scheißen. Eine fremde Welt ausscheißen. Sie in Besitz nehmen, indem man sie oder sich in ihr vollscheißt. Darin schwimmen, wie ein Baby, in der eigenen feuchten, wunden Hitze.

Stelle sich mal einen Wurm vor, einen, zum Beispiel, Regenwurm, dem man das eine Ende zertreten hat, versehentlich, und dem man diese zertretene Hälfte abgetrennt hat, abgeschnitten mit einem Skalpell, und der innere Tunnel der gesunden Seite plötzlich wie an einem offenen Ende angekommen ist. Es ist der Moment, sich im Nichts zu verlieren, oder aber als Tunnel gerettet zu werden, indem man einen anderen aufgeschnittenen Wurm nimmt und an ihn andockt, sodass der offene Tunnel des ersten Wurms in den Tunnel des zweiten übergeht, und der erste Wurm sozusagen in dem zweiten weiterkriechen kann. Der Tunnel, das Hohle, ist ein Kriechen in der Zeit, der Tunnel, der sich selbst fortführt in vermeintlicher Kontinuität, der sich selbst in das neue Hohle hineinkriechend macht, das neue Leere gewissermaßen, er selbst ist das Nichts. Das, das fortgesetzt träumt.

Bin ich schon fertig? Bin ich fertiggeschlafen? Habe ich? Ein Film, am Ende, Schlussszene, zwei Männer und eine Frau, nackt, auf einem großen Bett, ach Franka, die Frau war schwanger und der Film ist von Tom Tykwer.

Warum aber erwache ich nicht, wenn ich doch fertig bin? Fertiggescannt. Warum entgleite ich mir immer wieder, ist es so schwer, aus der Tiefenhypnose wieder herauszukommen? Halbe Stunde, nicht länger, hat sie gesagt, die Assistentin, oder war es ein er?, oder wer? Keine zwei Stunden mit Film, du aber hast das Gefühl, schon ewig hier zu liegen. Nicht einmal das Atmen ist spürbar, nur dass immens viel Zeit vergangen ist oder vergeht.

Und plötzlich beschleicht dich ein ganz anderes Gefühl. Eine Ahnung, warum das hier alles so schleppend geschieht. Warum du nicht atmest. Warum du nicht einfach erwachst und aufstehst und nach Hause fährst. Warum du das Gefühl hast, nicht mehr im Schlaflabor zu sein.

Schlaflabor? Welches Schlaflabor.

Verblassen von etwas, Ahnen von etwas anderem.

Bin ich tot?

Habe ich mich umgebracht? Die Frage steht im Raum, der Raum ist ein Traum ist ein Kinderreim, den ich nie gesungen habe, nicht mal kenne. Fremdes Kind? In mir? Oder ich in ihm? Nein, ich weiß doch, dass ich schlafe, ich träume, aber die Selbstmordfrage hat mich aufgeschreckt, aufgeweckt, sie hat dieses Plötzliche, dieses Siedendheiße, dieses Entsetzen, wenn dir auf einmal klar wird, dass nichts mehr so sein wird wie vorher! Dass ... zum Beispiel, dass da ein Kind fehlt. Und nicht mal wissen, welches? Ich habe gar keine Kinder! Oder man den Stick mit der Präsentation vergessen hat, wenn man bereits neben dem Beamer steht und einen alle ansehen, besonders, weil man es sowieso hasst, einen Entwurf zu präsentieren ... - habe ich mich umgebracht? Ich atme nicht! Ich atme nicht - ich atme! Ich atme nicht und doch zugleich, etwas atmet, etwas atmet mich, eine Maschine atmet mich, plötzliche, überwältigend große Angst, schiere Panik, symptomlose Panik, kein niemand, nichts, das zu Symptomen fähig wäre, ich entgleite mir, ich falle, Fall und

Aus ...

Später: Du erinnerst dich an diese Angst. An diesen Moment der Erkenntnis, von einer Maschine geatmet zu werden, bevor du dich wieder verloren hast, und es liegt schon wieder ZEIT dazwischen, du bist wieder eingeschlafen gewesen, das Gefühl JETZT ist ein anderes als während dieses panischen Erschreckens, das Gefühl jetzt ist ein nicht mehr so atemloses, körperloses, eher ein 'ich spüre, fühle, ich bin'. Nichts Erschreckendes also nun. Und obwohl Thomas die Augen geschlossen hat, ahnt er, dass es hell ist, und er stellt sich ziemlich realistisch vor, gleich in einem Krankenzimmer zu erwachen, möglicherweise angeschlossen an Geräte und eben eine Beatmungsmaschine, aber nichts, das wehtut, vielleicht noch nicht.

 

Ich atme.

Augen?

Geschlossene Augenlider schmecken bei Lichtverhältnissen süß, himbeersüß, und dann riecht er auch ein Geräusch, es ist das schon erwartete, das dazugehört, das gleichmäßig regelmäßige Aufblühen und Vergehen des Kümmelgeruchs eines EKGs, ich rieche meine Herztöne. Und gleichmäßig heißt, es scheint mir trotz allem gut zu gehen (aber trotz allem was?)! Man kann auch die Vögel riechen, von draußen, Frühlingszitronenschwaden, ich habe geschlafen wie ein Toter, und er fragt sich, woher er diesen Humor hat, angesichts dessen, was zu erwarten ist: Ein Erwachen zwischen Leben und Tod, mein Körper schwer angeschlagen, mit womöglich schrecklichen Ausfällen, fehlenden Gliedmaßen oder Lähmungen, die Aussicht, ein Krüppel zu bleiben! Aber ich habe mich nicht umgebracht. Das wäre unlogisch, und dann erinnert er sich auch (und endlich!), dass er sich hat scannen lassen, dass er ein Backup seiner Seele hat anfertigen lassen. Was nicht mehr Seele heißt, sondern Hirnscan. Ein kleines Vermögen, das er dafür bezahlt hat, unsterblich zu sein! Und das jetzt jeden Monat?

Atmen, das plötzlich schmerzt. Und wieder eine unerwartete Panikattacke: Ich bin gestorben, muss gestorben sein, ich erwache ganz offensichtlich nicht in dem Institut, ich bin nicht gerade eben gescannt worden, sondern weiß der Henker wann? Der Henker oder wer auch immer mich umgebracht hat. Nein, nicht ich habe mich, habe ich doch? Und dass ich hier liege und zu mir komme, langsam oder jetzt gerade viel zu schnell, das heißt doch - das heißt doch - das heißt doch - dass ...

ES FUNKTIONIERT!!!

Die Angst verwandelt sich in eine irre Freude, die genauso in dir explodiert wie die Angst, aufspringen wollen und brüllen vor Freude, was Thomas natürlich nicht tut, aber der Impuls, sich zu extrovertieren, der ist überwältigend. Es funktioniert!!! Es funktioniert bedeutet, dass - Trommelwirbel, Tusch - Thomas Vanderra von nun an ein Unsterblicher ist, meine Damen und Herren, sehen Sie hier den unsterblichen Thomas Vanderra, den Mann, der nie - nie nie nie mehr - sterben wird. Hyperventilierendes Freudenkonzert, atmen, Atmen tut weh! Obwohl mein Körper reglos bleibt, ist da ein Sturm aus Lachen und Jubeln in mir, ich könnte wen auch immer umarmen, die ganze Welt meinetwegen, oder auch: Franka.

Ernüchterung, plötzlich ist die Freude weg, so schnell, wie gekommen, Franka.

Ich weine.

Das Weinen geschieht genauso reglos und mit genauso wenig Kontakt zur Oberfläche, wie vorher Angst oder Freude. Ich weine nicht etwa in mich hinein, das hieße ja, das Weinen hätte einen Anfang und eine Richtung, aber so ist es nicht. Es geschieht einfach. Vielleicht geschieht es nicht einmal, sondern ist einfach da. Wie schon immer gewesen, ganz tief in mir drin. So tief, dass man es nicht räumlich lokalisieren kann. In diesem meinem Körper. So tief, dass ich mich stumm in den nächsten Schlaf weine. Franka. So ein Scheiß.

Ich erwache erneut und erinnere mich an die Erkenntnis, Thomas zu sein. Thomas Unsterblich, er war nur wieder eingeschlafen, nichts Besorgniserregendes, der Thomas oder der neue Thomas, noch immer weiß ich nicht, was geschehen ist, wie ich gestorben bin, ich spüre aber immer mehr meinen Körper zurück. Der sich noch fremd anfühlt, oder ungewohnt, aber das mag mit den Verletzungen zusammenhängen, die ich unweigerlich haben muss.

Ich gehöre zu denen, die es geschafft haben. Die der Unausweichlichkeit des Todes eine lange Nase machen. Meilenstein in der Geschichte der Menschheit, und was für einer, seit ein paar Jahren dürfen wir unsterblich sein, die letzte Bastion der Religion ist genommen, die Seele gehört nicht mehr diesem ominösen Gott, den wir uns im Angesicht des Todes ohnehin nur ausgedacht haben, sondern endlich uns! Die Seele, die Seele, ich ich ich, ich lebe! Gehört die Seele denn jetzt uns? Mir? Thomas erinnert sich, bevor er selbst den Vertrag unterschrieben hat, ein Kritiker der Reinkarnationsmedizin gewesen zu sein, und der Gesellschaft, die sie betreibt. Gehört die Seele statt Gott jetzt mir? Oder der Gesellschaft? Ach Thomas, was für unsinnige Fragen angesichts der freudentaumelnden Tatsache des buchstäblich nackten Überlebens, angesichts dieses meines Erwachens, dieser Erkenntnis, ich bin unsterblich, quod erat demonstrandum!

Thomas konzentriert sich in sich hinein, bergab sozusagen, aber nein, er vermutet, dass er liegt, also nicht bergab, sondern sozusagen rumpfabwärts. Und dass bei diesem inneren, mit geschlossenen Augen durchgeführten Forschen die Hände das Erste sind, was er hört. Nein, ich höre nicht, ich fühle! Höre? Greifenklang, ein Werkzeug spielen, die Finger sind der angeschwollene Gesang der Tuba, sie klingen zum Platzen prall, auf beider Hände Seiten, eine vorsichtige Bewegungsprobe - kaum mehr als ein Zucken - bringt Aufschluss: Ich habe laute Hände. Oder glaube, laute - ich meine: große Hände zu hören, nein, anders, großer Hände gewahr zu werden. Sie klingen, nein, liegen - eindeutig - auf Stoff. Die Bettdecke, die wie ein Kontrabass dröhnt, ist getrennt von meinem restlichen Resonanzkörper, durch ihre Schwere ertönt ein Körper, der sich anders anhört, als ich seine Lieder erinnere. Ich höre ihn - mich? - von außen, mit den Händen? Oder von innen, mit meinem Bewusstsein?

Ich bin ein Konzertsaal, offenbar, ich bin ein Riese. Geworden.

Wieder eine Panik, wieder Entsetzen, wieder wieder wieder, ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese ich bin ein Riese! Das ist nicht meine Musik, willst du schreien, will ich, ICH schreien, aber das wäre zu theatralisch, die Panik verfliegt, das ist lächerlich, albern, du bist albern, Thomas, sei froh, dass alles dran ist, dass da ein Rumpf brummt, der dir gehört, und Beine wie Posaunen, sogar die Trompetenfüße erschallen eindeutig lebendig! Du beruhigst dich, lässt die Augen zu und lauschst der sanften Melodie der Bettdecke auf den gekrümmten Zehen. Du spielst sie, diese Zehen, was geht, was sich anhört, nein, anfühlt wie tausend Jahre eingerostet, es knarzt und kratzt, aber es klingt. Du bewegst die Zehentonleiter rauf gegen die Decke, und wieder runter, wie ein Xylofon, erst alle fünf zugleich, dann getrennt, du schlägst den großen Zeh einzeln an, die kleinen im Quartett nach unten und umgekehrt und an beiden Füßen dasselbe Spiel. Warum höre ich meine Hände nicht mehr? Aber - als hätte nur wer auf diese Frage gewartet - da spielt ja eine Hand auf deiner!

Ein plötzlicher Geruch von kräftigem Tee, Pfefferminze? Und gleich wieder vorbei. Dann erneut, ich rieche ein Wort, jemand duftet ein Wort, ich rieche meinen Namen, nein, nicht meinen, aber immer wieder diese kurzen Duftwolken von rechts. Thomas fragt sich ins Lichtdunkelsüße hinein, wer das sein könne, und ob Franka zu ihm zurückgekehrt sei, oder - ein furchtbarer Gedanke - er wegen Franka hier liegt!? Wegen ihr sich umgebracht haben?, manchmal war ich kurz davor (aber nie wirklich!). Muss ich wieder weinen?, was sich in einem Kopf, der so anders ist - so anders, dass, egal, WAS passiert ist, es schrecklich gewesen sein muss -, ganz seltsam anfühlt. Aber er hört die Tränen ganz nah bei sich oder zumindest diese Vorstufe von Tränen, ein plötzliches, Schluckreize verursachendes Zum-Heulen-zumute-Sein, was das ganze Gesicht aufbläst und wie gegen ein Kissen drückt, mit dem man dich ersticken will, es ist, als wäre das Gesicht angeschwollen, furchtbar angeschwollen, und erst jetzt hörst du das falsche Gebiss in dir, die Stellung der Zähne, kleiner Tentakel namens Zunge spielt Klavier, tastet alles ab, hinten eine stille Lücke, zwei Lücken, die Abstände zwischen den Klängen sind zu groß, oder die Klänge zu leise oder der Mund zu groß oder die Zunge zu klein, überhaupt wessen Speichel höre ich gerade, höre ich?, schlucke ich?, ich schmecke ihn nicht und doch zugleich, wen schmecke ich da? Dir kommt ein ekelhafter Würgereiz, die falsche Kehle zieht sich zusammen, als wollte sie die kleine fremde Zunge verschlucken, von jetzt auf gleich spielt dein soeben noch tränennah gewesenes Gesicht eine Schweißperlensonate, voller Hitze, mein Kopf, denkt Thomas, ist unter eine Straßendampfwalze geraten, gewesen, aber ich erwache, reg dich nicht auf, ich ERWACHE! Und das ist das Wichtigste.

Denkt Thomas.

»Leon?!«, riechst du die Stimme erneut.

Für eine gefühlte Sekunde stockt Thomas' Gehirn. Wer? Wer bin ich? Oder war das nur eine sinnliche Ungenauigkeit?, ein falscher Geruch? Ton? Stimme? Doch der Geruch wiederholt sich: »Leon!«, Pfefferminze, aber du riechst gar nicht den Namen, sondern die Stimme.

»Hörst du ... mich?« Hören? Kann man denn Stimmen hören?

»Leon, bist du wach ...?«

Jetzt hörst du sie tatsächlich, natürlich hört man Stimmen, wie konntest du was anderes denken? Sie klirrt oder kratzt, die Stimme, sie riecht nach Glas - nein, sie KLINGT nach Glas, und hat zugleich etwas Ersticktes, Angstvolles, und dann eine andere Stimme, männlich (was überhaupt dazu führt, die erste Stimme als weiblich zu identifizieren), die duftet beruhigend auf sie ein, auf die Person, die dich Leon nennt.

Ich will nicht wach werden.

Du weißt, dass Nicht-wach-werden-Wollen nur ein Fluchtreflex ist, weißt du?

Ja, ich will weg!

Aber Thomas kann die unbekannte Hand auf seiner (meiner?) Hand nicht abschütteln, er versucht es nicht einmal, er hat Angst, diese Hand zu bewegen, er ist viel zu befangen, das erste Mal in seinem Leben diese, diese Hand zu bewegen, die Zehen sind kein Problem gewesen, aber die Hand, die Hand, die ist nicht nur zum Greifen da, die Hand macht viel mehr als funktionieren, sie macht etwas, was mit anderen Händen zu tun hat, aber was nur, was? Um Himmels willen, WAS???

Viele Jahre später erwacht Thomas noch immer in einem Krankenzimmer. Mit offenen Augen, die im Dunkeln und aus diesem Liegendwinkel nur an den Sichtfeldrändern Dinge unscharf wahrnehmen, z.B. Geräte, die leise regelmäßige Töne von sich geben, und ein Fenster (Vorhänge?), ja, es ist dunkel, er ist nicht blind oder so etwas, es ist einfach nur tiefe Nacht. Es ist auch nicht viele Jahre später, das war nur ein Gefühl von unbeschreiblich großer Distanz gewesen, zeitlich, vielleicht auch räumlich, ich schaue in die unendliche oder auch ewige Nacht und versuche, nicht zu denken, oder die Gedanken nicht zu quälen, sie einfach vorüberziehen zu lassen, Gedanken von Arbeit, ich denke Arbeit, Entwürfe, ich denke Hausbauen, ich denke Büro und Landesbauordnung und Brüstungshöhen von Balkonen ...

»Leon?« Als zerbräche Glas.

Es ist wieder Tag. Fremden Speichel erzeugen und mit fremden Zähnen und einer falschen Zunge das Nasse in der unbekannten Mundhöhle zerkauen, schon wieder Ekel, wieder Würgen, ich muss mich zwingen, diesem Mund fernzubleiben, denk lieber an die Hand, oh, Hand auf Hand, wieder Hand auf Hand, da ist sie wieder, ich habe so schön geträumt, ein warmer satter Traum, der glücklich macht, aber schon ist er weg, nicht die kleinste Erinnerung, weggeschoben von diesem fremden Namen, dieser fordernden Stimme, ich erinnere mich an diese Stimme, diese fremde, nach Pfefferminze schmeckende Stimme, nein, das ist nicht Franka, nein, das ist sie nicht. Aber ich habe sie schon einmal gerochen, neulich erst, im Bus, wir haben im Bus nebeneinander gesessen, und die Stimme hat meine Hand gehalten, und ich hatte die Augen geschlossen, habe gelegen, aber wie? Im Bus gelegen? Erinnere ich mich an den Unfall? Plötzlich bist du dir sicher, dass es ein Unfall war, obwohl du weißt, dass das nicht möglich ist, sich daran zu erinnern, die letzte Erinnerung eines von den Toten Auferstandenen ist der Moment des Gehirnscans, mehr geht nicht. Das haben sie dir gesagt. Unmöglich. Und schlagartig hast du deine Augen offen!