Buch lesen: «Die Revolution der Bäume»
H. C. Licht
Die Revolution der Bäume
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1 / Im Sägewerk
2 / Erleuchtete Narren grünen grüner
3 / Bei Nacht und Nebel
4 / Frauenpower
5 / Ein Kind dieser Erde
6 / Unausgesprochene Gedanken
7 / Auf Konfrontationskurs
8 / Lustgewinn
9 / Gefühlschaos
10 / Eine engelsgleiche Erscheinung
11 / Frischer Wind
12 / Die Ruhe vor dem nächsten Sturm
13 / Spontanheilung
14 / Bestückt wie ein Hengst
15 / Lisas Befürchtung
16 / Erwins Mondfahrt
17 / Der Anschlag
18 / Hermanns letzte Reise
19 / Der Naturmaler
20 / Eine Geste der Versöhnung
21 / Alle für einen
Impressum neobooks
1 / Im Sägewerk
Am Arsch der Zeit schabt sich eine Fliege ihre Fühler wund. Orientierungslos kreiselt sie vor den staubigen, mit längst verwaisten Spinnweben verzierten Fensterscheiben. Sie ist kurz davor, aufzugeben. Seit einer gefühlten Ewigkeit versucht sie, hinaus ins Freie zu gelangen. Vom ersten verheißungsvoll rosigen Schein des Sonnenaufgangs bis zum Verglimmen des abendlichen Dämmerlichts, schlägt sie mit ihren zart geäderten Flügeln gegen das Glas und bestaunt das seltsam vertraut wirkende Scheitern ihres Spiegelbildes.
Nicht, dass es in der Halle nichts zu fressen und zu trinken gäbe oder es in ihr besonders unbehaglich wäre, aber man lebt nicht vom Brot allein. In der Nacht zuvor hat sie von weitläufigen Wiesen und den vielfältigen Grüntönen der sich sacht im Wind wiegenden Pflanzen geträumt. Die warme Luft war erfüllt vom vielversprechenden Aroma des Sommers und dem emsigen Summen der Bienen, die den süßen Nektar aus den Blüten der Wildblumen saugten.
Im Schlaf hat sie in das lebendige Herz einer bunten, fantastisch facettenreichen Welt geschaut, in die selbe, die hinter der schmutzigen Fensterscheibe lockt, sich bis an den Horizont erstreckt. Der Traum hat ihre Sehnsucht nach der großen Freiheit noch befeuert. Inständig wünscht sie sich, dort draußen auf Entdeckungsreise zu gehen. Schon die bloße Vorstellung, die Grenzenlosigkeit jenseits ihres Gefängnisses doch noch erfahren zu können, entzündet den winzigen Funken Hoffnung in ihr immer wieder aufs Neue.
Sich das Dasein als Gefangene schön zu reden hieße, sich dem Schicksal zu ergeben. Doch den Kampf um die Freiheit aufzugeben, kommt für die Fliege nicht in Frage. Wie alle ihre Artgenossen, die kleinen und kleinsten Lebewesen, besitzt sie das Naturell einer Kriegerin. Dennoch, das muss sie sich während einer längeren Verschnaufpause schmerzlich eingestehen, das vergebliche Suchen nach einer Fluchtmöglichkeit macht sie müde, todmüde.
Genau in dem Moment, als die Fliege beschließt, eine Ruhepause einzulegen und für ein erholsames Nickerchen die Augen schließen will, öffnet sich an der Längsseite der Halle eine Tür. Fassungslos registriert sie das verheißungsvolle Aufblitzen des Tageslichts, es füllt den gesamten Türrahmen aus.
Das ist ihre heiß ersehnte Chance! Ihre winzigen Füßchen hinterlassen eine undefinierbare Spur im Staub des Fensterbretts, während sie ohne zu zögern, Anlauf nimmt. Dann fliegt sie, Volldampf voraus, auf das riesige Wesen zu, das gerade den Raum betritt. Kurz bevor die Tür donnernd ins Schloss fällt, erreicht sie die grob gezimmerte Bodenschwelle und wird von einem gnädigen Luftzug ins Freie gewirbelt.
Einen Augenblick lang liegt sie benommen auf der, von einem nachmittäglichen Regenschauer noch feuchten, im warmen Sonnenlicht schwarz dampfenden Erde, rappelt sich schließlich auf und bewegt prüfend ihre zarten Flügel. Sie haben den Sturz heil überstanden. Erst da realisiert sie, dass sie draußen, in der freien Natur ist. Erstaunt beäugt sie die vor Lebenslust brodelnde Welt um sich herum und atmet beglückt die frische Luft ein.
Sie hat es tatsächlich geschafft. Ein Freudenschrei und sie hebt ab, saust blitzartig wie ein Senkrechtstarter dem kobaltblauen Himmel entgegen. Angesichts einer Drossel, die sie sogleich ins Visier nimmt und pfeilschnell auf sie zu geflattert kommt, überlegt sie es sich dann doch noch anders und verschwindet mit einem elegant ausgeführten Flugmanöver zwischen wogenden, langstieligen Gräsern.
Der Mann mittleren Alters schlendert ziellos bis zur Mitte der Halle. Rein äußerlich betrachtet, ist er ein ziemlicher Hüne, misst knapp zwei Meter, wie er selbst immer zu sagen pflegt, aber genau genommen sind es nur ein Meter und fünfundneunzig Zentimeter. So lautet jedenfalls seine offizielle, im Personalausweis angegebene Körpergröße.
Auch wenn er manchmal zu Übertreibungen neigt, hat es Mutter Natur tatsächlich gut mit ihm gemeint. Alles an ihm spielt sich im Bereich zwischen sehr gut gewachsen und eher riesig ab, von seinem kantigen Schädel über seinen breiten, behaarten Brustkorb, bis hinunter zu seinen Quadratlatschen. Das an einen ausgewachsenen Zuchthengst erinnernde fleischgewordene Phänomen, das zwischen seinen Beinen baumelt, ist dermaßen üppig proportioniert, dass allein sein Anblick schon so manche Frau auf Nimmerwiedersehen in die Flucht geschlagen hat.
Erwin Wolf ist der sprichwörtliche Baum von Mann, einer, der einem Bilderbuch entsprungen sein könnte, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts verfasst wurde, Kindermärchen voller altmodischer Ideale, in denen Gut und Böse noch sauber voneinander getrennt waren. Das leibhaftige Vorbild für einen sagenhaften Drachentöter aus einer längst vergangenen Epoche, als Begriffe wie Body-Mass-Index und Transgender noch keine Rolle spielten.
Sein muskulöser, leicht untersetzter Körper steckt in einem vor Schmutz starrenden Arbeitsoverall und abgetragenen, in seinem Metier obligatorischen, Sicherheitsschuhen. Zusammen mit einem pragmatischen Kurzhaarschnitt und einem kurz gestutzten Vollbart, ist er eine unauffällige, aber dennoch imposante Erscheinung.
In der Mitte der Halle mit den Dimensionen eines Fußballplatzes bleibt er stehen und lauscht versonnen in die nachmittägliche Stille. Bis auf den sporadisch einsetzenden sonoren Brummton des Abluftventilators und das gelegentliche, trockene Knacken, das die brütende Gluthitze des Sommertages im Gebälk der weit verzweigten Dachkonstruktion erzeugt, ist kein Laut zu hören.
Dieser Ort ist Erwins Refugium. Hier ist sein schweigsames Naturell willkommen und er frei von dem Druck, nach pflichtschuldigem Lauschen endloser Litaneien, irgend etwas Geistreiches von sich geben zu müssen, und dann trotz sorgsamster Wortwahl doch wieder alles falsch ausgedrückt zu haben.
Er holt tief Luft und seufzt zufrieden, als ob jeder einzelne Atemzug in der stickigen, zum Schneiden staubigen Atmosphäre ein wahres Vergnügen wäre. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, die Nasenflügel schnuppernd aufgebläht, erinnert er an ein wildes Tier, das Witterung aufnimmt. Dabei fällt ihm auf, dass ein gelegentliches, leises Geräusch im Hintergrund, wie das Anspringen des Kühlschranks im angrenzenden Büro, den Eindruck von Lautlosigkeit noch verstärkt.
Totenstille, im Sägewerk steht die Zeit still. Auch die Sägeblätter vom Durchmesser eines Wagenrades stehen still, Sägeblätter unter deren stahlhartem Biss abertausende Bäume tausend Tode gestorben sind.
Doch die momentane Stille ist nur die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Um das dem im Tiefschlaf liegenden Maschinenpark lautstark zu demonstrieren, klatscht Erwin kraftvoll in die schwieligen Hände. Der Schall schlägt hohe Wellen, brandet hart und trocken an die nackten Wände und bricht sich an ihnen, wandert erstaunlich lang von einer Seite der Halle zur andern, bevor er allmählich abebbt und schließlich summend ausläuft.
Immer wieder erstaunlich dieser Effekt, das Sägewerk hat eine wirklich außergewöhnliche Akustik. Als Erwin als Zugabe noch einen gellenden Schrei von sich gibt, ist niemand da, der den minutenlangen Nachhall bezeugen könnte, nur eine einsame Spinne erschrickt fast zu Tode und hält abrupt inne bei ihrem emsigen Netzbau. Im Gegensatz zu ihr, packt Erwin ein wilder Bewegungsdrang. Eine fröhliche Melodie pfeifend knallt er die Hacken seiner mit Stahlkappen bewehrten Sicherheitsschuhe auf den Betonboden und legt einen Freudentanz hin, der das fingerdicke Gemisch aus Holzspänen und Staub in voluminösen Flocken aufwirbelt.
Ja, er ist außer sich vor Glück, denn heute ist der Tag, auf den er seit Monaten hin gearbeitet hat. Endlich hat er die Verträge mit der Stadtverwaltung und dem Energiekonzern TAN schwarz auf weiß in der Tasche. Erwin ist ein großer Befürworter der sogenannten Energiewende. Um diese in Schwung zu bringen, müssen immense Investitionen getätigt und Tausende von Kilometern Kabel verlegt werden. Das bedeutet Aufschwung für die Region und vor allem jede Menge Aufträge für das Sägewerk Wolf.
Dass nach erbitterten Protesten von Anwohnern und Naturschützern anstelle der geplanten oberirdischen Freileitungen, letztendlich nun doch die wesentlich teureren Erdleitungen verlegt werden, spielt eigentlich keine große Rolle. Denn auch für das aufwendige Verlegen der unterirdisch verlaufenden Kabel müssen schnurgerade Trassen durch die Botanik geschlagen werden, wenn auch etwas schmalere. Anstatt eines, für Freilandleitungen vorgeschriebenen, Kahlschlags von siebzig Metern Durchmesser, sind es nun in etwa dreißig.
Als i-Tüpfelchen konnte Erwin gleichzeitig einen weiteren, langfristig angelegten Vertrag mit der TAN abschließen. Man muss das Eisen schließlich schmieden, solange es heiß ist. In Zukunft ist er nun auch für die Instandhaltung der gerodeten Flächen zuständig. Diese müssen permanent frei von Vegetation gehalten werden, weil nachwachsende Wurzeln das Betonbett der Leitungen beschädigen könnten.
Das bedeutet für ihn fest kalkulierbare Einnahmen, Gewinne mit denen er rechnen kann. Nicht nur, dass er damit bis spätestens Ende nächsten Jahres aus den Miesen raus ist, vor allem hat die beschissene Phase des Stillstands, dieses elende Warten auf Aufträge ein Ende, und er darf sich wieder aufführen wie die Axt im Walde. Denn genau das entspricht seiner Natur, so hat Gott ihn gewollt und nicht anders.
Wie er den unverwechselbaren Geruch des verbrannten 2-Takt-Gemischs vermisst hat, das Kreischen der Motorsägen, das Splittern und Bersten der Stämme. Wenn das Donnern der auf die Erde stürzenden Baumriesen die Luft elektrisiert und der Waldboden auf weiter Flur bebt, dann lacht sein Herz, und er fühlt sich sauwohl in seiner Haut.
Das Bild des Mannes, der sich der Wildnis entgegen stellt und mit der geballten Kraft seiner Hände einen Baum fällt, ist in Erwins Vorstellung fest mit der Menschheitsgeschichte verknüpft und drückt ein archaisches Grundbedürfnis aus, das ebenso urzeitlich ist wie das Feuer und genau so alt ist wie der Mensch selbst.
Tief und genüsslich holt er Luft. Ja, das riecht nach Arbeit, jeder Menge Arbeit. Endlich kommen die Räder des Sägewerks Wolf wieder ins Rollen.
An dem Tag, an dem die Halle nach frisch gesägtem Holz duftet, wird er einen ausgeben. Dann wird er mit den Kollegen eine Sause machen, dass die Schwarte kracht. Direkt hier, inmitten des Maschinenparks, werden sie sich mit erstklassigem Hochprozentigen zuprosten und den Geist einer neuen Zeit willkommen heißen.
Prost! Auf das ehrliche Handwerk! Prost! Endlich wieder nach Herzenslust arbeiten zu dürfen. Prost! Weil wir richtige Männer sind und keine Weicheier!
Hoch zufrieden mit dem Ausgang seines kleinen, intimen Selbstgesprächs, greift er in sein dreckverkrustetes, leicht nach Urin und Schweiß stinkendes Overall und massiert, zur Vertiefung dieses viel zu selten empfundenen Hochgefühls, seinen haarigen Hodensack. Als sein Penis auf die Berührung in Form eines Halbsteifens reagiert, stellt er fest, dass er mächtig Lust auf Sex hat. Und dass der letzte amtliche Fick schon verflucht lange her ist.
Er zieht seine freie, linke Hand aus der Hosentasche und guckt auf die Armbanduhr. Eigentlich müsste seine Frau Elena doch jeden Moment nach Hause kommen. Bei dem Gedanken an sie vergeht ihm seine gute Laune gleich wieder. Genervt starrt er auf das schwarz unterlegte Ziffernblatt. Der Sekundenzeiger dreht stoisch seine Runden und lässt sich auch von Erwins leicht überhitztem Temperament nicht aus der Ruhe bringen.
Die Alte verbringt zu viel Zeit in ihrer beknackten Galerie. Sie will es zwar nicht wahrhaben, aber der Laden ist sowieso ein totaler Reinfall, das reinste Groschengrab. Welche Kleinstadt mit so einer hundsmiserablen Infrastruktur wie Weihtal braucht denn einen derart abgehobenen Scheißdreck? Elenas neunmalklugen Kommentar zu dem Thema kann er schon im Schlaf herunterbeten. Es sei ihr Anspruch, im Dienste einer globalen Kulturlandschaft einen zeitgemäßen Kulturbegriff in der Provinz zu etablieren, der nicht nur im Sinne der Völkerverständigung bedeutsam wäre.
„Ja, hochgesteckte Ziele hat sie wirklich jede Menge, die Frau Wolf.“, murrt er verärgert.
Ihre hochnäsigen Sprüche hängen ihm echt zum Hals raus. Damit kann sie vielleicht irgendwelche Großstadtfuzzies beeindrucken. In dieser von Gott und der Welt hoffnungslos abgehängten Region, haben die Leute doch ganz andere Prioritäten. Die kämpfen alltäglich ums Überleben und haben weder Zeit noch Geld noch Sinn für das Schöngeistige und artverwandte Luxusprobleme. Für elitären Schrott wie moderne Kunst interessiert sich hier kein Schwein.
Er steckt sich eine Zigarette in den Mund und zündet sie an. Während er den herrlich aromatischen Rauch tief inhaliert, befreit er seinen inzwischen vollständig erigierten, stark pulsierenden Penis aus dem engen Overall und fängt an zu masturbieren.
Vernachlässigt, null begehrt und ungeliebt, ein netter, harmloser, anspruchsloser Trottel, genau das ist er. Selbst schuld, warum lässt er Elena auch alle diese Sperenzien ungestraft durchgehen? Seine Engelsgeduld und seine Nachgiebigkeit sind seine größten Fehler.
Aber nun, wo der Cashflow wieder hergestellt ist und er sich als Mann somit vollwertig fühlt, ist er seiner Frau gewachsen. Wenn sie es darauf ankommen ließe, ergäbe sich ein Kopf an Kopf Rennen ums Rechthaben. Erwin wäre durchaus imstande, mal richtig auf den Tisch zu hauen und darauf zu bestehen, dass die Konditionen von persönlicher Freiheit und ehelicher Pflicht neu verhandelt werden.
Zugegeben, in seiner jüngsten Lebensphase hat er ihr nicht viel zu bieten gehabt. Er ließ sich gehen, war antriebslos und befand sich an der Grenze zur Depression. Wenn sie sich mit ihm austauschen wollte, hat er nur stumm da gehockt, jede Art von Kommunikation massiv abgeblockt und vor sich hin gebrütet. Im Grunde genommen kann er ihr gar keinen Vorwurf machen, sie hat alles gegeben, um ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken.
Irgendwann muss sie wohl aufgegeben haben, jedenfalls hat sie plötzlich dicht gemacht und nur noch an ihm herum genörgelt. Was genau der Auslöser war, weiß er nicht, aber in dieser Phase der einseitigen Auseinandersetzung, hat er den unverzeihlichen Fehler begangen, sich gänzlich in die Defensive drängen zu lassen. Am Ende stellte er frustriert fest, dass er, außer in Form von lauen Rechtfertigungen, gar nichts mehr zu melden hat.
Ab diesem Moment brauchte Elena ihre Meinung über ihn gar nicht mehr zu äußern, in ihrem säuerlichen Alltagsgesicht trug sie ihre Verachtung nur allzu deutlich vor sich her. So wurde seine Frau zu seinem Spiegel, und der verkündete eine unmissverständliche Botschaft. Sie hat allen Respekt vor ihm verloren.
Eine bittere Erkenntnis, an der kein Weg vorbei führt. Er weiß, das es Zeit wird, sich der Tatsache zu stellen, dass ihr eheliches Gleichgewicht arg in Schräglage geraten ist. Nachdem er die Zügel viel zu lange schleifen ließ, muss er jetzt dafür sorgen, dass es wieder hergestellt wird.
Erwins Schwanz kann sich für seine Gedankengänge nur wenig begeistern und reagiert prompt mit einem spürbaren Verlust an Härte. Frustrierende Wahrheiten törnen ab, mindern den spontanen Ausbruch der Gier. Früher hat er manchmal beim Sex auf diese Methode zurückgegriffen, um einen frühzeitigen Orgasmus seinerseits zu verhindern. Heute kann er von erregenden Penetrationen nur noch träumen oder müsste sich dazu aufraffen, ein Bordell zu besuchen, aber käuflichen Sex findet er leider überhaupt nicht geil.
Lustlos wichst er weiter. Mehr aus öder Gewohnheit, als aus Geilheit, versucht er seinen nur auf Halbmast erigierten Pferdepimmel wieder in Form zu bringen. Doch sein Kopf will partout nicht mitspielen. Anstatt abzuschalten, produziert er einen endlosen Malstrom aus Grübeleien, Bandwürmer aus sinnlosen Assoziationen.
Die Ehe ist ein Schlachtfeld, vielleicht das grausamste überhaupt. Nicht ohne Grund sagt man, dass in der Liebe und im Krieg alles erlaubt ist. Da sind jegliche Bedenken, seien sie moralischen oder sonstigen humanistischen Ursprungs, vollkommen überflüssig. Ein richtiger Pfundskerl wie er darf auch im Eheleben keine halben Sachen machen, sonst gerät er schnell in die Rolle des bedürfnislosen Versorgers und macht sich zum Kasper. Gerade die, im Grunde genommen banalen Niederlagen, die er im Laufe der alltäglichen Meinungsverschiedenheiten um die Organisation eines gemeinsamen Haushalts über sich ergehen lassen muss, schlagen schwer auf das Gemüt und können sich zu regelrechten Kleinkriegen entwickeln.
Sein Penis verliert mit jedem weiteren dieser trübsinnigen Gedanken zunehmend an Standhaftigkeit, doch Erwins Faust lässt nicht locker und kämpft verbissen gegen jedes Zeichen von Schwäche an.
Dem Feind im eigenen Bett ist kaum ein Mann gewachsen. Welche Chance hat man gegenüber einem Gegner, der einen an den Eiern hat?
Elena gehört zur Spezies der hochintelligenten Frauen, die ihre emotionale Überlegenheit knallhart ausspielen und niemals ihr Ziel verfehlen. Mit eiskalter Routine trifft sie stets mitten ins Schwarze, mitten hinein in das schutzlose, butterweiche Mark seiner Männlichkeit.
Zumindest in diesem Punkt ist sie wie alle Weiber, da ist er sich sicher. Diese sind von Natur aus mit der Gabe des skrupellos selbstsüchtigen Kleinkrieges gesegnet. Sie kommen schon voll ausgestattet mit den subtilsten Folterwerkzeugen auf die Welt, mit betörend sinnlichen Mündern, die sie schamlos als Maschinengewehre missbrauchen und aus denen sie pausenlos geschliffene Wortsalven abfeuern.
Doch das reicht ihnen noch lange nicht. Bis zur Perfektion, feilen sie ihr Leben lang an ihren rhetorischen Fähigkeiten. Sie arbeiten an sich, bis sie wahre Meister des mikroskopisch präzise ausgeführten Seitenhiebes sind, einer Kriegsstrategie, die heimtückisch aus dem Hinterhalt kommt und den Vorteil der Überraschung schamlos ausnutzt. Wenn sie erst einmal in diesem Stadium der sprachlichen Überlegenheit angelangt sind, kennen sie keine Gnade mehr. Unentwegt bombardieren sie die Männer mit kritischen Bemerkungen, feuern diese mit schlafwandlerischer Sicherheit in jeden ihrer wunden Punkte, schmerzhaft wie Messerstiche.
Es bereitet ihnen sogar regelrecht Vergnügen, verbale Spitzfindigkeiten auszubaldowern und sie in einen toxischen Sud aus bitteren Vorwürfen und listigen Schuldzuweisungen zu tränken. Sie weiden sich daran, ihre Gegner zu beobachten, die sich unter dem Ansturm der Giftpfeile winden, deren Spitzen, gleich hauchdünnen Injektionsnadeln, unter die dickste Haut dringen und im sensiblen Innenleben der Männer irreparable Schäden verursachen.
Inzwischen lässt das sonst so prachtvolle Gemächt ernsthaft den Kopf hängen und das Glücksgefühl aus Erfolg und Lust droht vollends zu versickern. Doch Erwin gibt nicht auf.
Er sieht sie quasi vor sich, die sich ständig wiederholenden, immer gleichen Situationen, Geschichten aus dem Inneren eines Hamsterrades. Da kann er noch so poltern und toben, bei solchen Auseinandersetzungen hat er keine Chance und zieht unweigerlich den Kürzeren. Seine Frau nennt diese unfairen Scharmützel vornehm Streitkultur und behauptet steif und fest, dass sie eine moderne, funktionierende Beziehung überhaupt erst ausmachen und beflügeln. Obwohl sie weiß, dass er unter ihrer Strategie der Disharmonie und des vorsätzlichen Liebesentzugs leidet wie ein getretener Hund, setzt sie immer noch einen oben drauf und attackiert mitleidlos seine Schwachstellen.
Dabei geht ihr offensichtlich echt einer ab. Ihre Stimmung ist nach jedem dieser spitzzüngigen Wortgefechte blendend, er hingegen fühlt sich danach restlos entmutigt und zutiefst verletzt. Diese Demütigungen nagen massiv an seinem Selbstwertgefühl. Wohin so etwas am Ende führt, kann man in jedem beliebigen Lifestyle-Magazin lesen. Es mündet auf direktem Weg in eine tragikomische Randexistenz als impotenter Vollidiot.
Erwin gibt das Ringen um die Vorherrschaft in der Welt seiner Gedanken auf, ebenso wie die Hoffnung auf eine entspannende Ejakulation. Resigniert seufzend verstaut er seinen schlaffen Schwanz und zündet sich noch einen Glimmstengel an.
Geistige Disziplin heißt das Zauberwort. Er wird sich jetzt zusammenreißen und lernen, klare Standpunkte zu beziehen. Wo ein Mann kein Mann sein kann, muss er die Verhältnisse entweder grundlegend umkrempeln oder schleunigst das Weite suchen.