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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
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Vorbemerkung

Während der sommerlichen Ferienzeiten, die wir Geschwister vom Jahre 1883 ab mit unseren Eltern an irgend einem stillen Erholungsort zubrachten, pflegte uns unser Vater Erinnerungen aus seinem Leben zu diktieren. Sie umfassen die ersten vierzig Jahre seines Lebens und reichen bis zu seinem Eintritt in die Arbeit in Bethel. Für die Darstellung der Zeit von 1831–1872 boten mir diese Erinnerungen, die der Raumersparnis wegen nicht ganz gebracht werden konnten, wesentlichen Anhalt. Sie erschienen vollständig in der Monatsschrift „Beth-El”, Jahrgang 1909, 1912–14 und 1918/19. (Verlag des Pfennigvereins der Anstalt Bethel bei Bielefeld.) Da, wo diese Erinnerungen im Text wörtlich angeführt sind, sind sie durch Anführungsstriche gekennzeichnet.

I
1831–1872

Voreltern und Eltern

Die Heimat der Familie v. Bodelschwingh liegt zwischen Ruhr und Lippe im Herzen des westfälischen Industriebezirks, wo heute die rauchenden Schornsteine den Tag dunkel machen und die grellen Feuergarben der Hochöfen die Nacht erhellen. Wer jetzt mit dem eilenden Zuge jenes Gebiet durchreist, der ahnt kaum, daß mitten in dieser lärmenden, flammenden Welt noch manche stille Zeugen der alten Zeit stehen. Zu diesen Zeugen gehört auch die ehrwürdige Wasserburg, die zwei Stunden westlich von Dortmund am Ausgange einer kurzen, engen Waldschlucht sich aus breitem Wassergraben erhebt. Das ist Haus Bodelschwingh, dessen Name um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts zum erstenmal in alten Urkunden auftaucht.

Eine märkische Familie Speeke, die hier wohnte, nimmt um diese Zeit nach ihrem Wohnsitz den Namen Bolschwich, später Bolschwingh und Bodelschwingh an. Unter der alten Fehmlinde zu Dortmund, die erst vor wenigen Jahren dem Bau des neuen Bahnhofes weichen mußte, sollen Herren aus dem Hause Bodelschwingh forterbend das Gericht der heiligen Fehme geübt haben. Aber gewiß ist das nicht. Die spärlichen Urkunden melden nur, daß ein Sohn des Hauses Bodelschwingh im Dienst des deutschen Ordens ostwärts zog, um sich und seinen Nachkommen im Baltenlande eine neue Heimat zu gewinnen. Ein anderer fiel im Kampf gegen die Türken und liegt in Ungarn begraben. Im Dom zu Mainz findet sich das Grabmal eines Wennemar v. Bodelschwingh mit der Jahreszahl 1543, der nach den alten Berichten des Domkapitels seinem fürstlichen Bischof ein treuer Ratgeber gewesen sein muß, und um die gleiche Zeit meldet das Kirchenbuch der Stadt Elberfeld, daß Friederike v. Bodelschwingh um ihres evangelischen Bekenntnisses willen mancherlei Ungemach zu leiden hatte.

Ein Sohn aus dem Hause Bodelschwingh heiratete im Jahre 1633 Felicitas v. Oeynhausen, die wegen ihrer Herzensgüte bei arm und reich hochgeschätzte Erbin des zwischen Dortmund und Hamm gelegenen Gutes Velmede. Aus diesem Hause Bodelschwingh-Velmede stammt Ernst v. Bodelschwingh, der Vater des späteren Pastor Friedrich v. Bodelschwingh.

Ernst v. Bodelschwingh, geb. 1795, hatte nach seiner Schulzeit die nassauische Forstakademie in Dillenburg besucht und war dann im Herbst 1812 zum Studium der Rechtswissenschaften nach Berlin gegangen. Hier traf ihn im Frühjahr 1813 der Aufruf des Königs Friedrich Wilhelm III. „An mein Volk”. Wenn er sich zu den preußischen Fahnen meldete, so war damit der elterliche Besitz in dem damals unter französischer Herrschaft stehenden Westfalen bedroht, und ein Freund warnte ihn, daß er sich nicht leichtsinnig um sein Erbe bringe. „Aber”, rief Bodelschwingh aus, „was ist eine Handvoll Erde gegen mein Vaterland!” und eilte, kaum siebzehn Jahre alt, nach Breslau. Um aber Eltern und Besitz möglichst zu schützen, ließ er sich unter falschem Namen in die Liste der freiwilligen Jäger eintragen.

Er kämpfte in den Schlachten von Groß-Görschen, Bautzen und an der Katzbach und war bei Leipzig in dem besonders blutigen Ringen des Yorckschen Korps um das Dorf Möckern. Bei der Verfolgung der zurückflutenden französischen Armee kam es hinter Freiburg auf den Höhen über dem Unstruttale zum Gefecht, und hier erhielt der junge Jägerleutnant, hart über dem Herzen, einen Schuß durch die Lunge. Er hatte am Tage dem bedrängten Stadtschreiber des Städtchens Lauchstädt beim Ausschreiben der Quartierzettel geholfen, und dieser kleine Dienst rettete ihm das Leben. Denn als der Transport der Verwundeten Lauchstädt passierte, holten der Stadtschreiber und seine Frau den todesmatten jungen Leutnant, der den Transport bis Halle an der Saale nicht überstanden haben würde, in ihr Haus. Das Bett war zu kurz für den fast sechs Fuß langen Kranken. So bekam er sein Strohlager an der Erde, und sein treuer Bursche Schneeberg – wie oft hat das später der Sohn des Verwundeten den Pflegern und Pflegerinnen seiner Kranken erzählt! – bettete sich zu den Füßen seines Herrn und sagte: „Herr Leutnant, wenn Sie etwas wünschen, dann treten Sie nur.” Denn zum Sprechen war der Kranke zunächst zu schwach.

Die Wunde des jungen Leutnants schloß sich nur langsam, und die alte Frische wollte nicht wiederkehren. Die Eltern, die nach langem, bangem Warten endlich die Nachricht des Stadtschreibers erhielten, machten sich auf den Weg, um ihren Sohn zu holen. Im Angesichte der Stadt eilte die Mutter dem Wagen voraus und trat unverhofft in die Stube, wo ihr blasser Sohn in die Kissen gelehnt auf dem Stuhle saß. Die übergroße Freude ließ das Blut des Kranken aufwallen, sodaß sich die Wunde aufs neue öffnete. Aber gerade das war der Anfang der Genesung. Denn aus einem verborgenen Eiterherd kamen Reste der Uniform zum Vorschein, die bisher die Heilung gehindert hatten.

Freilich blieben die Kräfte noch lange geschwächt. Als 1815 der Krieg mit Napoleon abermals ausbrach, verweigerten darum die Eltern ihrem Sohn, sich bei der Truppe zu stellen. Da machte er sich zu Fuß von Göttingen, wo er studierte, querfeldein auf den Weg nach Velmede, seiner Heimat. „Mutter, ich kann wieder marschieren,” so trat er ins Zimmer und erkämpfte sich die Erlaubnis der Eltern.

An dem Tage, wo er von Unna aus zur Armee aufbrach, erlitt dicht vor Unna das Gefährt zweier junger Mädchen, der beiden Schwestern von Diest, die denselben Weg zum Rhein reisen wollten, einen Unfall. Die Pferde hatten gescheut, der Kutscher war schwer verwundet, und so blieb den beiden nichts anderes übrig, als zur Weiterreise den Postwagen zu nehmen. Das war derselbe Weg und derselbe Wagen, den auch der junge Leutnant v. Bodelschwingh benutzen mußte, um die Truppe zu erreichen. So lernte Ernst v. Bodelschwingh in einer der beiden Schwestern seine spätere Lebensgefährtin, Charlotte v. Diest, kennen, und durch diesen Unglücksfall wurde der Grund gelegt zu einer Ehe, durch die ein Strom von Glück über ungezählte Unglückliche kommen sollte.

So spärlich die Nachrichten über die Bodelschwinghs fließen, so reich sind sie andrerseits über die Familie v. Diest. Über Ort und Gau der im Jahre 838 zum ersten Male erwähnten deutsch-niederländischen Stadt Diest erwarb Otto v. Diest im Jahre 1090 das Herrschaftsrecht und wurde zum Stammvater eines Hauses, dem die Herzöge von Brabant und Flandern und manche andere alte und berühmte niederländische Geschlechter ihre Töchter zu Frauen und ihre höchsten Ämter zur Verwaltung gaben. In Münster, Lübeck, Utrecht und Straßburg finden wir Bischöfe v. Diest; und Arnicus v. Diest, der in seiner Einsiedelei als „ein Freund Gottes”, aber auch als Freund der Tiere, Kinder und Kranken lebte, wurde um das Jahr 1200 heilig gesprochen.

Früh bekannte sich die Familie zum evangelischen Glauben. Johann v. Diest, Prediger zu Antwerpen, wurde 1571 von seinem Krankenbett zum Scheiterhaufen geführt, und sein Sohn wurde auf dem Heimwege von der Synode in Dordrecht 1583 aufgegriffen und in einem Sacke ertränkt. Schließlich konnten sich die Evangelischen der belgischen Niederlande nur noch durch die Flucht ihren Verfolgern entziehen; und so finden wir von jetzt ab die Familie v. Diest im kurbrandenburgischen Staatsdienst oder, wie einst auf den Bischofsstühlen, so jetzt auf evangelischen Kanzeln und Lehrstühlen der rheinischen Städte. Samuel v. Diest, Professor der Theologie und Philosophie an der Universität Duisburg, trat als ein entschlossener Kämpfer für den Frieden der in bitterem Streit liegenden Lutheraner und Reformierten hervor, „um gegenseitige Duldung und brüderliche Gesinnung herbeizuführen, welche vor allem auch bis zur Gemeinschaft des Wortes und Sakramentes gehen müßte”. Und doch blieb solche edle Weitherzigkeit bei den Diests frei von feigem Nachgeben. Denn als der preußische Resident v. Diest in Cöln im Jahre 1714 von den dortigen Studenten durch Gewalt an der Abhaltung evangelischer Versammlungen in seinem Hause verhindert werden sollte, wandte er sich an König Friedrich Wilhelm I., der mit zähem Nachdruck sich hinter seinen Residenten stellte und Kur-Cöln zum Nachgeben zwang.

Eins der wenigen übriggebliebenen Glieder dieses alten Geschlechts war der Tribunals-Präsident Heinrich v. Diest, der erst in Cleve, dann in Burgsteinfurt gelebt hatte. Er und seine Frau aber waren vor und während der Freiheitskriege gestorben und hatten ihre Kinder in bescheidenen Verhältnissen zurückgelassen. Zu diesen Kindern gehörten auch jene beiden jungen Mädchen, Charlotte und Angelie v. Diest, mit denen Ernst v. Bodelschwingh in Unna zusammentraf und von denen die ältere später seine Frau wurde.

Nach seiner Rückkehr aus dem Feldzuge vollendete Ernst v. Bodelschwingh sein Studium und arbeitete als Referendar in Arnsberg, Berlin und Münster. Die Ferienzeiten aber führten ihn immer wieder zurück ins Elternhaus nach Velmede.

Nur anderthalb Stunden von dem väterlichen Gute entfernt lag Kappenberg, der Wohnsitz des vielleicht besten deutschen Mannes des ganzen Jahrhunderts, des Reichsfreiherrn vom Stein. Sein Auge fiel auf den jungen Referendarius, und Stein zog ihn in seine Nähe. So kam eine Freundschaft zustande, die bis zum Tode des Reichsfreiherrn anhielt und die für Leben und Amt Ernsts v. Bodelschwingh die größte Bedeutung gewann.

 

1822 wurde er zum Landrat des Kreises Tecklenburg ernannt. Das Landratsamt in dem Städtchen hatte keine geeignete Wohnung. Aber die Witwe des früheren Landrats, Frau v. Diepenbrock-Grueter, die dicht unterhalb der Stadt Tecklenburg in Haus Mark wohnte, bot einen Teil des Hauses zur Wohnung an. So konnte denn der Landrat sein „Lottchen”, wie er zeitlebens seine Frau nannte, heimführen. Die junge Landrätin war freilich ihrer Schwiegermutter keine willkommene Tochter. Die alte Frau v. Bodelschwingh stammte aus dem Hause Plettenberg, das einst dem deutschen Ritterorden in Hans v. Plettenberg einen seiner größten Ordensmeister gestellt hatte. Sie war bei kleinem, zartem Körper eine stolze und sehr willenskräftige Natur. Im Stillen hatte sie sich eine der Töchter des Freiherrn vom Stein an die Seite ihres ältesten Sohnes gewünscht. Darum blieb sie lange Zeit ihrem Sohne gram, obwohl er, wie sie selbst sagte, ihr niemals Kummer gemacht hatte. Namentlich aber mußte ihre Schwiegertochter viele Jahre hindurch unter schwerer Zurücksetzung leiden. Doch die junge Landrätin trug es still und gewann dadurch das Herz ihrer Schwiegermutter in einer Weise, daß die alternde Frau schließlich niemand lieber um sich hatte als ihr „Lottchen”. „Kinder, vergeßt es nie, was ihr für eine Mutter habt!” rief sie einmal ihren Enkeln zu. Und als es zum Sterben mit ihr ging, war es wiederum ihre Schwiegertochter, der sie ihr ganzes Herz ausschüttete, wie ein Beichtkind dem Beichtvater, und von der sie sich Trost und Stärkung holte für den letzten Gang.

Ihr Mann, der „Franzherr”, wie ihn seine Leute nannten, war ihr im Tode längst vorangegangen. Er war ein Mann von gewissenhafter Treue und größter Herzensgüte. Das Gut war zum Teil verpachtet, und der Pachtzins mußte jährlich in bar bezahlt werden. Ein Pächter, der in jenen schweren Zeiten die Summe nicht rechtzeitig hatte aufbringen können, kommt zum Gutsherrn, um ihn um Stundung zu bitten. Der weist ihn an seinen Rentmeister, dem die Einkassierung des Pachtgeldes oblag. Dieser aber bleibt hart. So kehrt der bedrängte Pächter zum Gutsherrn zurück und bittet ihn, ihm das Geld vorzustrecken, damit er es dem gestrengen Rentmeister zahlen könne. Der Franzherr gibt ihm das Geld, und der Pächter trägt es zum Rentmeister hinüber. Aber der findet unter der Summe ungängige Münzen und lehnt sie ab. Und noch einmal kommt der Pächter zu seinem Herrn, um sich die gewünschten Münzen einzutauschen und so mit dem Gelde seines eigenen Pachtherrn die Pacht zu bezahlen.

Die Landrätin in Tecklenburg, seine Schwiegertochter, hatte nach einer beängstigenden Nacht eines Morgens zu ihrem Mann gesagt: „Ich weiß nicht, warum ich so unruhig bin, ich glaube, unserm Vater geht es nicht gut.” Noch denselben Morgen kam ein reitender Bote mit der Nachricht, daß der Vater krank sei. Sofort warf sich der Landrat aufs Pferd. Aber als er Velmede erreichte und die Magd, die ihm begegnete, fragte: „Wie geht es dem Vater?” sagte sie nur: „Der ist eingegangen zu seines Herrn Freude.” Der Sohn dieses Vaters aber, der Landrat von Tecklenburg, stand mit gleicher Treue und mit großer Umsicht in seinem Amt. Noch nach Jahrzehnten haben die Augen der Tecklenburger geleuchtet, wenn der Name ihres ehemaligen Landrats genannt wurde.

Der Osten Deutschlands hatte in den Jahren 1813–15 den großen Frühling vaterländischen Erwachens erlebt. Jetzt erlebte der Westen ein neues Erwachen des alten Glaubens der Väter. Statt des Rationalismus, der keinen Menschen mehr befriedigte, wurde der Geschmack an dem Evangelium lebendig. Auf vielen Kanzeln erstanden Männer, die den sehnenden Herzen und Gewissen den Sünderheiland predigten.

Die Kirche in dem Städtchen Tecklenburg blieb freilich von diesem neuen Frühlingshauch unberührt; aber im benachbarten Lengerich spürte man ihn und drüben in dem kleinen Walddorf Ledde, nur eine kurze Stunde von Haus Mark entfernt. So sehen wir auch die Tecklenburger Landrätin mit ihrem Mann in Ledde unter der Kanzel des feurigen jungen Predigers Walter wie auch in Lengerich, wo Pastor Smend stiller, aber auch tiefer von dem neuen Leben erfaßt war.

Fünf Kinder hatte sie ihrem Mann geboren, und jetzt, wo sie ihr sechstes Kind erwartete, war es für sie eine Zeit, wo ihr Herz unter dem Wehen des Geistesfrühlings mehr als je in Sprüngen ging und ihre Liebe zu dem, der sie zuerst geliebt hatte, besonders hell brannte. Nie vorher hatte sie einem ihrer Kinder mit solcher Freudigkeit und Sammlung des Herzens entgegengesehen. So kam der 6. März 1831 heran. Es war ein Sonntag. Die Hausgenossen waren zur Kirche gegangen. Die Landrätin hatte still für sich eine Predigt des Württembergers Hofacker gelesen. Nun weihte sie das Kind, das sie erwartete, noch einmal, wie sie es früher schon getan, ihrem Herrn zum Eigentum und Dienst. Am Abend desselben Tages hielt sie ihren kleinen Friedrich in den Armen.

Die Jugendzeit

Koblenz. 1832 – 1842

Zwei Monate später mußte die Familie v. Bodelschwingh ihr liebgewonnenes Tecklenburger Land verlassen. Es ging dem Rheine zu nach Cöln, wohin der Landrat als Oberpräsidialrat versetzt worden war. Noch in demselben Jahre wurde er Regierungspräsident von Trier. Von hier schrieb später seine Frau an ihre Schwester: „Von Fritz läßt sich nur sagen, daß er ein recht aufgeweckter Junge ist und das Soldatenspiel so fleißig übt, als wenn es ihm damit schon ein großer Ernst wäre.” Und der kleine Fritz selbst erinnerte sich aus dieser Zeit an die großen Taubenschwärme, die um die Porta Nigra, das uralte Römertor, flogen, und – an den Sarg, in welchem sein kleiner Bruder Ernst lag. „Die Kränze,” so erzählte er, „hüllten den Sarg ein, die Lichter brannten, und als der Sarg aufgehoben wurde, da war es mir, als würde er gradeswegs in den Himmel getragen.” So nah und dicht ragte dem Kinde unter der Unterweisung der treuen Mutter die unsichtbare Welt schon damals in die sichtbare hinein.

Dann, 1834, kam die Ernennung des Vaters zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz, und der kleine Fritz weiß noch, wie eines Tages die ganze Familie auf der „Eiljacht” moselabwärts von Trier nach Koblenz fährt. „Koblenz”, so erzählt er später, „wie freundlich blickst du aus Kindheitstagen mich an! Wie haben die schönen Fluten der Mosel und des herrlichen Rheinstroms, in denen ich schwimmen lernte, wie haben die schönen Berge, in die so mancher fröhliche Weg uns hineinführte, mich erfreut und erquickt! Aber ganz besonders traut bleibst du mir, alte Wohnung in der Oberpräsidium-Straße! Welch ein Kinderparadies warst du für uns! Welche Schätze mancherlei Art, gruselige und heitere, botest du uns dar: einen großen Flur, wo wir nach Herzenslust unsere Kreisel treiben konnten, eine unbeschreiblich gemütliche Wohnstube, wo die Mutter in allen Anliegen aufgesucht werden durfte; ein Hinterhaus nach dem Garten zu, wo unser Hauslehrer wohnte und wir zu arbeiten hatten, dazwischen ein langer, langer Gang mit einer Glastür, durch die es auf die Rumpelkammer des Hauses mit ihren altertümlichen Truhen ging und von da auf einen langen Boden, wo wir unsere Mäusefallen aufstellten. Vom Ende dieses Bodens aber, das war unser Geheimnis, gelangten wir durch ein losgelöstes Brett mittels eines kühnen Sprunges auf den Heuboden des Kutschers Franz. Kein schöneres Spiel, als hier von oben nach unten Kobolz zu schießen oder, was noch viel schöner war, oben in der verborgensten Ecke des Heubodens sich ein Häuschen zu bauen. Da wurden die schönsten Geschichten erzählt. Und, o Wonne, wenn es nun gar am Schloß rappelte und Kutscher Franz den Heuboden betrat! Da hielten wir alle den Atem an, bis er mit seiner Tracht Heu wieder verschwunden war.

Aber einmal, als wir Kinder an der Glastür vorbeikamen, klopfte es von innen, und oben durch die Scheiben guckte ein Kerl. Eigentlich war es gar kein Kerl, sondern ein alter Hut, der oben auf der Rumpelkammer gelegen hatte und der nun auf einem mit einem weißen Tuche behangenen Stocke in die Höhe gehalten wurde. Natürlich ein furchtbarer Schreck der kleinen Gesellschaft und Fersengeld, was nur die Füße laufen wollten. Was half es, daß der Bruder Ludwig die Tür aufmachte und lachend den alten Hut auf dem Stocke zeigte. Der Schreck blieb nun einmal. Und so oft der Spaß wiederholt wurde in wechselnden Gestalten, die durch das Fenster guckten, – bald war es eine große ausgestopfte Puppe, bald ein ausgehöhlter Kürbiskopf – die Furcht vor der Glastür verlor sich nicht.

Ganz besonders schön war unser Garten, der in zwei Terrassen zur alten, dicken Stadtmauer hinunterführte. In dieser Mauer legten wir unsere Räuberhöhlen an und bargen unsere selbstgeschnitzten Waffen darin: Säbel, Pistolen, Streitäxte, Bogen und Pfeile. In der Mitte des Gartens lief eine Allee von Linden, in deren prachtvoll verschlungenen Kronen wir Kinder manche Stunde zubrachten. Von allen Obstbäumen bleibt der große Birnbaum oben rechts in der Ecke des Gartens besonders unvergeßlich. Er trug so treu jedes Jahr mehrere Waschkörbe voll Birnen, daß der Tag, an dem wir ihn abernteten, jedesmal ein Familienfest war. Hinter dem Birnbaum war ein Himbeerbeet, das beliebteste Versteck, wenn wir Anschlag spielten. Unten im Garten aber hing an vier Balken eine lange Schaukel, auf der wir Kinder alle zugleich Platz hatten. Oben links in der Ecke stand eine Geißblattlaube, wo so manches Mal unser Vesperbrot verzehrt wurde, und an der Mauer waren die prachtvollsten weißen und blauen Weintrauben. Das alles genossen wir nicht allein, sondern mit treuen Spielgefährten zusammen, die sich täglich bei uns einstellten.

Besonders reich wurde unser Leben, als der Vater noch einen Garten am Rhein hinzukaufte, dem Dörfchen Pfaffendorf gegenüber. Diesen Garten, der unser eigentlicher Gemüse- und Obstgarten war, halfen wir Kinder bepflanzen und bestellen. Wir konnten alle klettern wie die Katzen. Darum war es uns auch ein Kleines, über den hohen Gartenzaun zu kommen. Als das aber der Vater erfuhr, verbot er es uns, damit wir es andern Kindern nicht vormachten. Wir sollten fortan immer den Schlüssel mitnehmen und nur durch die ordentliche Tür aus- und eingehen.

Nun hatten mich einmal die Geschwister, als sie kurz vor Mittag nach Hause gingen, aus Versehen in dem Garten eingeschlossen in der Meinung, ich sei schon voraus, während ich ganz vertieft hoch in den Zweigen eines Kirschbaums saß. Plötzlich merkte ich, daß alles still um mich her war. Ich stieg vom Kirschbaum und stand alsbald vor der verschlossenen Tür. Es wäre mir ja ein kleines gewesen, über den Gartenzaun hinüberzuklettern, wie ich dies schon oft getan hatte. „Aber der Vater hat es ja verboten”, so hieß es in meinem Herzen. Da mein Rufen nichts half, legte ich mich schluchzend auf die Bank in der Gartenlaube, die ganz von Gebüschen eingeschlossen war. Eine Nachtigall, die dort in dem Busch ihr Quartier hatte, kam ganz zutraulich auf den Tisch geflogen, der vor der Bank stand, auf der ich endlich über meinen Tränen einschlief.

Inzwischen war zu Hause große Unruhe gewesen. Die Geschwister hatten gesagt, ich müsse gewiß schon vor ihnen aus dem Garten gegangen sein. Und wenn sie mich doch vielleicht eingeschlossen hätten, so wüßte ich ja, daß ich zu Mittag zu Hause sein müßte, und wäre gewiß über den Zaun gesprungen. So hatte man mich denn überall gesucht, nur da nicht, wo ich zu finden war. Da, mit einemmal, hörte ich mich beim Namen rufen. Der Vater stand vor mir und sagte: „Mein Sohn, wie konntest du uns das antun?” Ich antwortete, aufs neue in Tränen ausbrechend: „Vater, du hast es uns doch verboten, über die Mauer zu klettern.”

Sehr lebhaft stehen mir noch die schweren Erkrankungen meines Vaters in Erinnerung. Zweimal lag er in Koblenz an seiner durchschossenen Lunge todkrank, beide Male an Lungenentzündung. Das eine Mal kam es so weit, daß die Ärzte ihn aufgegeben hatten. Es war spät am Abend, da holte uns die Mutter alle herein in das vermeintliche Sterbezimmer. Wir Kleinen nahmen mit heißen Tränen vom lieben Vater Abschied, der noch in der Nacht das heilige Abendmahl empfing. Nachdem die Mutter uns zu Bett gebracht hatte, suchte sie, wie sie mir später erzählte, eine verborgene Stelle auf, legte sich dort auf ihr Angesicht und bat Gott um ein ganz gehorsames Herz, mit dem sie sagen könne: „Herr, dein Wille geschehe!” So hielt sie lange an mit Beten und Rufen, bis es endlich ganz still in ihr wurde und sie ihr Jawort geben konnte zu dem Opfer, das sie bringen sollte. Kaum aber hatte sie in ihrem Herzen das Opfer vollbracht, da war es ihr, als bekäme sie einen freundlichen Zuspruch: „Nun sollst du ihn noch einmal behalten.” Und siehe da, wie sie von leiser Hoffnung getragen in das Krankenzimmer zurückkehrt, da merkt sie, daß der eigentümliche Schweiß eingetreten ist, der eine Wendung zur Genesung ankündigt. Noch ganz deutlich habe ich das glückliche Angesicht der Mutter vor Augen, wie sie sich morgens über unser Bett neigte und uns Kleinen mit der Freudenbotschaft begrüßte: „Liebe Kinder, der Vater wird wieder besser.”

 

War es bei dieser Krankheit oder bei der vorhergehenden, das weiß ich nicht mehr gewiß, aber das weiß ich, daß ich oftmals auf dem Bette des Vaters saß, als er in der Genesung begriffen war, und daß er ein kleines Buch in der Hand hatte, aus dem er mir den ersten Leseunterricht gab. Auch meine älteren Geschwister hatten alle aus demselben kleinen Buch lesen gelernt. Es enthielt zugleich den ersten Religionsunterricht in kurzen Sätzen mit lauter einsilbigen Wörtern und fing an: ‚Mein Kind, Gott ist sehr gut, er hat dich sehr lieb.’”

Treue Hauslehrer – einer von ihnen kam, von Zeller empfohlen, aus der Anstalt Beuggen am Rhein – setzten den Unterricht bei dem kleinen Friedrich und seinen Geschwistern fort. Sie waren auch die Begleiter der heranwachsenden Kinder bei den schönen Wanderungen den Rhein aufwärts bis ins Nahetal oder den Rhein abwärts in die westfälische Heimat zu der zwar gefürchteten, aber doch zugleich innig geliebten Großmutter. Vorübergehend wurde auch die Bürgerschule von Koblenz besucht und auf dem Heimweg zwischen der in ein katholisches und ein evangelisches Lager geteilten Schuljugend manch heißer Strauß ausgefochten.

Vornehme Gäste kamen ins Oberpräsidium, auch der preußische Kronprinz und die Kaiserin von Rußland. Aber die Mutter blieb dieselbe schlichte Frau und wurde es noch immer mehr. Einmal, als die Köchin erkrankt war und die zum Diner geladenen Gäste nicht mehr abbestellt werden konnten, auch keine andere Hilfe sich zeigte, blieb sie in der Küche und besorgte das ganze Essen, ohne sich ihren Gästen zu zeigen.

Unvergeßlich blieb auch ihren Kindern, was sie von ihrer Reise nach Berlin erzählte, wo ihr Mann, der zur Huldigungsfeier des Königs Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gerufen worden war, abermals an Lungenentzündung krank lag. Als sie mit der Post bis Cassel gelangt war, hieß es: „Zwölf Stunden Aufenthalt.” Das war keine Kleinigkeit für die um ihren todkranken Mann geängstete Frau. Da ihr ein Paar Schuhe fehlten, machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Die prunkenden Läden liebte sie nicht, und so suchte sie eine Nebengasse auf, in der sie das Schaufenster eines Schusters fand, mit einem einzigen Paar kleiner Schuhe besetzt. Sie trat ein und fand darin das vergrämte Gesicht einer Frau. Sie merkte gleich, daß sie die Schuhe kaufen mußte, ob sie ihr paßten oder nicht, und fragte teilnehmend, warum denn nur ein Paar Schuhe übriggeblieben seien. Da kam es heraus, daß der Mann an der Schwindsucht darniederliege und nicht mehr arbeiten könne. Bald saß die Oberpräsidentin am Bette des Kranken. Nachdem sie unten im Laden die Frau erfreut hatte durch den höchsten Preis, den sie irgend für die Schuhe anbringen konnte, erquickte sie nun vollends den Mann aus dem reichen Schatz ihres Herzens und stärkte ihn für seinen Weg aus der Zeit in die Ewigkeit. Darüber wurde ihr eigenes sorgenvolles Herz, das durch den langen Aufenthalt in doppelte Unruhe gebracht war, still. Und als sie nach zwei Tagen in Berlin ankam, fand sie ihren Mann schon auf dem Wege zur Genesung. Gerade in der Stunde, wo sie am Bette des armen kranken Schusters in Cassel gesessen hatte, war die Krisis eingetreten.

Solche Erfahrungen machten es immer mehr zu ihrem inneren Besitz und Grundsatz, durch keine Verlegenheit verlegen zu werden und durch keine Verdrießlichkeit verdrossen. „Es ist alles gut, was wir nicht selbst verschuldet haben”, pflegte sie oft zu sagen; und wo etwas besonders Schweres kam, sagte sie: „Gott hat gewiß etwas besonders Gutes damit im Sinn.” Darin war sie vollkommen eins mit ihrem Mann, der von Natur noch glücklicher veranlagt war als sie und an dem alle, die mit ihm in Berührung kamen, mit einer unbegrenzten Liebe emporsahen.

Schon ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt schrieb Professor Clemens Perthes in Bonn: „Ich fand in Koblenz viel verändert; statt des alten guten, aber schwachen P. einen jungen überaus kräftigen Mann als Oberpräsidenten, der mit eigener Hand überall eingriff und schon ein gutes Maß Schmutz aus dem alten Schlendrian aufgewühlt hat. Bodelschwingh ist aus Vinckes Schule, ebenso kräftig und sorgsam, aber gewiß viel besonnener als dieser, dabei von einem schönen, männlichen Äußeren, Meister in allen körperlichen Übungen, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse. Durch sein einfaches Auftreten paßt er ganz vorzüglich für die Rheinlande, denen wohl nicht leicht ein größerer Verlust zugefügt werden könnte, als wenn der Oberpräsident wirklich, wie es heißt, Finanzminister werden sollte. Es muß eine Lust sein, unter Bodelschwingh zu arbeiten.” In der Tat gelang es der hingebenden Treue und Umsicht Bodelschwinghs im Bunde mit seinen von ihm hingerissenen Mitarbeitern, die rheinische Provinz, um die Frankreich mit so heißen Bemühungen geworben hatte, wieder fest mit dem Mutterlande zu verknüpfen.

Auch die Verhaftung des Cölner Erzbischofs von Droste-Vischering, die er infolge des Mischehen-Streites auf Befehl der Krone persönlich zu vollziehen hatte, konnte dem evangelischen Mann das Vertrauen der meist katholischen Rheinländer nicht entziehen. So tief waren alle trotz unvermeidlicher sachlicher Differenzen von der Rechtlichkeit seiner Person überzeugt.