Buch lesen: «Soll und Haben, Bd. 1 (2)»
Seiner Hoheit
Ernst II.
Herzoge zu Sachsen-Coburg-Gotha
Es war ein lachender Maiabend auf dem Kallenberg. Oben um das Schloß blühte und duftete der Frühling und die Blätter der rothen Akazie warfen gezackte Schatten auf den thauigen Rasen. Unten im Dunkel des Thals sprangen die zahmen Rehe aus dem Gehölz und schauten begehrlich nach der hellen Gestalt der Herrin, welche den holden Segen des Gastrechts Jedem ertheilt, der in den Bannkreis des Schlosses tritt, dem Menschen, wie dem Vogel und dem Wild. Die Ruhe des Abends lag auf dem Hügel und Thal, nur aus weiter Entfernung klang zuweilen das Rollen des Donners in die lichtreiche, glückliche Landschaft. An diesem Abend sah Eure Hoheit, an die Steine der alten Schloßmauer gelehnt, sorgenvoll über die fruchtbaren Felder hinein in die dämmrige Ferne. Was mein edler Fürst damals sprach: über die Verwirrung der letzten Jahre, über die Muthlosigkeit und müde Abspannung der Nation, und über den Beruf der Dichter, die grade in solcher Zeit dem Volke einen Spiegel seiner Tüchtigkeit vorhalten sollen zur Freude und Erhebung, – das waren goldene Worte, in denen sich ein großer Sinn und ein warmes Herz offenbarten, und sie werden lange nachklingen in dem Herzen des Hörers. Seit diesem Abend habe ich den Wunsch, mit Eurer Hoheit Namen das Buch zu schmücken, dessen Plan ich damals mit mir herumtrug.
Fast zwei Jahre sind seitdem vergangen, ein furchtbarer Krieg ist entbrannt, und mit finsterer Sorge sieht der Deutsche in die Zukunft seines Vaterlandes.
In solcher Zeit, wo die stärksten politischen Leidenschaften in das Leben jedes Einzelnen dringen, weicht die heitere Ruhe, welche der Schaffende zur künstlerischen Gestaltung braucht, leicht von seinem Arbeitstisch. Ach! sie hat dem deutschen Dichter seit lange gefehlt. Nur zu sehr fehlt das Behagen am fremden und eigenen Leben, die Sicherheit fehlt und der frohe Stolz, mit welchem die Schriftsteller anderer Sprachen auf die Vergangenheit und Gegenwart ihres Volkes blicken; im Ueberfluß aber hat der Deutsche Demüthigungen, unerfüllte Wünsche und eifrigen Zorn. Wer in solcher Zeit Poetisches gestaltet, dem fließt nicht die freie Liebe allein, auch der Haß fließt leicht aus dem schreibenden Rohr, leicht tritt an die Stelle einer dichterischen Idee die praktische Tendenz und statt freier Laune findet der Leser vielleicht eine unschöne Mischung von plumper Wirklichkeit und gekünstelter Empfindung.
Bei solchen Gefahren hat der Dichter doppelt die Pflicht, die Umrisse seiner Bilder rein zu halten von Verzerrung, und seine eigene Seele frei von Ungerechtigkeit. Dem Schönen in edelster Form den höchsten Ausdruck zu geben, ist nicht jeder Zeit vergönnt, aber in jeder soll der erfindende Schriftsteller wahr sein gegen seine Kunst und gegen sein Volk.
Diese Wahrheit zu suchen, und wo ich sie fand, zu vertreten, halte ich für die Aufgabe auch meines Lebens.
Und so sei meinem ritterlichen Herrn ehrfurchtsvoll das leichte Werk gewidmet. Glücklich werde ich sein, wenn Eurer Hoheit dieser Roman den Eindruck macht, daß er wahr nach den Gesetzen des Lebens und der Dichtkunst erfunden und doch niemals zufälligen Ereignissen der Wirklichkeit nachgeschrieben ist.
Leipzig, im April 1855.
Gustav Freytag.
Erstes Buch
I
Ostrau ist eine kleine Kreisstadt unweit der Oder, bis nach Polen hinein berühmt durch ihr Gymnasium und süße Pfefferkuchen, welche dort noch mit einer Fülle von unverfälschtem Honig gebacken werden. In diesem altväterischen Orte lebte vor einer Reihe von Jahren der königliche Calculator Wohlfart, der für seinen König schwärmte, seine Mitmenschen – mit Ausnahme von zwei Ostrauer Spitzbuben und einem groben Strumpfwirker – herzlich liebte und in seiner sauren Amtsthätigkeit viele Veranlassung zu heimlicher Freude und zu demüthigem Stolze fand. Er hatte spät geheirathet, bewohnte mit seiner Frau ein kleines Haus und hielt den kleinen Garten eigenhändig in Ordnung. Leider blieb diese glückliche Ehe durch mehrere Jahre kinderlos. Endlich begab es sich, daß die Frau Calculatorin ihre weißbaumwollene Bettgardine mit einer breiten Krause und zwei großen Quasten verzierte und unter der höchsten Billigung aller Freundinnen auf einige Wochen dahinter verschwand, grade nachdem sie die letzte Falte zurechtgestrichen und sich überzeugt hatte, daß die Gardine von untadelhafter Wäsche war. Hinter der weißen Gardine wurde der Held dieser Erzählung geboren.
Anton war ein gutes Kind, das nach der Ansicht seiner Mutter vom ersten Tage seines Lebens die staunenswerthesten Eigenheiten zeigte. Abgesehen davon, daß er sich lange Zeit nicht entschließen konnte, die Speisen mit der Höhlung des Löffels zu fassen, sondern hartnäckig die Ansicht festhielt, daß der Griff dazu geeigneter sei, und abgesehen davon, daß er eine unerklärliche Vorliebe für die Troddel auf dem schwarzen Käppchen seines Vaters zeigte und das Käppchen mit Hülfe des Kindermädchens alle Tage heimlich vom Kopf des Vaters abhob und ihm lachend wieder aufsetzte, erwies er sich auch bei wichtigerer Gelegenheit als ein einziges Kind, das noch nie dagewesen. Er war am Abend sehr schwer in's Bett zu bringen und bat, wenn die Abendglocke läutete, manchmal mit gefalteten Händen, ihn noch herumlaufen zu lassen; er konnte stundenlang vor seinem Bilderbuch kauern und mit dem rothen Göckelhahn aus der letzten Seite eine Unterhaltung führen, worin er diesen wiederholt seiner Liebe versicherte und dringend aufforderte, sich nicht dadurch seiner kleinen Familie zu entziehn, daß er sich vom Dienstmädchen braten ließe. Er lief zuweilen mitten im Kinderspiel aus dem Kreise und setzte sich ernsthaft in eine Stubenecke, um nachzudenken. In der Regel war das Resultat seines Denkens, daß er für Eltern oder Gespielen etwas hervorsuchte, wovon er annahm, daß es ihnen lieb sein würde. Seine größte Freude aber war, dem Vater gegenüber zu sitzen, die Beinchen über einander zu legen, wie der Vater that, und aus einem Hollunderrohr zu rauchen, wie sein Herr Vater aus einer wirklichen Pfeife zu thun pflegte. Dann ließ er sich allerlei vom Vater erzählen, oder er selbst erzählte seine Geschichten. Und das that er, wie die Frauenwelt von Ostrau einstimmig versicherte, mit so viel Gravität und Anstand, daß er bis auf die blauen Augen und sein blühendes Kindergesicht vollkommen aussah, wie ein kleiner Herr im Staatsdienst. Unartig war er so selten, daß der Theil des weiblichen Ostrau's welcher einer düstern Auffassung des Erdenlebens geneigt war, lange zweifelte, ob ein solches Kind heranwachsen könne; bis Anton endlich einmal den Sohn des Landraths auf offener Straße durchprügelte und durch diese Unthat seine Aussichten auf das Himmelreich in eine behagliche Ferne zurückhämmerte. Kurz er war ein so ungewöhnlicher Knabe, wie nur je das einzige Kind warmherziger Eltern gewesen ist. Auch in der Bürgerschule und später im Gymnasium wurde er ein Muster für Andere und ein Stolz seiner Familie. Und da der Zeichnenlehrer behauptete, Anton müsse Maler werden, und der Ordinarius von Tertia dem Vater rieth, ihn Philologie studiren zu lassen, so wäre der Knabe seiner zahlreichen Anlagen wegen wahrscheinlich in die gewöhnliche Gefahr ausgezeichneter Kinder gekommen, für keine einzige Thätigkeit den rechten Ernst zu finden, wenn nicht ein Zufall seinen Beruf bestimmt hätte.
An jedem Weihnachtsfest wurde durch die Post eine Kiste in das Haus des Calculators befördert, worin ein Hut des feinsten Zuckers und ein großes Packet Kaffe standen. Gewöhnlichen Zucker ließ der Hausherr durch seine Frau klein schlagen, diesen Zuckerhut zerbrach er selbst mit vielem Kraftaufwand in einer feierlichen Handlung und freute sich über die viereckigen Würfel, welche seine Kunst hervorzubringen vermochte. Der Kaffe dagegen wurde von der Frau Calculatorin eigenhändig gebrannt, und sehr angenehm war das Selbstgefühl, mit welchem der würdige Hausherr die erste Tasse dieses Kaffe's trank. Das waren Stunden, wo ein poetischer Duft, der so oft durch die Seelen der Kinder zieht, das ganze Haus erfüllte. Der Vater erzählte dann gern seinem Sohne die Geschichte dieser Sendungen. Vor vielen Jahren hatte der Calculator in einem bestäubten Actenbündel, das von den Gerichten und der Menschheit bereits aufgegeben war, ein Document gefunden, worin ein großer Gutsbesitzer aus Posen erklärte, einem bekannten Handelshause der Hauptstadt mehrere Tausend Thaler zu schulden. Offenbar war der Schuldschein in kriegerischer und ungesetzmäßiger Zeit in ein falsches Actenheft verlegt worden. Er hatte den Fund am gehörigen Orte angezeigt, und das Handelshaus war dadurch in Stand gesetzt worden, einen verzweifelten Rechtsstreit gegen die Erben des Schuldners zu gewinnen. Darauf hatte der junge Chef der Handlung sich angelegentlich nach dem Finder des Documents erkundigt und demselben einen artigen Brief geschrieben, der Calculator hatte, wie seine Art war, sehr bestimmt allen Dank abgelehnt, weil er nur seine Amtspflicht erfüllt habe. Von da ab erschien an jeder Weihnacht die erwähnte Sendung mit einem kurzen herzlichen Begleitschreiben und wurde jedesmal umgehend durch ein kalligraphisches Kunstwerk des Calculators erwiedert, worin dieser unermüdlich seine Ueberraschung über die unerwartete Sendung ausdrückte und der Firma zum neuen Jahr aus voller Seele Gutes wünschte. Selbst seiner Frau gegenüber behandelte der Herr die Weihnachtsendung als einen Zufall, eine Kleinigkeit, ein Nichts, welches von der Laune eines Commis der Firma T. O. Schröter abhänge, und jedes Jahr protestirte er eifrig, wenn die Frau Calculatorin die zu erwartende Kiste bei ihren Wirthschaftsplänen in Rechnung brachte. Aber im Stillen hing seine Seele an diesen Sendungen. Es waren nicht die Pfunde Raffinade und Cuba, es war die Poesie dieser gemüthlichen Beziehung zu einem ganz fremden Menschenleben, was ihn so glücklich machte. Er hob alle Briefe der Firma sorgfältig auf, wie die drei Liebesbriefe seiner Frau, ja er heftete sie mit dem Ehrwürdigsten, was er kannte, mit schwarz und weißem Seidenfaden in ein kleines Actenbündel; er wurde ein Kenner von Colonialwaaren, ein Kritiker, dessen Geschmack von den Kaufleuten in Ostrau höchlich respectirt wurde; er konnte sich nicht enthalten, den billigen Melis-Zucker und den Brasil-Kaffe als untergeordnete Erzeugnisse der Schöpfung mit einer entschiedenen Verachtung zu behandeln; er fing an, sich für die Geschäfte der großen Handlung zu interessiren, und studirte in den Zeitungen regelmäßig die Marktpreise von Zucker und Kaffe, welche mit merkwürdigen und für Nicht-Eingeweihte ganz unverständlichen Bemerkungen hinter den politischen Nachrichten standen; ja er speculirte in seiner Seele mit als Associé seines Freundes, des großen Kaufmanns, er ärgerte sich, wenn der Kaffe in den Zeitungen flaute, und war vergnügt, wenn der Zucker als angenehm notirt war.
Das war ein unscheinbares, leichtes Band, welches den Haushalt des Calculators mit dem geschäftlichen Treiben der großen Welt verknüpfte; und doch wurde es für Anton ein Leitseil, wodurch sein ganzes Leben Richtung erhielt. Denn wenn der alte Herr am Abend in seinem Garten saß, das Sammtkäppchen in dem grauen Haar und seine Pfeife im Munde, dann verbreitete er sich gern mit leiser Sehnsucht über die Vorzüge eines Geschäftes, welches die Fülle der herrlichsten Sachen gewähre, und frug dann scherzend seinen Sohn, ob er auch Kaufmann werden wolle. Und in der Seele des Kleinen schoß augenblicklich ein hübsches Bild zusammen, wie die Strahlen bunter Glasperlen im Kaleidoskop, zusammengesetzt aus großen Zuckerhüten, Rosinen und Mandeln und goldenen Apfelsinen, aus dem freundlichen Lächeln seiner Eltern und all dem geheimnißvollen Entzücken, welches ihm selbst die ankommende Kiste je bereitet; bis er begeistert ausrief: »ja, Vater, ich will.« – Man sage nicht, daß unser Leben arm sei an poetischen Stimmungen, noch beherrscht die Zauberin Poesie überall das Treiben der Erdgebornen. Aber ein Jeder achte wohl darauf, welche Träume er im heimlichsten Winkel seiner Seele hegt, denn wenn sie erst groß gewachsen sind, werden sie leicht seine Herren, strenge Herren!
So lebte die Familie still fort durch manches Jahr. Anton wuchs heran und lief mit seiner Büchermappe durch alle Klassen des Gymnasiums bis in die stolze Prima. Wenn die Frau Calculatorin ihren Mann bat, über Antons Zukunft einen festen Entschluß zu fassen, erwiederte der Hausherr mit einem siegesfrohen Lächeln: »der Entschluß ist gefaßt, er will ja Kaufmann werden. Erst muß er mit dem Gymnasium fertig sein, dann steht ihm die ganze Welt offen.« Und dann that der Calculator, als ob das Abiturientenzeugniß ein Schlüssel zu allen Ehren der Welt sei. Im Geheimen aber bangte ihm ein wenig davor, den Familientraum der Aufführung näher zu bringen.
Unterdeß kam ein schwarzer Tag, wo die Fensterladen des Hauses lange geschlossen blieben, das Dienstmädchen mit rothen Augen die Treppe auf und ab lief, der Arzt kam und den Kopf schüttelte, und der alte Herr am Lager seiner Frau das Sammtkäppchen in den gefalteten Händen hielt, während der Sohn schluchzend vor dem Bette kniete und seinen Lockenkopf darauf legte, welchen die Hand der sterbenden Mutter noch zu streicheln versuchte. Drei Tage nach diesem Morgen wurde die Frau Calculatorin begraben, und der alte Herr und Anton saßen am Abend nach dem Begräbniß bleich und einsam einander gegenüber. Anton schlich von Zeit zu Zeit hinter die Stachelbeeren, sich dort in der Stille auszuweinen, und der alte Herr stand häufig von seinem Stuhle auf und ging in die Schlafstube, wo die weiße Gardine mit den beiden Quasten hing, und weinte ebenfalls. Der Jüngling erhielt nach langem Weinen die rothen Backen wieder, der alte Herr kam nicht wieder zu Kräften. Er klagte über nichts, er rauchte seine Pfeife wie immer, er ärgerte sich noch immer, wenn der Kaffe flaute, aber es war kein rechtes Rauchen und auch kein rechter Aerger mehr. Oft sah er seinen Sohn nachdenklich und traurig an, und der junge Gesell konnte nicht errathen, was den Vater so besorgt mache. Als der Vater aber an einem Sonnabend den Sohn wieder gefragt hatte, ob er noch Kaufmann werden wollte, und Anton zum hundertsten Male versichert hatte, daß er gerade dies gern wolle, und nichts Anderes, da stand der alte Herr entschlossen auf, rief das Dienstmädchen und bestellte zum nächsten Morgen eine Fuhre nach der Hauptstadt. Er gestand dem fragenden Sohne nicht, weshalb er die unerhörte Expedition vornahm. Und er hatte wohl Grund zum Schweigen, der arme alte Herr! Denn wenn er auch seit zwanzig Jahren stolz gewesen war auf seinen großen Handelsfreund, so hatte ihm doch immer der Muth gefehlt, selbst vor den Kaufmann zu treten und für seinen Sohn einen Platz im Comtoir zu erbitten. Sein Wunsch kam ihm sehr verwegen vor, und seine Ansprüche unermeßlich gering. Oft hatte er sich's vorgenommen und stets hatte er's wieder aufgeschoben, bis die Sorge um seinen Sohn größer wurde, als seine Scheu.
Als er den Tag darauf sehr spät aus der Hauptstadt zurückkehrte, war er in ganz anderer Stimmung, glücklicher als je nach dem Tode der Frau Calculatorin. Er begeisterte seinen Sohn, der ihn in ahnungsvoller Spannung erwartete, durch seinen Bericht von der unglaublichen Annehmlichkeit des großen Geschäftes und der Freundlichkeit des großen Kaufmanns gegen ihn. Er war zu Mittag geladen worden, er hatte Kibitzeier gegessen, er hatte griechischen Wein aus den Kellern seines Freundes getrunken, einen Wein, gegen welchen der beste Wein im Gasthofe zu Ostrau nichtswürdiger Essig war; er hatte das Versprechen erhalten, daß sein Sohn nach Jahresfrist in das Comtoir eintreten könne, und einige Wünsche über die Vorbildung, die dafür wünschenswerth sei. Schon am nächsten Tage saß Anton vor einem großen Rechenbuch und disponirte mit unbeschränkter Vollmacht über Hunderttausende von Pfunden Sterling, welche er bald in rheinische Gulden verwandelte, bald in Hamburger Mark Banko umsetzte, als brasilianische Milreis in die Welt flattern ließ, und zuletzt ruhig in mexikanischen Staatspapieren anlegte, an denen er mit größter Sicherheit alle möglichen Interessen bis zu zehn vom Hundert zog. Hatte er auf diese Weise ein colossales Vermögen zusammengescharrt, so ging er in den Garten, ein kleines dünnleibiges Buch in der Hand, welches auf dem Titel versprach, ihn in vier Wochen zu einem fertigen Engländer zu machen. Dort bemühte er sich zum Entsetzen der deutschen Sperlinge und Finken, das A und andere ehrliche Buchstaben auf jede Weise auszusprechen, welche dem Menschen möglich ist, wenn er einen Buchstaben anders ausspricht, als sich mit der Natur und dem Charakter desselben verträgt.
So ging wieder ein Jahr hin, Anton war gerade achtzehn Jahre alt und hatte seine Abiturientenprüfung bestanden; da wurden wieder einmal an einem Morgen die Fensterladen des Calculators nicht zu gehöriger Zeit geöffnet, wieder rannte das Dienstmädchen mit verweinten Augen durch das Haus, und wieder schüttelte die Nachtlampe unzufrieden und kummervoll ihre feurige Mütze. Diesmal lag der alte Herr selbst im Bett und Anton saß vor demselben, beide Hände des Vaters haltend. Der alte Herr aber ließ sich nicht festhalten, sondern starb so eilig als möglich, nachdem er seinen Sohn vielmal gesegnet hatte. Nach einigen Tagen lauten Schmerzes stand Anton allein in der stillen Wohnung, eine Waise, im Anfange eines neuen Lebens.
Der alte Herr war nicht umsonst Calculator gewesen; sein Haushalt war in musterhafter Ordnung, seine sehr geringe Hinterlassenschaft in der geheimen Schublade des Schreibtisches war auf dem gehörigen Blatt Papier zu Heller und Pfennig aufgezeichnet; Alles, was im letzten Jahre durch das Dienstmädchen zerschlagen oder verwüstet worden war, fand sich an der betreffenden Stelle bemerkt und abgerechnet, über Jedes war Disposition getroffen; auch ein Brief an den Kaufherrn fand sich vor, den der Verstorbene noch in den letzten Tagen mit zitternder Hand geschrieben hatte; ein treuer Hausfreund war zum Vormund Antons bestellt und mit dem Verkauf des Hauses und Gartens und seines ganzen Inhalts beauftragt; und Anton trat, vier Wochen nach dem Tode des Vaters, an einem frühen Sommermorgen über die Schwelle des väterlichen Hauses, legte den Schlüssel desselben in die Hand des Vormundes, übergab sein Gepäck einem Fuhrmann und fuhr durch das Thor des Städtchens auf die Hauptstadt zu, den Brief seines Vaters an den Kaufmann in der Tasche.
II
Schon welkte das frisch gemähete Wiesengras in der Mittagssonne, als Anton dem Nachbar aus Ostrau, der ihn bis zur letzten Station vor der Hauptstadt mitgenommen hatte, die Hand schüttelte und dann rüstig auf der Landstraße vorwärts schritt. Es war ein lachender Sommertag, auf den Wiesen klirrte die Sense des Schnitters am Wetzstein und oben in der Luft sang die unermüdliche Lerche. Vor dem Wanderer strich die Landschaft in hügelloser Ebene fort, am Horizont hinter ihm erhob sich der blaue Zug des Gebirges. Kleine Bäche von Erlen und Weidengruppen eingefaßt durchrannen lustig die Landschaft, jeder Bach bildete ein Wiesenthal, das auf beiden Seiten von üppigen Getreidefeldern begrenzt wurde. Von allen Seiten stiegen die hellen Glockenthürme der Kirchen aus dem Boden auf, jeder als Mittelpunkt einer Gruppe von braunen und rothen Dächern, die mit einem Kranz von Gehölz umgeben waren. Bei vielen Dörfern konnte man an der stattlichen Baumallee und dem Dach eines großen Gebäudes den Rittersitz erkennen, welcher neben den Dorfhäusern lag, wie der Schäferhund neben der wolligen Heerde.
Anton eilte vorwärts, wie auf Sprungfedern fortgeschnellt. Vor ihm lag die Zukunft, sonnig gleich der Flur, ein Leben voll strahlender Träume und grüner Hoffnungen. Nach langer Trauer in der engen Stube pochte heut sein Herz zum ersten Mal wieder in kräftigen Schlägen; in der Fülle der Jugendkraft strahlte sein Auge und lachte sein Mund. Alles um ihn glänzte, duftete, wogte wie in elektrischem Feuer, in langen Zügen trank er den berauschenden Wohlgeruch, der aus der blühenden Erde aufstieg. Wo er einen Schnitter im Felde traf, rief er ihm zu, daß heut ein guter Tag sei, und einen guten Tag rief jeder Mund dem schmucken Jüngling zurück. Im Getreidefelde neigten sich die Aehren am schwanken Stiel auf ihn zu, sie nickten und grüßten, und in ihrem Schatten schwirrten unzählige Grillen ihren Gesang: Lustig, lustig im Sonnenschein! Auf der Weide saß ein Volk Sperlinge, die kleinen Barone des Feldes flüchteten nicht, als er vor dem Stamm stehen blieb, ja sie beugten die Hälse herunter und schrieen ihn an: »Guten Tag, Wandersmann, wohin, wohin?« Und Anton sagte leise: »Nach der großen Stadt, in das Leben.« »Gutes Glück,« schrieen die Sperlinge, »frisch vorwärts!«
Anton durchschritt auf dem Fußpfad einen Wiesengrund, ging über eine Brücke und sah sich in einem Wäldchen mit gut erhaltenen Kieswegen. Immer mehr nahm das Gebüsch den Charakter eines gepflegten Gartens an, der Wandrer bog um einige alte Bäume und stand vor einem großen Rasenplatz. Hinter diesem erhob sich ein Herrenhaus mit zwei Thürmchen in den Ecken und einem Balcon. Wer auf dem Balcon stand, konnte über den Grasplatz hinüber durch eine Oeffnung in den Baumgruppen die schönsten Umrisse des fernen Gebirges sehn. An den Thürmchen liefen Kletterrosen und wilder Wein in die Höhe, und unter dem Balcon öffnete sich gastlich eine Halle, welche mit blühenden Sträuchern ausgeschmückt war. Es war kein prunkender Landsitz, und es gab viele größere und schönere in der Umgegend, aber es war doch ein stattlicher Anblick, sehr imponirend für Anton, der, in einer kleinen Stadt aufgewachsen, nur selten den behaglichen Wohlstand eines Gutsbesitzers in der Nähe gesehen hatte. Alles erschien ihm sehr prächtig und großartig! Die zierlich geformten Blumenbeete in dem geschorenen Sammt des Rasens, die bunten Gruppen der Glashauspflanzen, der fröhliche Schmuck, den die Hand des Gärtners um das Herrenhaus herum angebracht hatte, das alles sah ihm in dem reinen Lichte und der Ruhe des Sonnentages aus, wie ein Bild aus fernem Lande. Der glückliche Jüngling gerieth in ein so träumerisches Entzücken, daß er sich in den Schatten eines großen Fliederstrauches am Wege setzte und hinter dem Busch verborgen lange Zeit auf das anmuthige Bild hinstarrte. Wie glücklich mußten die Menschen sein, welche hier wohnten, wie vornehm und wie edel! Auf dieser Seite schöne Blüthen und große Bäume, auf der andern Seite wahrscheinlich ein weiter Hofraum mit Scheuern und Ställen, viele Pferde darin, große Rinder und unzählige feinwollige Schafe. Denn schon vor dem Eintritt in den Park hatte Anton auf eingehegtem Wiesenraum eine Anzahl Füllen gesehn und ihre lustigen Sprünge beobachtet. Der Respect vor Allem, was stattlich, sicher und mit Selbstgefühl in der Welt auftritt, war ihm, dem armen Sohn des Calculators, angeboren, und wenn er jetzt in der reinen Freude über die Pracht, welche ihn umgab, an sich selbst dachte, erschien er sich als höchst unbedeutend, als gar nicht der Rede werth, als eine Art gesellschaftlicher Däumling, winzig, kaum sichtbar im Grase. Unwillkürlich fuhr er in die Rocktasche, seine Handschuhe herauszuholen. Sie waren von gelbem Zwirn, und noch seine gute Mutter hatte gesagt, sie sähen ganz aus wie seidene, und seidene Handschuhe galten in Ostrau für den höchsten Luxus. Der arme Junge zog mit ihnen die Ueberzeugung an, daß er durch sie seiner jetzigen Umgebung doch um einige Gran würdiger werde.
Lange saß er in tiefer Einsamkeit, endlich kam Bewegung in das stille Bild. Auf den Balcon des Hauses trat durch die geöffnete Thür eine zierliche Frauengestalt im hellen Sommerkleide mit weiten Spitzenärmeln und einer liebenswürdigen Frisur, wie sie Anton von alten Rococobildern her kannte; er konnte deutlich die feinen Züge ihres Gesichts erkennen und den klaren Blick des Auges, welcher auf dem Rasenplatz unter ihren Füßen ruhte. Die Dame stand auf das Geländer gestützt bewegungslos wie eine Statue und Anton sah ehrerbietig zu ihr hinauf. Endlich flog aus der offenen Thür hinter der Dame ein bunter Papagei, setzte sich auf ihre Hand und ließ sich von ihr liebkosen. Dies glänzende Thier steigerte Antons Bewunderung. Und als dem Papagei ein fast erwachsenes Mädchen folgte, welches schmeichelnd den Hals der schönen Frau umschlang, und als die Dame zärtlich die Wange des Mädchens an die ihre drückte, und als der Papagei auf die Köpfe der beiden Damen flog und laut schreiend von einer Schulter zur andern sprang, da wurde das Gefühl der Verehrung in Anton so lebhaft, daß er vor innerer Aufregung erröthete und sich tiefer in den Schatten des Gebüsches zurückzog.
Er dachte an die beiden schönen Frauengestalten auf dem Balcon und ging mit elastischem Schritt wie Einer, dem etwas Fröhliches begegnet ist, den breiten Weg zurück, um einen Ausgang aus dem Garten zu finden. Da hörte er hinter sich das Schnauben eines Pferdes. Auf einem schwarzen Pony kam die jüngere der beiden Damen in seinem Wege geritten, die schlanke Gestalt saß sicher auf dem Pferde und gebrauchte einen Sonnenschirm als Reitgerte. Die Damenwelt von Ostrau hatte nicht die Gewohnheit, auf kleinen Pferden umherzureiten. Nur einmal hatte Anton eine Kunstreiterin gesehen mit sehr rothen Wangen und einem langen rothen Kleide, welche, begleitet von einem großen schwarzbärtigen Herrn, hinter dem lustigen Bajazzo durch die Straßen ritt und an jeder Straßenecke anhielt, wo ihr Pferd einen Sprung machte, und Bajazzo unerhört lächerliche Worte zu der versammelten Jugend sprach. Schon damals hatte er mit unsäglicher Bewunderung die schöne Reiterin betrachtet, und jetzt war er ganz der Mann, dasselbe Gefühl wo möglich in stärkerem Grade zu empfinden. Er blieb stehen und machte der Reiterin eine ehrfurchtsvolle Verbeugung. Diese erwiederte die Huldigung mit graziösem Kopfnicken, worauf sie plötzlich ihr Pferd anhielt und freundlich frug: »Suchen Sie Jemand hier? Vielleicht wünschen Sie meinen Vater zu sprechen.«
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Anton mit tiefster Ehrerbietung. »Wahrscheinlich bin ich auf einem Wege, der Fremden nicht erlaubt ist. Ich kam den Fußsteig über die Wiesen und sah kein Thor und keinen Zaun.«
»Das Thor ist auf der Brücke, es steht am Tage offen,« belehrte das Fräulein gnädig auf Anton sehend; denn da Ehrfurcht nicht gerade das gewöhnliche Gefühl ist, welches vierzehnjährige Fräulein einflößen, so war ihr die massenhafte Anhäufung dieser Empfindung bei Anton außerordentlich wohlthuend.
»Da Sie im Garten sind, wollen Sie sich nicht darin umsehen? Es wird uns freuen, wenn er Ihnen gefällt,« fügte sie mit Würde hinzu.
»Ich habe mir die Freiheit genommen,« erwiederte Anton wieder mit einer Verbeugung, »ich war bis dort oben am Rasenplatz vor dem Schloß. Er ist prächtig!« rief der ehrliche Junge begeistert aus.
»Ja,« sagte die Dame, immer noch den Pony anhaltend, »Mama hat selbst dem Gärtner Alles angegeben.«
»Also die gnädige Frau, welche vorhin auf dem Balcon stand, ist Ihre Frau Mutter?« frug Anton schüchtern.
»Ah! Sie haben uns belauscht,« rief die Kleine und sah ihn vornehm an. »Wissen Sie, daß das nicht hübsch war?«
»Seien Sie mir deßhalb nicht böse,« bat Anton demüthig, »ich trat sogleich zurück, aber es sah wunderschön aus. Die beiden Damen neben einander, die Büschel blühender Rosen und das zackige Weinlaub um Sie herum. Ich werde das nicht vergessen,« fügte er ernsthaft hinzu.
»Er ist allerliebst!« dachte das Fräulein. »Da Sie so viel von unserm Garten gesehen haben,« sagte sie herablassend, »so müssen Sie auch auf die Punkte gehen, wo Aussichten sind. Ich reite dahin – wenn Sie mir folgen wollen.«
Anton folgte in der glücklichsten Stimmung. Das Fräulein redete ihrem Pferde zu, im Schritt zu gehen, und machte den Erklärer. Sie zeigte ihm große Baumgruppen und freundliche Aussichten auf die Landschaft, legte dabei einen Theil ihrer Majestät ab und wurde gesprächig. Bald plauderten Beide so ungezwungen, wie alte Bekannte. Endlich stieg das Fräulein ab, als ihr einige Stufen eine schickliche Veranlassung gaben, und führte das Pferd am Zügel; darauf wagte Anton den Hals des Schwarzen zu streicheln, was der Pony wohlwollend aufnahm und seinerseits dem Fremdling die Rocktaschen beroch.
»Er hat Zutrauen zu Ihnen,« sagte das Fräulein, »er ist ein kluges Thier.« Sie warf ihm die Zügel über den Kopf und gab ihm einen Schlag, worauf der Pony in kurzen Sprüngen davonrannte. »Wir kommen in den Blumengarten, da darf er nicht hinein; er läuft zum Stall zurück, er ist's gewöhnt.«
»Dieser Pony ist ein Wunder von einem Pferde,« rief ihm Anton nach.
»Ich bin sein Liebling,« sagte das Fräulein beistimmend, »er folgt mir auf's Wort.« Anton fand die Anhänglichkeit des Pony natürlich, setzte dieselbe Empfindung beim Papagei voraus und war geneigt zu behaupten, daß alle übrige Creatur der Erde eine ähnliche Stimmung gegen seine Führerin haben müsse.
»Ich denke, Sie sind von Familie,« frug die junge Dame plötzlich, stemmte ihren Schirm gegen einen Baumast und sah Anton mit altklugem Blick an.
»Nein,« sagte der Sohn des Calculators traurig, »mein Vater starb vor vier Wochen, es ist ein Jahr, daß meine gute Mutter todt ist, ich bin allein, ich gehe nach der Hauptstadt.« Seine Lippen zuckten bei der Erinnerung an den jüngsten Verlust.
Erschrocken sah das Fräulein den Schmerz im Gesicht des Fremden. »Sie armer, armer Herr!« rief sie gerührt und verlegen. »Kommen Sie schnell, ich will Ihnen noch etwas zeigen. Hier sind die Frühbeete; hier ist das Beet mit Erdbeeren, es sind noch einige darin. – Franz, bringen Sie den Teller mit Beeren,« rief sie dem Gärtner zu. Franz eilte damit herbei. Eifrig ergriff das Fräulein den Teller, und bot die Beeren unserm Helden mit gütigem Lächeln: »Hier, mein Herr! Haben Sie die Güte, dies von mir anzunehmen. Vom Hause meines Vaters darf kein Gast scheiden, ohne von dem Besten zu kosten, das uns die Jahreszeit giebt. Bitte, nehmen Sie,« bat sie dringend.
Anton hielt den Teller in der Hand und sah aus feuchten Augen herzlich nach der jungen Dame.
»Ich esse mit Ihnen,« sagte das Fräulein und faßte zwei Beeren. Darauf leerte Anton gehorsam den Teller.