Der Fluch des Bierzauberers

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Während der metallische Geruch von frisch vergossenem Blut durch die Luft waberte, wurden die Bürger aus ihren Häusern getrieben, auf Böcke gebunden und so lange mit Messern und mit brennenden Pechfackeln gefoltert, bis sie auch ihre letzten Geldverstecke preisgaben. Alle Frauen, egal ob blutjung oder steinalt, derer die Soldaten habhaft werden konnten, wurden vergewaltigt und geschändet, viele bis zum Tod. Und sogar vor den Toten kannte der Furor vieler Soldaten keine Gnade.

Die Soldaten machten auch vor kleinen Kindern und Säuglingen nicht halt. Sie hielten sie in den Armen und ermordeten sie auf grausamste Art und Weise, durchtrennten ihre Körper mit ihren Schwertern oder schlugen einfach ihre Köpfe gegen Hauswände oder Treppenstufen bis sie tot waren.

Mittlerweile war an verschiedenen Stellen Feuer ausgebrochen, was die Dramatik der höllischen Kulisse noch steigerte. Aus dem Pulverhof war das Explodieren der dort gelagerten Munition zu hören. Leichen trieben die Kanäle hinunter in die Elbe und stauten sich am Pfeiler der Holzmarschbrücke und der Zugbrücke. Der große Fluss begann sich rot zu färben.

Magdalena hatte in einem bereits leeren und geplünderten Haus eine schöne, massive, silberne Gürtelschnalle gefunden, die von den ersten einfallenden Plünderern entweder übersehen oder verloren worden war und sie sofort in ihrem Leintuch verstaut. Mittlerweile hatte sie sich bis zur Kirche St. Ulrich im Zentrum der Altstadt vorgearbeitet. Eine prallvolle Geldkatze war dort hinzugekommen, die Johannes ihr zugeworfen hatte. Er zog gerade sein Schwert aus dem blutigen Bauch eines wohlbeleibten, gut gekleideten, aber nun mausetoten Bürgers. »Der braucht sein Geld nimmer!«, schrie er dabei lauthals. Trotz des Infernos um ihn herum wirkte er geradezu fröhlich. Die Frauen von Tillys Soldaten waren mit farbigen Tüchern gekennzeichnet, damit sie nicht aus Versehen geschändet oder gemordet wurden. Viele von ihnen arbeiteten Hand in Hand mit ihren Männern wie eine eingespielte Bande.

So auch Johannes und Magdalena. Wenn er mit seiner Frau beim Plündern war, gab es nur selten Missverständnisse, eher eine traumwandlerische Zusammenarbeit. Aber heute war offensichtlich, dass Johannes mehr wollte. Seine Augen hatten einen blutrünstigen Ausdruck, den Magdalena so noch niemals bei ihm gesehen hatte. Sie hatte genug und wollte nur raus aus der Stadt. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich erst wieder im Lager träfen. So winkte sie ihm zu, drehte sich um und machte sich auf den Weg Richtung Stadttor. Daher sah sie nicht, wie Johannes nur eine Minute später den Nimbus der ›Gefrorenheit‹ verlor. Eine verirrte Musketenkugel riss ihm das halbe Gesicht weg und kurz darauf wurde er selbst zum Opfer von Leichenfledderern aus dem eigenen Lager.

Auf ihrem Weg hinaus aus dieser Apokalypse ging sie erneut durch das Krockentor. Dabei passierte sie wieder das Brauhaus. Die zwei Fässer standen immer noch davor. Aber nun staken aus beiden die nackten Beine zweier bedauernswerter Magdeburger Mädchen wie Mahnmale heraus. Lediglich ein in Bier ertränktes Opfer hatte den Soldaten nicht genügt. Magdalena hatte Mitleid mit den beiden, ging zu ihnen hin und zog die außen an den Fässern herunterhängenden Röcke zumindest so weit hinauf, um wenigstens die Blöße zwischen den Beinen zu bedecken. »Hoffentlich wird mir einst ein gnädigerer Tod zuteil«, murmelte sie dabei und schickte gleich noch ein Stoßgebet zum Himmel.

Das Tor zum Brauhaus stand halb offen, so ging sie hinein. Tillys Mannen waren bereits, gleich zu Beginn, hier gewesen und hatten alles Inventar zerschlagen, soweit es nicht von Wert war. Das Feuer näherte sich unaufhaltsam, es war nur noch zwei Häuser entfernt. Eigentlich sollte sie sich schnell davonmachen, als sie ein Geräusch vernahm.

Neugierig ging sie in die nächste Kammer, die sich zu einem saalartigen Raum ausweitete, offensichtlich das Brauhaus. Da erblickte sie einen Mann – ein baumlanger Kerl, der einen Jungen und ein kleines Kind bei sich hatte. Rauch waberte bereits durch die offenen Fenster. Der Junge hustete.

Wie konnten die Plünderer diese drei Menschen übersehen haben?, fragte sie sich.

Der große, kräftige Mann hantierte an einer Holzplatte, die in die Wand eingelassen war. Als er im Nebel eine Gestalt wahrnahm, drehte er sich um und kam drohend auf sie zu. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Doch Knoll erkannte, dass dort eine Frau stand, ließ ab und schaute sie mit seinen großen, braunen Augen vertrauensvoll an. Dann legte er seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihr somit, zu schweigen.

Der Junge, die Augen voller Furcht, winkte ihr trotzdem zu und rief leise: »Komm mit uns. Wir bringen dich in Sicherheit.« Er deutete auf einen Korb zu seinen Füßen, in dem sich Brot und andere Lebensmittel befanden. Heftig riss der Mann die Schulter des Jungen herum und sah ihn schweigend und voller Wut an. Der Junge schwieg sofort. Hinter der Holzplatte öffnete sich ein schmaler Gang, ein paar Stufen konnte sie sehen, bevor alles im Dunkeln verschwand.

Magdalena zögerte. Was ging da vor? Sie trat näher, sodass sie den Mann genau sehen konnte. Normalerweise wäre sie jetzt hinausgegangen und hätte sich auf der Straße Hilfe gesucht, um zu plündern.

Dann sah sie, wie der Mann den kleinen Jungen liebevoll auf seinen Arm nahm und den anderen, älteren Jungen mit dem Korb in der einen, einer brennenden Kerze in der anderen Hand, als Ersten in den Stollen schickte. Sie dachte an ihre eigenen verstorbenen Kinder, die sie niemals so im Arm halten konnte. In diesem Moment beschloss sie, dieser Familie die Flucht zu ermöglichen. Sie wiederholte die Geste des Schweigens und rieb mit der anderen Hand Daumen und Zeigefinger aneinander.

Der Mann nickte und warf ihr eine silberne Brosche zu, die er aus seinem Beutel genommen hatte. Anschließend griff er eine brennende Fackel aus der Wandhalterung und verschwand die Stiegen hinunter in den Schacht.

Der kleine Junge, der in eine Decke eingewickelt war, wimmerte vor Angst.

Magdalena verließ das Brauhaus, durchquerte das Stadttor und erreichte bald darauf das Lager, in dem bereits ein schwunghafter Handel mit den erbeuteten Preziosen in Gang war.

3.

Cord Knoll trieb sich und Gisbert an, während er versuchte, den verängstigten Ulrich zu beruhigen. Einige Hundert Fuß lang war der schmale, in den Fels hineingetriebene Stollen, der das Brauhaus mit dem Eiskeller verband. Der von innen verriegelte Eingang befand sich in einem kleinen Wald außerhalb der Stadtmauern. Kaum jemand wusste davon, denn der Eingang lag verdeckt und war, durch die Kriegsereignisse der letzten Monate, lange nicht mehr geöffnet worden. Dieses Frühjahr würden sie kein Eis mehr brauchen …

Die Höhle war vor langer Zeit von einem der frühen Brauer Magdeburgs entdeckt und als Eiskeller eingerichtet worden. Er hatte dies natürlich erst einmal für sich behalten, da es doch einen enormen Vorteil bedeutete, bis in den Sommer hinein das Bier kühl lagern zu können. Fuß für Fuß, Klafter für Klafter, war die Höhle über die Jahrzehnte verlängert worden, bis sie schließlich mit dem Keller des Brauhauses in der Magdeburger Altstadt verbunden wurde.

Jahre-, jahrzehntelang war der Gang von Nutzen gewesen, die Brauerfamilie Knoll hatte das Geheimnis mit dem Kauf des Brauhauses übernommen und bewahren können. Nur wenige Eingeweihte wussten Bescheid. Der Rat hätte sich nicht erfreut gezeigt, wenn allgemein bekannt gewesen wäre, dass es einen unbewachten Zugang zur Stadt gab.

Als der enge Stollen endete, und sie in der Höhle ankamen, erschraken sie zuerst, da es so gespenstisch still war im Vergleich zu dem Lärm des Gemetzels in der Stadt. Von draußen hörten sie vereinzelt Rufe und Hufgeklapper, aber das waren Menschen, die entweder unterwegs in die Stadt oder aus ihr hinaus waren. Gekämpft und geplündert wurde nur innerhalb der Stadtmauern.

Knoll setzte den kleinen Ulrich auf den Boden, entzündete eine weitere Kerze und schaute sich um. Es war alles am Platz, wie er es in aller Eile vorbereitet hatte. Ein kleines Bierfass stand dort, in der Ecke ein paar Eimer Wasser, in der anderen Ecke zwei Eimer – mangels einer Latrine oder eines ›stillen Örtchens‹ – für ihre Ausscheidungen. Ein stabiler Leiterwagen, mit dem ansonsten das Eis aus dem Wald geholt wurde, würde ihnen sicher gute Dienste leisten. Etwas Stroh und ein paar alte Decken lagen auch herum. Brot, Käse und Wurst befanden sich im Korb. All das, wonach er bei ihrer Flucht in aller Schnelle in der Küche gegriffen hatte; auf jeden Fall war es fürs Erste genug.

Einen Beutel voll mit Reichstalern hatte er auch dabei. Die große Zeit der Falschmünzer, der Wipper und Kipper, wie die Fürsten genannt wurden, die ihr Silber mit wertlosem Kupfer gestreckt, ihr eigenes Volk betrogen und die größte Inflation aller Zeiten verursacht hatten, ging trotz dieses Krieges ihrem Ende entgegen. Anscheinend waren die Fürsten durch den Krieg auch auf anderen Wegen reich geworden. Sein Geldbeutel mit Talern aus echtem Silber würde also für eine gute Weile vorhalten.

Jetzt, wo er sich mit den Jungen halbwegs sicher fühlte, begann er sich um Lisbeth und die Mädchen große Sorgen zu machen. Heftig gestritten hatten sie am Vorabend, nachdem die Nachricht bekannt gegeben worden war, dass am nächsten Morgen der Sturm losbrechen sollte.

»Lass uns in den Dom gehen, den anzutasten werden sie nicht wagen«, war Lisbeths Meinung gewesen. Sie glaubte nicht nur fest an Gott und seine Gebote, sondern auch an die Unantastbarkeit einer geweihten Kirche.

»Aber was, wenn der Dom überfüllt ist und sie uns nicht hineinlassen? Und wie lange müssen wir unter Umständen dort ausharren?« Cord Heinrich Knoll war skeptisch gewesen. Und am Allerwenigsten traute er Tilly und seinen Soldaten. In Göttingen und Neubrandenburg hatten diese sich, den Gerüchten zufolge, einen Dreck um Moral, Anstand oder gar Heiligkeit der Gotteshäuser geschert. Lisbeth war stur geblieben. Und als Knoll früh am Morgen aufgestanden war, waren sie und die Mädchen schon fort gewesen. Der Dom sollte heute übervoll werden …

 

Knoll schickte ein Gebet zu Gott für seine Familie.

Er wusste nicht, wie lange sie hier versteckt bleiben mussten, also galt es, sparsam mit den Vorräten umzugehen. Eine kleine Mahlzeit, dann legte er Ulrich schlafen. Aber der Junge weigerte sich, er spürte die Unruhe und die Gewalt um sich herum. Und so sang Knoll ihm mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen ein Kinderlied vor, das erst in diesem Krieg entstanden war, nachdem Wallensteins Heer sich mordend und brandschatzend durch Norddeutschland gewälzt hatte: »Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg …«

Ulrich schlief ein. Die Dämmerung kam und mit ihr die Stille. Es wurde Nacht. Knoll schob behutsam den Riegel beiseite und ging hinaus, einige Schritte in den Wald hinein. Niemand trieb sich hier in der Dunkelheit herum. Obwohl, dunkel konnte man dies nicht nennen, denn der Feuerschein der sterbenden Stadt erleuchtete den Himmel.

Er kletterte auf einen Baum und blickte hinüber zu den mächtigen Mauern, die doch nicht mächtig genug gewesen waren. Er versuchte, sein Brauhaus zu erkennen, aber alles, was er ausmachen konnte, war, dass alle Häuser dieses Stadtteils, auch die in der Krockentorgasse, anscheinend lichterloh in Flammen standen. Nicht nur seine Brauerei schien zu brennen, sondern auch die gute Stube mit der Bildergalerie seiner Vorfahren. Seine eigene Vergangenheit und die seiner Sippe fielen in diesem Moment offensichtlich den Flammen zum Opfer. Nicht nur Pommerland, auch Magdeburg war abgebrannt. Voller Trauer und Verzweiflung schweifte sein Blick noch einmal zurück auf seine Heimatstadt, auf das untergehende Magdeburg. Er wusste nun wie sich Äneas hatte fühlen müssen, als dieser das brennende Troja hinter sich verließ.

Er kehrte zurück in die Höhle, verschloss sie sorgfältig, sprach ein Gebet und umarmte seine beiden Söhne. »Wir haben unser Leben, das ist alles, was uns geblieben ist«, flüsterte er den beiden schlafenden Kindern ins Ohr. »Wir werden neu anfangen. An einem anderen Ort.«

4.

Vier endlose Tage dauerten die Plünderungen und Feuersbrünste noch an. Das kühle, trockene Wetter unterstützte die Brände, die vom Wind immer wieder neu angefacht wurden. Einigen wenigen reichen Bürgern gelang es derweil, sich und ihren Familien mit ungeheuren Geldsummen ihre Freiheit zu erkaufen.

Etwa dreitausend Menschen hatten sich im Magdeburger Dom versammelt und wie Lisbeth Knoll gehofft, dass diese Bastion selbst für die entfesselten Soldaten des katholischen Heeres tabu wäre. Mitnichten. Die Soldaten warfen Fackeln durch die Fenster und zwangen so einige der Gläubigen, den Dom zu verlassen. Die, die hinausliefen, wurden geschändet, gefoltert und getötet. Darunter waren auch Lisbeth Knoll und ihre drei Töchter, die in der Nacht heimlich das Haus verlassen hatten, in der Hoffnung, der Dom würde der sicherste Platz sein, sollte es zum Sturm auf die Stadt kommen.

Andere harrten im Dom aus, litten Hunger und Durst, bis Tilly vier Tage später persönlich das Eingangsportal öffnete. Der evangelische Domprediger Reinhard Bake fiel vor dem Generalissimo auf die Knie und trug in lateinischer Sprache einen abgewandelten Vers Vergils über die Zerstörung Trojas vor: »Das ist der Tag des Verderbs und das unabwendbare Schicksal Magdeburgs! Troier waren wir, Ilion war und der Elbestadt strahlender Ruhm!« Tilly lies sich ausnahmsweise erweichen und schonte die Überlebenden. Das Feuer beschädigte zwar den Kreuzgang des Doms, das Mauerwerk blieb aber ansonsten unversehrt. Alle anderen Kirchen brannten aus, und bei den meisten wurden auch die Archive Opfer der Flammen und der Zerstörung.

Bei der Magdeburger Hochzeit starben rund zwanzigtausend Menschen. Es war das größte und schlimmste Massaker während des gesamten Dreißigjährigen Krieges. Die letzten moralischen Grenzen wurden hierbei überschritten. Überlebende berichteten später, die Taten und der Schrecken seien in ihrer Entsetzlichkeit ›nicht in Worte zu fassen und nicht mit Tränen zu beweinen.‹

Seuchen folgten der Katastrophe auf dem Fuße und forderten weitere Todesopfer. Der große Rest der wenigen Überlebenden verließ die Stadt und suchte woanders sein Glück. Nur ein einziges Haus in der Altstadt, das in Domnähe gelegene Fachwerkhaus der Domherrenkurie, überstand das Inferno gänzlich unbeschadet.

Eine der bedeutendsten Städte Deutschlands war für zwei Jahrhunderte praktisch nicht mehr vorhanden.

Reue zeigten die Sieger keine. Viele Katholiken jubilierten und sangen Spottlieder.

Pappenheim schrieb: ›… es seien über zwanzigtausend Seelen darüber gegangen, und es ist gewiss seit der Zerstörung Jerusalems kein gräulicher Werk und Strafe Gottes gesehen worden. Alle unsere Soldaten sind reich worden‹.

Tilly erwiderte bereits während der Plünderungen auf das Flehen einiger seiner Offiziere, das Massaker zu stoppen: ›Der Soldat muss etwas haben für seine Gefahr und Mühsal.‹

Und Papst Urban VIII., Papst aus dem Geschlecht der Barberini, zeigte eindrucksvoll, dass er nicht nur in Rom destruktiv wirken konnte. Denn bis heute geht in Rom das Sprichwort um: ›Was die Barbaren nicht schafften, schafften die Barberini.‹ Er äußerte noch einen Monat nach dem ganz und gar unchristlichen Massaker in einem Schreiben seine Freude über die ›Vernichtung des Ketzernestes‹.

Während über zweihundert Flugschriften, zwanzig Tageszeitungen und einundvierzig illustrierte Flugblätter die grauenhaften Nachrichten von der Magdeburger Hochzeit in Windeseile durch ganz Europa trugen und aus dem Magdeburger Gemetzel die erste echte Mediensensation der europäischen Geschichte machten, war die deutsche Sprache um ein Wort reicher: Wenn seither ein Synonym für die größtmögliche Gewalt oder für das totale Grauen des Krieges gesucht wurde, sprach man von ›magdeburgisieren‹.

Es mag ein schwacher Trost für das schockierte Lager der Reformation gewesen sein: Die Sieger konnten ihren Triumph nicht dauerhaft umsetzen. Zögerlich belauerten Tilly, von Pappenheim und der schwedische König Gustav Adolf einander so lange, bis die Eroberung Magdeburgs strategisch ohne Wert war. Krieg ist meist sinnlos, aber die Opfer von Magdeburg starben einen besonders sinnlosen Tod.

5.

Vier endlose Tage lang harrte Magdalena im Lager des katholischen Heeres aus. Dann war sie überzeugt, dass ihrem Johannes etwas zugestoßen war. Überrascht war sie nicht, schließlich glaubte sie nicht an Johannes’ ›Gefrorenheit‹ wie die Soldaten. Sie glaubte an Gott, nicht jedoch an die Unverwundbarkeit mittels Amuletten. Sie befragte ins Lager zurückkehrende Soldaten, die im Siegestaumel aber keine Antworten lieferten. Schließlich fand sie seinen Regimentskommandeur, der ihr bestätigte, was sie längst ahnte: Johannes war tot. Aus dem Hinterhalt erschossen.

Voller Trauer packte sie ihre wenigen Habseligkeiten. Hier war nun kein Platz mehr für sie. Als Hure verdingen wollte sie sich nicht, obwohl die Soldatenwitwen meist keinen anderen Ausweg sahen, um zu überleben. Grußlos und unauffällig verließ sie das Lager. Johannes hatte keine Freunde gehabt, beim Saufen und Würfelspielen würde er sofort von anderen Männern ersetzt werden. Niemand würde ihn vermissen. Und sie genauso wenig …

Johannes hatte ihr ein gutes Messer geschenkt. ›Damit du dich deiner Haut erwehren kannst, wenn ich nicht bei dir bin‹, hatte er lachend gesagt. Nun war er nicht mehr bei ihr, und sie würde den Dolch dringend benötigen.

Sie stolperte durch den Wald, der Magdeburg umgab. Der Gestank der qualmenden Trümmer und der beginnenden Verwesung wehte ihr bis hierher um die Nase. Sie stieg einen Hügel hinauf und blickte zum Himmel. Es würde gleich beginnen zu regnen. Warum nicht ein paar Tage früher, dann wären die Brände eher gelöscht worden? Die ersten Regentropfen prasselten auf das Laub. Sie suchte Schutz in einer dichten Baumgruppe. Kein Soldat war weit und breit zu sehen. Alle versoffen, verspielten und verhurten jetzt das Geld, das sie von den Händlern und Marketendern für ihre Beutestücke erhalten hatten. Die rieben sich derweil die Hände; Magdalena wusste genau, dass kein Soldat jemals den Wert einer Preziose richtig einzuschätzen wusste. Deswegen hatte meist sie die Verhandlungen für Johannes’ Beute übernommen. So war sie in Gedanken versunken und wartete darauf, dass der Regen aufhörte. Hunger quälte sie.

Zu spät hörte sie das Geräusch der näher kommenden Schritte. Ein Mann tauchte auf. Zum Glück war er nicht wie ein Soldat gekleidet. Zur Flucht wäre es sowieso zu spät gewesen. Der Mann zog einen Karren, neben dem ein Junge herlief.

Hatte sie die beiden nicht schon einmal gesehen?

Der Mann hielt, blickte sie an. Überdeutlich war das Erstaunen über ihr erneutes Zusammentreffen in beiden Gesichtern zu erkennen. »Danke!« Das war alles, was er herausbrachte. Der Junge sah sie an und forderte sie mit einer kurzen Geste dazu auf mitzukommen.

Die folgenden Tage und Wochen zogen sie gemeinsam durchs Land. Knoll hatte ebenso nach einigen Tagen des Wartens die traurige Gewissheit erlangt, dass der Rest seiner Familie mit Sicherheit ermordet worden war. Eine Rückkehr in die Stadt war zu riskant. Und selbst wenn nicht, was sollte er in einer Stadt, die zerstört war und die sich in der Hand des katholischen Heeres befand? Er wollte nur noch fort. Obwohl er lange mit sich haderte, seiner toten Frau und seinen Töchtern keine Beerdigung zuteil werden lassen zu können.

Auch Magdalena erzählte ihre Geschichte.

Das Erstaunliche geschah: So gegensätzlich sie waren, dort der Bürger, hier die Frau aus dem Lager der Plünderer und Landsknechte, hier der stolze Protestant, dort die gläubige Katholikin; der Verlust, den jeder erlitten hatte, schweißte sie zusammen. Knoll spürte, dass Magdalena kein schlechter Mensch war, dass lediglich ein schweres Schicksal sie ins Soldatenlager geführt hatte. Magdalena hatte bereits bei ihrem ersten Treffen, im Brauhaus während der Plünderung, Gefühle für diese Menschen verspürt, die sie vorher nie gehabt hatte. Eigentlich waren sie nun wie eine Familie. Nur heimatlos, ohne zu wissen, wohin sie sich wenden sollten. Doch Magdalena war zuversichtlich, hoffte auf bessere Zeiten. Darauf, dass die Welt wieder menschlicher werden würde. Friedlicher. Ruhiger.

Cord Heinrich Knoll war erfüllt von grenzenlosem Hass. Auf den Kaiser in Wien, auf Tilly, auf Pappenheim, denen er insgeheim die grässlichsten Flüche nachsandte.

Hass auf die, die ihm alles genommen hatten, bis auf seine beiden Söhne.

Niemals sprachen sie über Magdeburg. Beide, Cord wie Magdalena, vergruben die Erinnerungen an die grauenhaften Ereignisse tief in ihrem Herzen.

So kühl es bis zum Frühjahr gewesen war, so schnell und warm kam der Sommer. Für Reisende ohne Unterkunft war dies ein wahrer Segen. Hörten sie von Weitem Trommeln, Trompeten oder irgendeinen anderen Hinweis auf sich nähernde Soldaten, schlugen sie schnell seitliche Wege ein. Sie wollten jeglicher Soldateska aus dem Wege gehen.

Der Krieg war durch das Eingreifen der Schweden und den Fall Magdeburgs in eine neue Phase getreten. Nun waren in erster Linie Mittel- und Norddeutschland betroffen. Sie versuchten, so gut es ging, ihren Weg hinweg von den Kriegsschauplätzen zu finden, Richtung Westen.

Schon bald hatte sich Knoll an die Koständerung gewöhnt. In Magdeburg hatten sie sich, selbst in Kriegszeiten, am liebsten von Bürgerspeise ernährt: Die Früchte der Bäume, wie Kastanien und Pfirsiche, waren neben Fleisch, Käse und Speck stets auf ihren Tischen zu finden gewesen. Nun, unterwegs, aßen sie meist ›niedere‹ Speisen: Knollen, Wurzeln, Zwiebeln, Salat. All das, was unten am Boden wuchs und daher, nach altem Brauch, seit jeher für die ›da unten‹ bestimmt gewesen war. Aber solange Knolls Geld ausreichte, litten sie zumindest keinen Hunger. Wenn die Bauern, auf deren Höfen sie anklopften, sie meist unfreundlich empfingen oder gleich davonjagen wollten, so war beim Anblick einer klingenden Münze meist ein Stück Käse oder Wurst zu haben. Manchmal sogar ein Platz im Heu.

Wohin sollten sie sich wenden? In eine Stadt, damit Knoll dort Arbeit als Braumeister finden könnte? Alle protestantischen Städte lebten derzeit mit dem Damoklesschwert der katholischen Truppen über sich und konnten jederzeit überfallen werden. Das wollte Knoll nicht noch einmal durchmachen. Am besten wäre sicher, erst einmal dem Krieg aus dem Weg zu gehen. Denn auch der längste Krieg würde irgendwann einmal vorbei sein. Und mit einfachem Handwerk konnte man sich auch auf dem Land über Wasser halten. Vorausgesetzt, man lief den Plünderern nicht in die Arme.

 

Aus Wochen wurden Monate. Immer wieder trafen sie auf ihrem Zug durch Niedersachsen auf vereinsamte Gehöfte, wo vorbeiziehende Soldaten verbrannte Erde hinterlassen hatten. Sie wanderten vorbei an Ruinen einst stolzer Häuser und über kahle Hügel, auf denen häufig verwitterte Galgen standen – bisweilen hingen noch Teile der Gehenkten daran, die wie bedrohliche Wegweiser in eine düstere, fürchterliche Welt wirkten. So sehr sie von den Grausamkeiten bereits abgestumpft waren, reagierten sie doch ein ums andere Mal erneut schockiert über den Einfallsreichtum der Folterknechte. Das geflügelte Wort von den ›Soldaten, die der Bauern Teufel sind‹, war hier grausame Wirklichkeit geworden. Sie durchquerten die protestantische Grafschaft Mark, die besonders übel heimgesucht worden war. Sie mussten fort aus dieser Gegend, so schnell wie möglich.

Einige Wochen später hatten sie den Rhein erreicht und standen vor einer plumpen, steinernen Brücke, die jedoch zerstört war. So setzten sie zwischen Köln und Bonn mit einem Boot über, dessen Fährmann sich letzte Reste von Mitleid und Menschlichkeit bewahrt hatte. Nach allem, was sie unterwegs gehört hatten, war es am Niederrhein, trotz der Nähe zu den spanischen Niederlanden, bislang weitgehend friedlich geblieben. Keine Schlachten, nur gelegentlich vorbeiziehende Truppen auf einem Gewaltmarsch, denen Kost und Logis gewährt werden mussten. Größere Plünderungen waren jedoch ausgeblieben. Lediglich Häuser ohne Dächer erblickten sie ab und zu. Da erinnerte sich Knoll daran, dass in den Zeiten der schlimmsten Inflation einige Jahre zuvor die Falschmünzer sogar Dächer abgedeckt hatten, um genügend Kupfer für ihre Betrügereien zu haben.

Mittlerweile befanden sie sich in der Eifel. Wie der Rest des Reiches, war auch diese Gegend zumeist Bauernland. Die Bauern waren der Boden der gesellschaftlichen Pyramide. Sie ernährten ihre Herren, sie zahlten, leisteten Frondienst, bei Protest wurden sie massakriert. Aber dennoch waren dies hier andere Bauern als die in der Magdeburger Börde, die sich bei Verhandlungen über das Getreide meist als vorlaut und schlagfertig erwiesen hatten. Die Eifeler Bauern waren schweigsam, gläubig und fleißig, noch erdverbundener als andere und, bei aller Langsamkeit – die Knoll zuerst für Dummheit hielt –, doch klug und lebenserfahren. Sie ehrten ihre Traditionen, sprachen aber wenig darüber, sondern befolgten sie ganz einfach. Die Schweigsamkeit hatte ihre Vorteile: Niemand fragte Knoll nach dem Woher und Wohin. In diesen Zeiten war das halbe Reich unterwegs, Flüchtlinge der Religion, Katholiken wie Protestanten, Flüchtlinge aus eroberten Städten, zerstörten Dörfern und niedergebrannten Bauernhöfen, arme Flüchtlinge und auch wohlhabende, jung wie alt, Männer wie Frauen, Bürger, Bauern und sogar bisweilen der Klerus. Wer keine Fragen stellte und keine Antworten erwartete, der wurde auch in Frieden gelassen. Zumindest von der Landbevölkerung.

Bei Dreimühlen, etwas südlich von Eiserfey, durchquerten sie eine Landschaft voller bizarrer Felsen und wunderlicher Steinformationen. Hier nahm die Idee in ihren Köpfen zum ersten Mal Gestalt an.

Magdalena sprach es als Erste aus: »Hier gibt es sicherlich Höhlen. Wenn wir eine solche nur finden könnten. Das wäre doch etwas zum Verstecken und zum Überleben.«

Also begannen sie mit der Suche. Und wurden bald fündig. Mehr als das. Sie fanden ein ganzes Höhlensystem, das von den Einheimischen nach einem Riesen aus einer alten Sage ›Kakushöhle‹ genannt wurde. Dieser riesige, alte Kalkfelsen würde ein prächtiges Versteck abgeben! Sie waren aber weder die Ersten noch die Einzigen, die diese Idee gehabt hatten. Etwa vier Dutzend Menschen hatten sich bereits in dieses unterirdische Labyrinth zurückgezogen.

Cord, Magdalena und die beiden Söhne fanden dennoch Platz dort und wurden von den anderen Bewohnern angenommen. Sie gliederten sich in die kleine Gemeinschaft ein, die gerade dabei war, eine soziale Ordnung zu entwickeln.

Knoll, als einer der ganz Wenigen, die lesen und schreiben konnten, wurde zum offiziellen Schreiber der Höhlengemeinde gewählt. Außerdem zum Lehrer der etwa zwanzig Kinder und, da er im braufreien Sommer stets Küferarbeit verrichtet hatte, war er von nun an auch dafür verantwortlich, die Fässer, die einige mitgebracht hatten, zu reparieren.

Magdalena sammelte mit den anderen Frauen Holz und grub auf den Feldern nach Gemüse und Wurzeln. Die meisten Männer gingen jagen und stellten Fallen auf. Die Kinder mussten zu ihrer eigenen Sicherheit immer in der Nähe der Höhle bleiben. Dort sammelten sie Beeren, Schwämme und Reisig, manchmal fand ein Glückspilz einen Igel. Beinahe so etwas wie Zufriedenheit war es, was sie empfanden, wenn die kleinen Stacheltiere am Spieß steckten, himmlischen Duft verbreiteten und den Hunger der Kinder stillten. Allen gemeinsam war der Wunsch nach Frieden im Land und in ihrer Gemeinschaft, der nur selten durch kleinere Streitereien unterbrochen wurde. Diese wurden denn auch gemeinsam geschlichtet, denn es gab keine Hierarchie, keinen Anführer unter ihnen. Alle arbeiteten Hand in Hand. Das von allen hergestellte Werkzeug wurde von jedermann genutzt, die Früchte der Jagd und des Sammelns vernünftig geteilt. Es gab eine kleine Nebenhöhle, in der wurden Holzvorräte angelegt. Damit das Holz immer schön trocken war und nicht so viel Rauch entwickelte wie nasses Holz. Sie lebten wie eine Herde Tiere, alle zusammen und in der Gruppe; eine Privatsphäre existierte so gut wie nicht. Die meisten Familien hatten sich behelfsmäßige Gestelle aus Ästen gebaut, an denen Sackleinen aufgespannt waren. Diese dienten als Zwischenwände, um ihren Wohnraum von anderen abzugrenzen.

In jeder Nacht verwandelte die kalte, nackte Dunkelheit die Höhle in eine Welt voller wispernder, flüsternder Schatten. Grunzendes Schnarchen, Kinderweinen und leises Gestöhne erfüllten die Höhle. Knoll und Magdalena waren sich bewusst, dass sie ihre Intimität mit seinen Kindern, aber auch mit anderen Familien teilen mussten. Magdalena war dies nicht fremd, denn beim jahrelangen Umherziehen mit den Truppen war ihre Privatsphäre ebenfalls sehr eingeschränkt gewesen. Sie hatte damit keine Probleme. Knoll, der mit seiner Frau in Magdeburg ein eigenes, gutbürgerliches Schlafgemach geteilt hatte, brauchte eine Weile, bis er sich damit arrangiert hatte. Wenn Magdalena sich jedoch in der Nacht an ihn klammerte und ihre nackten, abgemagerten Körper sich vereinten, dann vergaß er für eine kurze Weile das Elend um ihn herum. Die gegenseitige Hingabe in der Nacht ließ beide die schweren Tage besser überstehen. Die Höhlenmenschen gewöhnten sich an ihr sonnenarmes Dasein. Es gab Todesfälle, es gab Geburten, es gab Kindstaufen und andere Gelegenheiten, bei denen dann bescheidene Feste ausgerichtet wurden. Ab und zu fand ein Geistlicher den Weg in die Höhle. Mitsamt Kruzifix, Messgewand und Abendmahlskelch. Sogar diese, Männer beider Konfessionen, waren auf der Flucht.

Sie verbrachten eine lange, lange Zeit in der Kakushöhle. Immer wieder kamen neue Mitbewohner, andere verließen sie. Es gab Menschen, die wanderten regelrecht von Höhle zu Höhle. Quer durch das Reich. Immer auf der Flucht. Die erzählten bisweilen die erstaunlichsten Geschichten. So wie die Familie aus dem Hunsrück, die vor Tillys Truppen Zuflucht auf ihrer heimatlichen Burg Koppenstein gesucht hatten. Tilly belagerte die Burg, die Lage wurde immer verzweifelter, das Wasser wurde knapp. In der großen Not grub man die Brunnen tiefer und tiefer, bis ein Brunnen plötzlich nachgab und eine Wand durchbrach. Dahinter fand man eine riesige Höhle, in welche die Bevölkerung der gesamten Burg mit Sack und Pack einzog und die Wand hinter sich verschloss. Die Eroberer erstürmten eine leere Burg, konnten sich das rätselhafte Verschwinden der Burgleute nicht erklären und zogen unverrichteter Dinge ab, da es in der Burg nichts zu erbeuten gab.