Buch lesen: «Das Innere des Landes»

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

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Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Lektorat: Markus Weiglein

Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel

Coverfoto: Si-yue Steuber/shutterstock.com

Auch als gedrucktes Buch erhältlich,

ISBN 978-3-7025-1045-9

eISBN 978-3-7025-8091-9

www.pustet.at

Günther Marchner

Das
Innere des Landes Roman


Inhalt

Prolog

Die Nachricht

Das Haus

Der Fund

Die Nachbarin

Gespräche

Das Angebot

Am Lagerfeuer

Die Wanderung

Der Bauer, der keiner ist

Gespräch mit einer alten Frau

Sarahs Modelle

Am Sterbebett

Der Entschluss

Epilog

Nachtrag und Dank

Prolog

Aus Angst vor der Wahrheit, die sie zu erahnen beginnt, aber nicht hören möchte, hält sie an der Hoffnung fest. Allein ihr Glaube schwindet von Tag zu Tag. Schließlich hofft sie nur noch auf eine eindeutige und entschiedene Klarheit, anstatt in quälendem Zwiespalt zu verharren.

Als sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhält, ist der Krieg schon mehrere Wochen vorbei. In dieser ersten Zeit nach dem Ende des Schreckens. In einer neuen Sicherheit und in der geschwundenen Aussicht zu erfahren, dass er noch am Leben sein könnte. Er sei bei den letzten Kriegshandlungen gefallen, beim Rückzug erschossen, wird ihr mitgeteilt. An dieser sich auflösenden, noch von ein paar Fanatikern brutal mit Todesdrohungen zusammengehaltenen Front, zur sinnlosen Abwehr eines übermächtigen Gegners, schreit sie in ihrem verzweifelten Zorn.

Der Überbringer der Nachricht schweigt, ein Mann aus dem Dorf, nun Mitarbeiter der neuen Verwaltungsmacht.

Für den Spätsommer erwartet sie ihr Kind, ohne Vater, ohne Mut und Kraft, ohne Vorstellung, wie es weitergehen soll. Von Freunden ihres gefallenen Mannes erfährt sie, was sie befürchtet und geahnt hat. Er hatte den Krieg wie das Regime verabscheut und sich Feinde gemacht. Zwar war er klug genug gewesen, eine offene Konfrontation zu vermeiden. Aber die Sache war doch klar. Seine Kontrahenten hatten ihn in den letzten verzweifelten Kriegswochen absichtlich unlösbaren Befehlen und tödlichen Gefahren ausgesetzt. Genau dort, wo man unzuverlässige und verdächtige Personen haben wollte, nach all den Androhungen fanatischer Ortsmächtiger in den letzten Monaten und Jahren zuvor.

Sie übersteht die kommenden Monate bis zur Geburt ihres Kindes. In einer neuen Ordnung ohne Angst und Gewalt, die viele aufatmen lässt. Wie gelähmt versucht sie durch die erste Zeit zu kommen, durch einen Friedenssommer, den ersten seit vielen Jahren. An dem sie so nicht teilhaben kann. Der so nicht ihrer ist. Das Ende des Krieges, in dieser Weise, hat ihr keinen Frieden gebracht, sondern stille Verzweiflung und Wut. Sie versorgt ihre Tiere, sie verfügt über einen Garten, mehrere Wiesen und Holz. Sie funktioniert. Sie vergräbt sich in die anfallende Arbeit, im Haus und draußen im Garten, auf den Wiesen, im Wald. Ihre Mutter unterstützt sie in den letzten Wochen vor der Geburt und danach, um die erste Zeit mit ihrem Neugeborenen, einem Mädchen, zu bewältigen.

Nun lebt sie allein mit ihrer Tochter, als Witwe im fremden Haus und kleinen Gehöft ihres gefallenen Mannes. Es ist das Haus seiner früh verstorbenen Eltern, das sie übernommen hatten, nachdem seine ältere Schwester in die Stadt geheiratet hatte, noch vor dem Krieg.

Zögernd und schmerzvoll lebt sie sich in das neue Leben ein.

Bis die Schwägerin und deren Mann vor der Tür stehen, ausgebombt, geflüchtet aus der Stadt, ohne Dach über dem Kopf. Auf der erfolglosen Suche nach einer vorläufigen wie erträglichen Bleibe hat es die Schwägerin, die vom Tod ihres Bruders erfahren hatte, ins Dorf zurückgezogen.

Selbstverständlich können sie bleiben! Wie könne sie auch ablehnen?

Kommt herein! Fühlt euch wie zu Hause!

Sie rücken zusammen und helfen einander. Sie kochen und essen gemeinsam. Sie kümmern sich gemeinsam um Versorgung und Haushalt. Der Mann der Schwägerin sucht nach Arbeitsmöglichkeiten, die es in dieser Gegend nicht gibt. Er versucht sich nützlich zu machen, wo er kann, aber er kann es nicht. Die Schwägerin verspricht ihr, sie zu unterstützen. Sie gehöre ja schließlich zur Familie.

Die ersten Monate ist es schön, diese neue wie unklare Zeit gemeinsam zu verbringen und ein wenig zuversichtlicher in eine unbekannte Zukunft zu blicken. Mit ihrer Tochter, die nicht nur von der Großmutter umsorgt, sondern auch von der unerwarteten Tante im Haushalt umgarnt wird. Die darauffolgenden Monate erscheinen ihr beinahe wie in goldenes Licht getaucht.

Dann kommt es doch, was sie geahnt hat, aber nicht erwarten wollte.

Die Schwägerin klagt.

Wo sollen wir hin? Unsere Wohnung ist für immer verloren, wir wissen nicht wohin. Wir haben nichts mehr, mein Mann findet keine Arbeit. Und ich? Ich bin in diesem Haus aufgewachsen, in dem ich jetzt zu Gast bin, das nun dir gehört.

Ist es nicht unrecht, dass sie kein Haus und keinen Anspruch auf ihr Geburtshaus habe?

Das Thema ist auf dem Tisch.

Ob es rechtens sei, dass eine Zugeheiratete dieses Haus allein für sich beanspruchen könne? Sie habe doch als Schwester gewiss auch ein Anrecht darauf, da sei doch so einiges nicht geregelt. Sie fühle sich ungerecht behandelt, sie sei nicht ausgezahlt worden. Es gebe zwar kein Testament, aber immerhin einen Brief, in dem ihr der Bruder etwas versprochen hatte, eine Abgeltung, später einmal. Aber jetzt?

Sie ist entsetzt, erschrocken, fassungslos. Sie weiß von alldem nichts. Nur einmal, nebenbei, hatte ihr Mann etwas erwähnt, was noch zu regeln sei, aber es war kein Gesprächsthema mehr, in diesem Krieg, in dieser Zeit. Und nun gerät sie ins Visier. Ein Vorwurf steht im Raum, dass etwas nicht richtig, nicht ordentlich gelaufen sei.

Sie weist die Schwägerin darauf hin, dass sie das nicht gewusst habe und dass sie nun hier lebe. Wie stelle sie sich einen Anteil vor, nachdem sie nichts habe? Sie habe sie doch aufgenommen. Sei das ihr Dank?

Es kommt zum Streit. Ein Streit, der keine Lösung bringt, bis er im Schweigen einfriert. Bis klar wird, dass sie so nicht unter einem Dach leben können. Bis der Mann der Schwägerin ein Arbeitsangebot erhält. Bis die beiden schließlich ausziehen, zurück in die Stadt, die ihnen neue Möglichkeiten bietet. Aber die Sache bleibt offen. Ein über die Jahre dahinschwelender, aber schließlich erkalteter Streit, der auf einen Ausbruch wartet, zum gegebenen Anlass.

In den ersten Jahren kann sie sich mit ihrer kleinen Tochter behaupten. Einige Nachbarn und ihre Freunde stehen ihr bei. Ihre Mutter kümmert sich um die Enkelin, während sie einer Arbeit nachgeht. Es ist eine Stelle für die Verwaltungsmacht, deren Vertreter sie bei der Anstellung bevorzugen, denn ihr gefallener Mann war Gegner des untergegangenen Regimes gewesen, was jene seiner Freunde, die noch leben, bezeugen.

Nicht nur wegen dieser Bevorzugung allein teilt sich der Ort. Er teilt sich wegen vieler Angelegenheiten entlang alter, aber noch frischer Gegensätze. Gegensätze, die unauffällig weiterschwelen und gelegentlich zum Ausbruch kommen. Zwischen Gegnern des untergegangenen Regimes und seinen Befürwortern und Nutznießern. Zwischen tatsächlichen Opfern und denjenigen, die sich für Opfer halten.

Die merkwürdige Freiheit der fremden Befreiung macht Neues und Ungeahntes möglich, vor allem auch für junge Frauen wie sie. Es scheint eine Freiheit zu sein, die es lange nicht mehr gegeben, im Grunde noch nie gegeben hat. Ein neues Lebensgefühl. Bis die vom Krieg Heimgekehrten und vom Untergang des Reichs Enttäuschten, bis die von der neuen Macht Entmachteten und Zurückgesetzten wieder in Positionen kommen, sich neu formieren, weil man sie braucht. Bis sie beginnen, sich zurückzuholen, was ihnen ihrer Auffassung nach zusteht. Nachdem auch sie, als ehemalige Funktionsträger des gescheiterten Reichs, ihren Krieg überlebt hatten, sich den neuen Verhältnissen anpassen und der neuen Ordnung andienen.

Allmählich geraten Gerüchte über ihren gefallenen Mann in Umlauf, ohne dass Klarheit darüber herrscht, woher sie stammen, aber so ist das Wesen von Gerüchten. Gelegentlich werden sie von alten Gegnern bewusst gestreut. Gelegentlich werden sie von der weggezogenen Schwägerin, aber vor allem von deren früheren Freundinnen im Dorf unter der Hand verbreitet.

Er sei ein Verräter am Volk, an der Volksgemeinschaft gewesen, ein politisch Verdächtiger, gewiss auch unter heutigen Umständen, denn vor allem sei er ein Kommunist, ein Feind der Freiheit und der Menschheit gewesen. Man höre so einiges. Und sie, seine Frau, die Frau dieses Mannes, erschleiche sich noch dazu ein Erbe. Die Gesinnung ihres Mannes war bekannt gewesen, wie die anderer im Ort auch. Aber aufgrund der Tatsache, dass sich viele politische Gegner in ihrem Dorf, wie in den meisten kleinen Dörfern, persönlich kannten, waren Gegensätze nicht an die große Glocke gehängt worden und hatten letztlich keine gefährlichen Konsequenzen gehabt. Denn in der Regel waren das Zusammenleben und ein Miteinander-Auskommen wichtiger. Aber Drohungen gegen ihn waren doch stets da.

Sie solle froh sein, dass er wenigstens ehrenhaft gefallen sei, sonst wäre sie vielleicht die Witwe eines ehrlosen Deserteurs geworden.

Man habe ihn allerdings nicht ehrenhaft, sondern verbrecherisch und verantwortungslos in diesen ehrenhaften Tod getrieben, schreit sie auf der Straße diejenigen an, die sie dafür verantwortlich hält.

Ihre Enttäuschung über Ablehnung und Missgunst ihr gegenüber wächst, vor allem darüber, zur Witwe eines Verräters und zur Erbschleicherin gestempelt zu werden. Ihre Widerstandskraft, sich in einer Außenseiterposition zu behaupten, nimmt stetig ab. Schließlich schafft sie es, das Dorf zunehmend hinter sich zu lassen und Kraft für ein anderes Leben zu schöpfen. Wie sie sich immer mehr zurückzieht und nur noch wenige Freundinnen hat. Bis sie aber gerade deshalb eine besondere Unterstützung findet, die ihr hilft, ihr Auskommen zu sichern. Wie sie eine Freundin überredet, in die heruntergekommene Hauptstadt zu kommen und gemeinsam mit ihr eine Arbeit anzunehmen, wo junge Frauen in Büros gebraucht werden, und sie für einige Zeit ihre kleine Tochter der Obhut ihrer Mutter überlässt. Ausgerechnet sie, die sich nicht sicher ist, ob sie bleiben oder gehen soll, obwohl alles fürs Weggehen spricht und sie nichts mehr halten sollte. Wie sie diesen Soldaten der Verwaltungsmacht kennenlernt, der sie bewundert und über das Meer holen wird, mit einer Aufenthaltserlaubnis, mitsamt ihrer Tochter. Als die Beziehung zu diesem Mann scheitert und sie es trotzdem schafft, auf dem neuen Kontinent Fuß zu fassen, mit Hilfe neu entstandener Freundschaften. Als sie schließlich in späteren Jahren selbst zur stolzen Bürgerin des gelobten Landes wird.

Das von ihrem gefallenen Mann geerbte Haus hat sie in der Zwischenzeit einer befreundeten Familie zur kostengünstigen Miete überlassen. Einer Familie mit Wurzeln in der Landeshauptstadt und guten Beziehungen zum Ort, in dem diese vorrübergehend nach Kriegsende untergebracht gewesen war. Diese nutzt, nachdem sie in die Stadt zurückgekehrt ist, das Haus stets mehrere Wochen im Jahr, vorwiegend zur Sommerfrische. Der Vater der Familie, Beamter in der Ministerialbürokratie der neuen Republik, pflegt, seinem Traditionsbewusstsein gemäß, gerne über ein kleines Häuschen im Ausseeischen zu verfügen und diesen Umstand auch entsprechend zu zelebrieren. Jedes Jahr zumindest einige Zeit im Sommer, aber gelegentlich auch an Feiertagen. Der Lauf der Jahre und ein stetig steigender Wohlstand degradieren das Haus schließlich zum Sommerhäuschen, aufgrund wachsender Ansprüche und mangels bequemer Ausstattung für kältere Perioden. Die Werkstatt ihres gefallenen Mannes, der gelernter Tischler war, sowie weitere Nebengebäude hatte sie ohnehin seit Kriegsende nicht mehr angerührt. Auch für die Mieter sind sie tabu.

Gelegentlich denkt sie daran, das Haus vielleicht doch zu verkaufen. Aber sie hält die Vermietung für eine zwar vorläufige, aber schließlich doch dauerhafte Lösung.

So bleibt es über alle Jahre. Es sind Jahre, in denen ihr eine gute Anstellung in einer Handelsfirma Sicherheit und Einkommen bietet, ebenso ein Netz an Freundschaften. Jahre, in denen sie zwar Männer kennenlernen, aber keine Ehe mehr eingehen wird. In denen sie ihre Tochter heranwachsen und sie eine Familie gründen sieht, die mit den Enkeln in der Nähe lebt, in einem der Vororte der großen Stadt am Rande einer waldigen Bergkette. Und in denen sie regelmäßig im Ort ihrer Herkunft nach dem Rechten, aber vor allem nach dem Haus sieht und sich als erfolgreiche Emigrantin präsentiert. Als eine, die es dort geschafft hat. Als eine, die es denen zeigt, die sie angefeindet und missachtet haben und es vielleicht auch jetzt noch tun. Als eine, an der trotz Erfolg und Wohlstand Ausgrenzung und Nicht-Dazugehören weiterhin nagen. Als eine, die nicht weiß, warum sie an diesem Haus festhält, es nicht verkaufen, sich nicht von dieser Gegend lösen kann.

Die Nachricht

An einem frühen Morgen läuft John durch den Wald, weit nördlich des großen Sees und der Wirtschaftsmetropole. Endlich ist für ihn der Frühsommer ein wenig spürbar, auch hier in dieser Gegend. Gleichzeitig liebt er die Stimmung, die ihn beim Morgenfrost befällt. Er mag stille, gefrorene Landschaften. Wie noch vor einigen Wochen, als sie das erste Mal in diesem Jahr an diesem Platz verbracht hatten. Die Wasserlacken waren vereist, die Wiesen lagen in gefrorenem Weiß, die Bäume, noch dunkle Bäume, bevor sie austrieben, waren an der Oberfläche mit Frostflaum bedeckt. Dann der See, zwar eisfrei, aber im seichten Wasser am Rande des Ufers war er noch mit einer Eiskruste umsäumt.

Es ist still, das Wasser glatt, die Sonne steht noch tief und die ersten Strahlen treffen die Spitzen der hohen Bäume. Vor ihm liegt ein noch kalt erscheinender dunkler Weg, blau, grau, schwarz. Schwarzes Braun.

Johns Hüften schmerzen, sein Atem ist kurz. Er hat sich für zu lange Zeit zu wenig bewegt, zu viel gegessen und zu viel Alkohol getrunken. Er hat zu viel gearbeitet, zu viel Druck verbreitet und sich zu viel unter Druck setzen lassen. Er versucht, einen Rhythmus in seine ungelenk gewordenen Bewegungen zu bringen. Wieder mehr Rhythmus, wieder gleichmäßiger und entspannter, wieder mehr von dem, was ihm und allen anderen guttut. Es fällt ihm schwer, er läuft nur kurze Strecken, dann stoppt er, immer wieder, unregelmäßig. Der Waldboden, obwohl weich und geschmeidig, erscheint ihm wie schweres Gelände.

Er verweilt am Rande des Sees, die Oberfläche ist blitzblank, noch ist nicht die Zeit, in der sich im Wald fette Mücken bemerkbar machen, sobald er stehen bleibt und der Schweiß fließt. Die Sonne blinzelt durch die Bäume, einer Mischung aus Nadeln und Laub, frisch ausgetriebenes helles Grün.

Er denkt daran, wie er dieses andere Leben, das Leben in der Natur, stets herbeisehnt. Wenn er sich eingeengt fühlt an langen Schreibtischtagen, in endlosen Gesprächsterminen, im Stau, stets angemessen statt leger gekleidet, dazwischen sich mit Fast und Convenience Food versorgend, wenn auch von der gehobenen Sorte, eingeklemmt zwischen Terminen. Aber es gibt dieses andere, das wirkliche Leben. Das des Naturmenschen und Selbstversorgers, des Hüttenbauers und Kanupaddlers, des Anglers und Pick-up-Drivers durch ruppiges Gelände. Stets lässt er sich von diesem Lebensgefühl erfassen, wie viele Männer, die sich in ihren Holzfäller-Hemden einen Lebensplatz am Wochenendlagerfeuer gönnen, gelegentlich in einer Endlosschleife aus Grill, Baseball und Eishockey versunken, in Blockhütten, Holzriegeln oder aufgebockten Trailern mit Klimaanlage und Gasheizung. Wenn er seine Runden durch Blueberry-Moore zieht, wenn er das Heck des Pick-ups bis zum Bersten mit Überlebensausrüstung vollräumt, ergänzt durch Einkäufe in einer der äußeren Malls, den letzten Außenposten der Zivilisation auf dem Weg zur Lodge. Wenn er gute Musik von früher genießt, auf dieser in einem langen Stück geradeaus verlaufenden Straße, bevor sich diese entschließt, die Richtung zu ändern, um wiederum für eine lange Weile geradeaus zu verlaufen. Vorbei an schütteren Nadelwäldchen, Moorflächen, unzähligen schwarzen Seen, die zwischen den Bäumen durchschimmern. Bevor dahinter, sehr weit dahinter, der leere Norden beginnt, den er gelegentlich aufsucht. Wie Sibirien, denkt er manchmal, unüberschaubar in dieser erhabenen Endlosigkeit. Wenn er der Zivilisation und dem dichten Leben entflieht und sich in die Freiheit entlässt, mit entsprechender Ausrüstung, um sie zu überleben. Wenn er versucht, sich auf die Fülle an Arbeit zu konzentrieren, die auf ihn wartet, und wenn er beschließt, beschließen muss, Arbeit mitzunehmen in das Wochenende, in den Wald, nicht das erste Mal, nicht das letzte Mal, in diese großzügige Lodge am See, immerhin.

Bis vor ein paar Tagen das Telefon geläutet hatte.

Ob man hier richtig sei bei ihm. Ob er die Mail erhalten habe, die man ihm vor drei Wochen geschickte habe.

Die Mail? Nein! Ja doch. Also Sie sind das? Ja, er war beschäftigt gewesen und hatte noch keine Zeit zu antworten.

Wir dachten uns, wir kontaktieren Sie und fragen noch einmal nach, ob Sie die Nachricht überhaupt erhalten haben. Wir haben vergeblich auf eine Antwort gewartet, so die Stimme mit Akzent.

Er habe keine Ahnung, worum es gehe. Woher sie seine Nummer hätten, hatte er noch unfreundlich zurückgefragt.

Natürlich von den Kontakten zu seinen Eltern. Mit seiner Großmutter hätten sie ohnehin jahrelang zu tun gehabt.

Er versuchte zu begreifen, was ihm gerade mitgeteilt worden war. Er merkte, dass es da etwas gab, was ihn betreffen sollte. Er hatte sich bisher einfach nicht darum gekümmert, es war weit weg.

Wer das war, hatte sie ihm aus dem Wohnzimmer zugerufen, nachdem sie das Telefonat mitbekommen hatte, das anders war als sonst, nichts Vertrautes, Routiniertes, Übliches war zu hören gewesen.

Nichts Besonderes, es gehe um das alte Haus seiner verstorbenen Großmutter, das gehöre jetzt ihm. Er habe es geerbt, sie wisse das ja, oder nicht? Es gebe ein paar Dinge zu klären, hätte man ihm gesagt. Aber er habe noch keine Zeit gehabt, sich um die Angelegenheit zu kümmern, falls es überhaupt etwas gäbe, was er sonst tun sollte, als diese Angelegenheit möglichst schnell loszuwerden, das heißt: zu verkaufen.

Aber da hatte sie ihm schon gar nicht mehr zugehört.

Seine Gedanken daran versucht er während seiner Laufrunde um den See abzuschütteln. Das Haus sei sanierungs- und reparaturbedürftig, hatte es geheißen. Der Anruf war von jener Agentur gekommen, die die Betreuung dieses Hauses innehatte, auf gutwilliger Basis, wie ihm gesagt wurde, schon seit sehr vielen Jahren. Oder war es ein Nachbar? Er brachte alles durcheinander. Auf alle Fälle sei etwas zu klären oder zu tun, war ihm mitgeteilt worden. Die Mieter seien vor drei Jahren ausgezogen, das Haus stehe leer, ungenutzt.

Was er denn nun damit machen wolle?

Damit? Womit?

Mit dem Haus natürlich.

Er weiß es nicht. Er weiß erst seit kurzer Zeit, dass er überhaupt über ein Haus verfügt.

Es sei einiges zu reparieren und vor allem zu regeln.

Zu regeln? Könne das Haus nicht einfach verkauft werden? Er habe ja damit nie etwas zu tun gehabt und auch keinerlei Interesse daran. Könnten nicht Sie das für mich übernehmen?

Man könne das schon für ihn machen, aber das kostet und man müsse eine Vereinbarung treffen. Und irgendwie müsse man wegen einiger Dinge ständig rückfragen. Das scheint einfach zu kompliziert zu sein. Es gehe doch um einiges, und dann diese Entfernung. Spielt das für Sie keine Rolle?

John weiß nicht, was er sagen soll, weil er nicht weiß, was hier welche Rolle spielen soll.

Es scheint komplizierter zu sein, als er bisher dachte, und es erscheint auch so, dass die Sache aus der Ferne nicht zu regeln ist. Zumindest nicht zufriedenstellend, so der Agenturmitarbeiter am Telefon. Er rate John, sich die Sache selbst anzusehen, sich ein Bild zu machen. Vielleicht könnte er einige Tage in die Gegend investieren, um die Angelegenheit vernünftig zu lösen.

Dann hatte John seine Sachen fürs Wochenende gepackt. Seine Unterlagen hatte er in den alten Koffer mit den vielen Fächern gegeben, ebenso den Computer. Er hatte noch überlegt, ob er erst am nächsten Tag morgens fahren sollte, sich jedoch besonnen und alles ins Auto geräumt.

Ob sie mitfahre, hörte er sich fragen. Aber es schien ihm ohnehin sinnlos.

Sie blickte zu ihm.

Nein! Wie er ohnehin wisse, habe sie schon was anderes vor.

Das weiß er eben nicht.

Es sei besser, sie halten Abstand zueinander, meinte sie. Sie sei durcheinander, sie habe das Gefühl für ihn verloren, füreinander.

Er kannte diesen Satz, diese Botschaft, seit einiger Zeit, seit den letzten Monaten. Auf dieser Ebene verkehrten sie inzwischen. Distanziert beurteilten sie ihre Beziehung, ihre Frustration, ihre Sackgasse.

Was sie denn vorhabe, wollte John wissen.

Sie fuhr ihn an. Kontrollierst du mich? Sie werde den gemeinsamen Sohn besuchen, er sei mit seiner Freundin zusammengezogen, vor Kurzem.

Er wisse darüber Bescheid, antwortete er ihr reflexartig und geflissentlich, er habe ja mit ihm gestern telefoniert. Er wollte eigentlich, dass er mit zur Lodge fährt. Aber er habe Prüfungen, auf die er sich vorbereiten müsse, so der Sohn. Durch den Umzug habe er Zeit verloren, er müsse sich konzentrieren. Er fehlt mir, sagte John abschließend. Er dachte daran, wie sich ihr Sohn vor ein paar Monaten zurückgezogen hatte, als sie beide vergeblich versucht hatten, ihn jeweils auf ihre Seite zu ziehen, ihn jeweils für sich zu gewinnen. Doch er spielte nicht mit.

Werdet erwachsen, sagte ein 22-Jähriger zu seinen Eltern.

Und nun fährst du zu ihm?

Er bemerkte das irritiert und eifersüchtig.

Aber da war sie schon weg.

Es musste sich zwingen, Schritt für Schritt ein Ding nach dem anderen zu tun, sich nicht fallen zu lassen. Aber warum eigentlich nicht? Warum sich nicht einfach der Verzweiflung hingeben und einfach gehen lassen?

Danach hatte ihn ein Schwall an Einsamkeit und ein verzweifeltes Beharren auf ein entspanntes Wochenende befallen. Als er sich durch den frühabendlichen Verkehr gekämpft hatte, hinaus in den Wald, in die Natur. Als er sich im Haus am See eingenistet, ein Bier geöffnet und versucht hatte, auf dem Sofa entspannt die Unterlagen zu sichten, die er in den folgenden Tagen in Ergebnisse verwandeln sollte. Als er gemerkt hatte, dass er dazu nicht in der Lage war. Als er den Computer eingeschaltet und begonnen hatte, gedankenlos herumzusurfen, auf der Suche nach Neuigkeiten auf den üblichen Filmportalen, um sich im Wald auf der Couch zu zerstreuen.

Beim Laufen kann er seine Gedanken in Fluss bringen. Aber er soll nicht immer nur denken, nicht so viel. Aber nun geht ihm die Sache wieder durch den Kopf, um die er sich kümmern sollte. Dieses Haus, quasi über Nacht geerbt. Und sofort kostet es Geld, so wie es aussieht. Als er noch einmal genauer nachgefragt hatte, teilte ihm der Agenturmitarbeiter mit, dass die langjährigen Mieter ausgestiegen seien, dass kein Geld mehr hereinkomme. Einerseits sei das Haus in diesem Zustand kaum mehr zu vermieten, so dessen Einschätzung. Andererseits wäre da auch noch eine Kleinigkeit. Ein alter Streit sei offensichtlich wieder aufgeflammt, wovon sie gar nichts gewusst hätten. Verwandte seien aufgetaucht, sie würden Anteile beanspruchen, falls das Haus verkauft werde. Die seien zwar nicht im Grundbuch verankert. Aber das müsse trotzdem geklärt werden. Die laufenden Kosten konnten bisher über die Vermietung hereingebracht werden. Aber nun müssten sie verrechnet werden, das müsse geregelt werden, darum müsse man sich eben kümmern, das heißt: Er, der neue Eigentümer, müsse das tun.

Nun läuft er eine andere Strecke als die vielen sonstigen Male. Er biegt rechts ab, entfernt sich vom See und läuft in den Wald hinein.

Was tun?

Einfach verkaufen, warum geht das nicht?

Das Problem sei, so der Agenturmitarbeiter, dass die Verwandten – Kennen sie die gar nicht? – einen Rechtsanwalt beauftragt hätten, sich mit der Sache zu befassen, soviel er gehört habe. Es wundere ihn, dass sich dieser bei ihm noch nicht gemeldet habe. Aber sie wussten nach dem Tod der Großmutter wahrscheinlich gar nicht, mit wem sie wie in Kontakt treten sollten. Sie behaupten, ihnen stünde ein Erbteil zu. Das müsse geklärt werden.

Ob er auch einen Rechtsanwalt beauftragen solle?

Das könne er nicht sagen, es liege ihm fern und er fühle sich dazu auch nicht in der Lage, ihm Empfehlungen zu machen, außer, dass er sich darum kümmern sollte. Es werde ihm nicht viel anderes übrig bleiben, als sich direkt ein Bild zu machen, sich der Sache anzunehmen, sich vielleicht mit den unbekannten Verwandten an einen Tisch zu setzen, wenn das gehe.

Nach einer Weile findet John einen Rhythmus, seine Gedanken verlieren sich zwischen Blättern, Sonnenstrahlen und Bäumen. Er läuft und er lässt es laufen, bis zur kleinen Lichtung mit einer Hütte. Er verlangsamt das Tempo, dann bleibt er stehen, an dieser Stelle, wo sich der Weg gabelt, wo eine Forstschneise schnurgerade vorbeiläuft, wo diese schäbige Hütte mit teilweise zugenagelten Fenstern steht. Einige davon erlauben Einblicke, obwohl fast schwarz vor Staub auf der Innenseite. Er drückt sein Gesicht an eine Scheibe und versucht, irgendetwas zu erkennen. Nur schemenhaft sieht er Umrisse, einen umgestürzten Stuhl, eine offene Innentür, leere Regale, einen Tisch, Dreck auf dem Boden, er nimmt einen modrigen Geruch wahr, der ihm sogar auf der Außenseite noch in die Nase fährt. Er erinnert sich, wie ihm ein Freund einmal von dieser Hütte erzählt hatte. Früher waren sie gelegentlich daran vorbeigelaufen und ihn überkam stets ein unheimliches Gefühl. Er habe Geschichten darüber gehört, so sein Freund, über Leute, die sich hierher zurückzogen hatten und langsam dem Wahnsinn der Einsamkeit und einer isolierten Beziehung verfallen waren, bis es Tote gab.

Du schaust zu viele Filme an, hatte John ihm damals ausgerichtet.

Ein merkwürdiger Schauer erfasst ihn. Er umschleicht die Hütte. Wer möchte schon mit derartigen Dingen zu tun haben? Dann läuft er ein Stück den unbekannten Weg weiter, der jedoch ins Nichts führt. Dann kehrt er um, kommt wieder an der Hütte vorbei und in Richtung See und Licht zurück.

Er denkt an das ihm unbekannte Haus seiner Großmutter, einer fahrigen alten Dame, die mit scheinbarer Wehmut vor sich hinlebte. Ihre Distanziertheit allen gegenüber hatte er Zeit ihres Lebens nie verstanden. Er verstand sie auch im Nachhinein nicht. In seiner Kindheit und Jugend, auch später, war ihm ihre Haltung nicht als etwas Besonderes erschienen, sondern einfach als ihr persönlicher Charakter. Menschen sind halt so, dachte er immer, auch seine Großmutter. Aber wie denn genau und warum? Darüber hatte er sich nie Gedanken gemacht, er hatte nie Interesse daran gezeigt, es erscheint ihm nun merkwürdig, dass sie ihm in dieser Situation einfällt.

Nach der Seeumrundung denkt er auf dem Sofa nach und trinkt Bier. Eine Entscheidung beginnt in ihm zu reifen.

Ich muss weg. Ich muss da hin.

Er ruft seinen Partner an, zunächst vergeblich, er spricht auf seinen Anrufbeantworter, später am Abend ruft ihn dieser zurück. John erläutert ihm die Sache, er bittet ihn, vorläufig die Leitung seiner Projekte zu übernehmen, es laufe ohnehin alles gut. Er habe viel vorbereitet und vorgearbeitet. Er werde in der nächsten Woche noch alle laufenden Arbeiten abschließen, aber er müsse wegfahren für rund zwei Wochen und etwas regeln.

Du brauchst eine Auszeit, oder? Du bist unkonzentriert und überbelastet. Ich verstehe das, ich merke das. Dir geht es nicht gut, also tu das bitte, wir bringen das schon hin.

John erzählt ihm vom geerbten Haus, aber es sei doch mehr als das. Er müsse einfach wegfahren, er müsse raus, ein wenig flüchten aus seiner Situation, nachdenken.

Warum?

Sie haben Probleme, er und seine Frau, miteinander. Das belaste ihn und nun gibt es auch noch diese Angelegenheit mit der Erbschaft. Er müsse das in Ordnung bringen, bevor es Geld kostet, so wie sich das anhört. Am besten, er fährt hin, das schafft Abstand, genau das, was er brauche.

Sein Partner sichert ihm zu, er werde ein paar Leute organisieren und ein paar Termine nach hinten schieben, dafür solle er sich um seine Dinge kümmern. Vielleicht tue ihm das gut, einmal aus allem auszusteigen. Und was er von seiner Großmutter wisse?

Er habe mit ihr Zeit ihres Lebens kaum über das Haus und diesen Ort gesprochen.

Warum nicht?

Ich bin nicht auf die Idee gekommen. Und sie hat nicht gerne darüber geredet. Aber mehrere Male war sie dort.

Warum sie das Haus nicht verkauft habe?

Ich weiß es nicht, sie hat es Freunden, einer damals jungen Familie, langfristig zur Miete überlassen, erzählte mir die Mutter einmal. Aber das ist sehr lange her. Alle paar Jahre habe sie nach dem Rechten gesehen, alte Kontakte geknüpft. Dann ist sie gestorben, sie war zwar schon sehr alt, aber es kam doch überraschend. Meine Eltern hat das Haus nicht interessiert, die Mutter hat davon gesprochen, dieses Haus so rasch wie möglich zu verkaufen, aber sie kam nicht mehr dazu. Du weißt, der Unfall. Vor zwei Jahren ist meine Großmutter verstorben, meine Eltern vor einem Jahr, und nun bin ich dran, mich darum zu kümmern.

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