Das Böse im Menschen

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Das Böse im Menschen
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Günter Laube

Das Böse im Menschen

Die vierte Perspektive

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Journalistin

Der Kommissar

Die Psychologin

Der Engel

Köln

Das Böse im Menschen

Kirchenpolitik

Die vierte Perspektive

München

Hamburg

Das fünfte Opfer

Die Mission

Das Ende

Weitere Werke

Impressum neobooks

Die Journalistin

Es war elf Uhr vormittags an diesem heißen, aber verregneten Freitag Morgen, als ich zum Chefredakteur unserer Zeitung gerufen wurde.

Seine Sekretärin hatte angerufen, es klang dringend.

»Noch eine Story vor dem Wochenende?«

, fragte ich mich. Ich arbeitete derzeit an einem Bericht über die Verkehrssituation in der Bundeshauptstadt. Ein immer wieder aktuelles Thema, doch letzten Endes nur mäßig spannend. Aber seit der Herausgeber unserer Zeitung vor zwei Wochen zwei Stunden im Stau gestanden und einen wichtigen Termin verpasst hatte, kümmerte sich die Redaktion intensiv darum. Allerdings war kein Ende, geschweige denn eine Besserung absehbar!

Da Urlaubszeit war, mussten sich Kollegen aus allen Ressorts diesem Thema widmen, täglich musste ein Artikel produziert werden. Auch ich durfte mich seit einer Woche mit diesem Thema beschäftigen, doch es würde de facto nicht mein Lieblingsthema werden. Als notorische Fahrradfahrerin tangierten mich Staus mit wie vielen Autos auch immer nicht wirklich. In der Stadt nutzte ich fast ausschließlich das Fahrrad, die U-Bahn oder die S-Bahn. Mein Auto nutzte ich fast nur für private oder dienstliche Touren nach außerhalb.

Ein neuer Fall würde mir gut tun, Abwechslung konnte nicht schaden, und den heutigen Artikel würde auch mein Kollege Konrad allein fertig stellen können. Er war ein pfiffiger Bursche von sechsundzwanzig Jahren und absolvierte nach seinem Germanistik- und Geschichte-Studium ein Volontariat bei uns. Hätte ich geahnt, was mich in den nächsten Tagen erwartete, hätte ich allerdings nicht so gedacht.

Ich speicherte meinen Bericht auf dem gemeinsamen Laufwerk und ging zum Büro des Chefredakteurs. Ich klopfte an der Tür von seiner Sekretärin und trat ein. Ihre Miene verhieß nichts Gutes, fast meinte ich, dass sie geweint hatte. »Guten Morgen! Ich habe einen Termin beim Chef ...«

»Guten Morgen, Frau Sonntag! Ja ..., bitte gehen Sie durch. Er erwartet Sie bereits.«

Auch ihre Stimme klang anders als gewöhnlich.

»Ob sie ein schlechtes Wochenende erlebt hat?«

, fragte ich mich, klopfte an die Tür zum Büro meines Chefs, öffnete und trat ein.

Walter Kotelmann, der Chefredakteur unserer Zeitung, stand mit dem Rücken zur Tür und starrte aus dem Fenster. Ob er den Verkehr von Berlin beobachtete oder in Gedanken war, ließ sich nicht feststellen.

Ich klopfte nochmals an die Tür. »Guten Morgen, Walter, Sie haben ...«

Er drehte sich abrupt um. »Morgen!«

Das war kein gutes Zeichen. Alle Mitarbeiter wussten, wenn der Chef gut drauf war, dann empfing er einen mit einem »Guten Morgen! Wie geht es Ihnen?«. Bei schlechter Laune verkürzte sich der Willkommensgruß. Dass er es nur zu einem kurzen, fast schon unhöflichen und gequält wirkenden »Morgen!« brachte, hatte ich in den vier Jahren, die ich hier arbeitete, noch nicht erlebt.

Er machte eine kurze einladende Geste. »Bitte, setzen Sie sich.«

Ich folgte der Aufforderung und nahm in einem der drei schwarzen Ledersessel Platz, die vor seinem großen, wuchtigen Schreibtisch standen.

Er setzte sich in seinen Stuhl, mir gegenüber, und sah mich forschend an. »Wissen Sie es schon?«

»Bitte?«

»Das bedeutet wohl, nein.« Er seufzte und wirkte wieder gequält. Als er sich nach vorn beugte und mit den Ellenbogen auf dem Tisch abstützte, rechnete ich mit dem Schlimmsten.

»Kathrin, Sie sind jetzt vier Jahre bei uns.«

Ich nickte. Offenbar suchte er nach einem Einstieg.

»

Wofür?

«

»Sie haben bereits einige Abteilungen und Ressorts durchlaufen, zunächst als freie Mitarbeiterin und seit kurzem als Redakteurin. Dabei haben Sie auch viele Geschichten erlebt, doch ich fürchte, diese hat eine neue Qualität.«

»Welche?«, platzte es aus mir raus. Ich war im Kollegenkreis für meine impulsiven Momente durchaus bekannt.

Wieder ein Seufzer.

»

Galt er meiner Frage oder der Geschichte, die er mir hier präsentierte?

«

Statt einer Antwort griff er in eine Schublade und holte einen Umschlag heraus, den er mir schweigend reichte.

Ich griff zu, öffnete ihn und zog drei eng beschriebene Seiten und vier Fotos heraus.

Was ich sah, ließ mir den Atem stocken: Das erste Foto zeigte ein größeres Areal, eine Wiese, im Hintergrund Wald, abgesperrt von Polizisten, auf dem zweiten war eine Gruppe von mehreren Männern und Frauen zu sehen, die halbkreisförmig um einen kleinen Körper herum standen, der auf dem Waldboden lag. Daneben war ein größeres Loch im Erdreich,

»

groß genug für ...

«

Ich wagte nicht weiterzudenken und sah mir das dritte Foto an. Es zeigte diesen Körper in Nahaufnahme, es war ein kleines Mädchen, und man musste kein Arzt sein, um zu sehen, das es tot war. Das vierte Foto offenbarte noch mehr Details: Deutlich waren die Fesselungsspuren an Hand- und Fußgelenken und der mit Dreck und Blut verschmutzte nackte Oberkörper zu erkennen. Mich grauste.

Ich legte die Fotos auf den Tisch und sah Walter fragend an. Ich schluckte mühsam, doch es gelang mir, meine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Dennoch blieb ihm meine Gemütslage nicht verborgen.

»Lesen Sie den Bericht!« Er deutete auf die Zettel.

Und ich las den Bericht unseres Kollegen aus Stuttgart: »Erster Bericht zur Ermordung von Annabelle Ähle, einzige Tochter von Markus und Gesa Ähle, wohnhaft in Freiburg, glücklich verheiratet seit sechs Jahren. Annabelle wurde am Morgen des einunddreißigsten Juli vor ihrem Elternhaus in Freiburg entführt, ihre Leiche östlich von St. Georgen im Schwarzwald am Morgen des ersten August, also heute, gefunden. Ihre Mutter wollte sie in den Kindergarten bringen, als ein fremder Mann sie hinterrücks niederschlug und Annabelle in ein wenige Schritte entfernt parkendes Auto verschleppte. Gesa Ähle erlitt eine leichte Gehirnerschütterung, doch konnte sie trotz ihrer Benommenheit sehr schnell die Polizei verständigen. Eine sofort eingeleitete Großfahndung brachte keinen Erfolg, was einerseits daran liegen mochte, dass vom Fluchtfahrzeug nur bekannt war und ist, dass es sich um einen dunklen Kombi handeln soll, andererseits sich die Fahndung auf den Großraum Freiburg konzentrierte und der Täter sehr wahrscheinlich schon etwaige Kontrollstellen passiert hatte, bevor sie eingerichtet waren. St. Georgen ist ungefähr fünfzig Kilometer von Freiburg entfernt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass der Täter zuvor noch an einem anderen Ort mit seinem Opfer war, bis er nach Einbruch der Dämmerung zum Tatort gelangte. Die Kleidung des Mädchens durchschnitt er mit einem Messer, was darauf schließen lässt, dass es die ganze Zeit gefesselt war. Ein Knebel wurde ebenfalls gefunden, in ihrem Grab. Diesen hat er offenbar genau wie die Fesseln nach ihrer Ermordung entfernt. Der Tötungsvorgang selbst bestand aus fünf Messerstichen, die er in die Brust, ins Herz des Mädchens ...«

Ich ließ die Blätter fallen und schrie einen stummen Schrei. Dieser nüchtern und sachlich abgefasste Text, der auch auf einem ersten Polizeibericht beruhte, verschlimmerte die Bilder in meinem Kopf. Die ganze Szenerie stand deutlich vor mir.

»

Was für ein Ungeheuer...!

«

Ich warf einen Blick auf mein Gegenüber. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er aufgestanden war. Er stand wieder am Fenster, mir den Rücken zukehrend, die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Ich hob die Blätter wieder auf und zwang mich weiterzulesen.

»Die Stiche sind annähernd kreisförmig angeordnet, was auf eine vollbewusste Handlung seitens des Täters schließen lässt. Er hat die Tat vorsätzlich begangen. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen dreiundzwanzig Uhr am einunddreißigsten Juli und ein Uhr am ersten August, also lebte sie noch über zwölf Stunden nach der Entführung. Nach der Ermordung hat er sie in einem Erdloch begraben. Der Hund eines Spaziergängers fand am Morgen die Leiche beziehungsweise hat er an dem Erdloch gegraben und gewinselt. Der Mann hat dann nachgeholfen, der Boden war noch weich, und er hat sofort die Polizei verständigt, als er das tote Mädchen sah. Er wurde psychologisch betreut.«

 

Ich legte den Zettel beiseite. Das ließ sich denken, wenn schon der Bericht eine emotionale Kaskade lieferte, was mochte dann der unmittelbare Anblick des ermordeten Mädchens auslösen?

»Annabelle

!

«

In diesem Augenblick machte ich den nächsten Schritt. Das Opfer hatte einen Namen, es war nicht nur ein Mädchen oder ein Kind, ihr Name war Annabelle! Ich beschloss, sie von nun an immer so zu nennen.

Ich griff zum zweiten Zettel: »Fazit: Es bleiben eine Menge Fragen offen, doch vorrangig wäre zu klären, warum er das Mädchen in Freiburg entführt und nach St. Georgen bringt, um es da zu ermorden? Warum nimmt er ein so hohes Risiko in Kauf und überfällt die Mutter? Er scheint alles in irgendeiner Form geplant zu haben, höchst detailliert, und wie leicht hätte an diesem Morgen jemand dazwischen kommen können? Wenn er so eiskalt kalkuliert hat und alles perfekt durchdacht und vorbereitet hat, dann scheint dies ein Unsicherheitsfaktor zu sein, der nicht recht ins Bild passen will. Hätte nur ein Nachbar oder sonst jemand in dem Moment eingegriffen, wäre sein gesamter sorgfältig ausgearbeiteter Plan zunichte gemacht worden. So heißt es auch im Polizeibericht: Warum Annabelle Ä.? Sie wurde sexuell nicht mißbraucht, ein Sexualdelikt liegt demnach nicht vor, der durch die Ermordung hätte vertuscht werden sollen. Fest steht nach den bisherigen Erkenntnissen jedoch, dass er sie wissentlich ausgewählt hat, sein Opfer war ihm lange vorher bekannt. Er wusste, wo sie wohnte, kannte ihre Gewohnheiten, ihr Umfeld, ihre Familie, den Ablauf. Er wusste, dass Annabelles Kindergarten noch diese und nächste Woche geöffnet ist, obwohl gestern der erste Ferientag war. Aber die Kindergärten sind an die Bedürfnisse der Eltern angepasst und sowohl anderthalb Wochen nach Beginn als auch vor Ende der Schulferien geöffnet. Also: Warum? Der Anfangsverdacht der Erpressung ist seit der Ermordung hinfällig und wäre ohnehin nicht haltbar. Die Eltern sind nicht vermögend, und weder Vater noch Mutter arbeiten in Positionen, die eine Erpressung rechtfertigen würden.«

»Annabelle

! Warum Annabelle?

«

Ich ließ den Zettel sinken, denn auch ich stellte mir jetzt die Frage, da ich die Einschätzung meines Kollegen teilte, dass es einen Bezug zwischen ihr und dem Täter geben musste.

»Kein Sexualdelikt. Hm. Keine Vergewaltigung. Ein schwacher Trost! Aber was war dann das Motiv? Hatte sie ihn bei einem Verbrechen beobachtet? War sie Zeugin eines Mordes geworden? Vielleicht ohne es zu wissen?«

Ich nahm den Zettel wieder auf und las den Bericht zu Ende, der mit einem Begriff mein Leben für immer verändern sollte: »Da die Angelegenheit für die örtlichen Behörden eine Nummer zu groß scheint, hat das Landeskriminalamt in Stuttgart die Ermittlungen übernommen. Dort finden sich Spezialisten, denn schließlich soll es nicht noch eine Tote geben. SEK und MEK sind in Bereitschaft und warten auf ein Signal. Auf die Frage nach dem „Warum?“ konnten allerdings auch die Spezialisten keine Auskunft geben, insbesondere warum der Mörder Annabelle nach St. Georgen verschleppt hat, um sie dort zu töten. Persönliche Anmerkung: Dies alles lässt nur einen Schluss zu: Hier war das Böse im Menschen tätig, und es bleibt nur zu hoffen, dass es nicht noch ein Opfer gibt, denn vom Täter fehlt auch vierundzwanzig Stunden nach der Entführung noch jede Spur. Mittlerweile ist die Fahndung auf das ganze Bundesland ausgedehnt, und wie ich aus zuverlässiger Quelle im Innenministerium erfahren habe, wird überlegt, alle Halter eines dunklen Kombi zu überprüfen. Aber das ist noch nicht spruchreif.«

»Natürlich!«

Ich wurde zynisch.

»Wenn das System versagt oder gewisse Leute gezwungen sind, Fehler zu korrigieren, wird wild um sich geschossen. Leben wir denn immer noch im Wilden Westen?«

Ich legte den Bericht und die Fotos zurück auf den Tisch. Mein Chef hatte sich wieder in seinen Stuhl gesetzt.

»Das Böse im Menschen ..., ja ..., das ist ein treffender Begriff. - Ich muss nach Freiburg«

, überlegte ich und sah ihn fragend an. Er reichte mir einen Umschlag. »Ich bilde mir ein, Sie ganz gut zu kennen. Ihr Flug nach Stuttgart geht in drei Stunden. Hier ist ein Ticket, ein Mietwagen steht bereit. Unser Stuttgarter Kollege wird in Stuttgart bleiben und die Schritte der Polizei und Politik verfolgen, Sie wollte ich bitten, vor Ort ..., im Umkreis der Familie, in Freiburg und in St. Georgen zu recherchieren. Wo ist die Verbindung zum Täter? Aber ich sehe Ihnen an, dass Sie genau das vorhatten.«

»Ganz genau! Hätten alle schneller, besser reagiert, könnte Annabelle vielleicht noch leben. Ich will einen zweiten Mord verhindern, das ist jedes Menschen Pflicht!«

»Nehmen Sie sich Zeit so lange Sie brauchen. Ich stelle Sie frei für diesen Fall. Die Berliner Verkehrssituation wird auch ohne Sie auskommen.«

Ich nickte. Wir standen auf, er drückte mir die Hand, und ich verließ das Büro.

Seine Sekretärin empfing mich mit den Worten: »Guten Flug! ... - Und viel Erfolg!«

»Danke!«, sagte ich. Ich hörte ihrer Stimme an, dass sie emotional bei der Sache war. Da ertönte noch einmal die Stimme unseres Chefs: »Kathrin?«

Ich drehte mich in die Richtung seines Büros. Er stand im Türrahmen. »Halten Sie mich auf dem Laufenden, ja?«

»Selbstverständlich.« Ich schluckte.

»

Was kann ich schon tun? Einen Killer ausfindig und unschädlich machen, bevor er vielleicht wieder mordet?

«

»Wenn ich etwas von hier aus tun kann, lassen Sie es mich wissen. Rufen Sie mich auf meiner Geheimnummer an, da bin ich immer zu erreichen.« Er kam auf mich zu und gab mir eine Visitenkarte, auf der lediglich eine Telefonnummer stand. Eine Handynummer. Dann drehte er sich um und ging wieder in sein Büro. Bevor er die Tür schloss, sah er mich noch einmal an. Es lag ein Ausdruck in seinen Augen, den ich nicht deuten konnte. Ich hatte ihn noch nie so erlebt.

Er schloss die Tür, und ich sah seine Sekretärin an.

»Sie hat die Bilder auch gesehen!«

, durchfuhr es mich.

*

Ich saß im Flugzeug auf dem Weg nach Stuttgart. Es war inzwischen kurz vor neun Uhr Abends. Ein Unwetter hatte den Zeitplan am Berliner Flughafen nachhaltig durcheinander gebracht, sämtliche Maschinen starteten und landeten mit zum Teil erheblicher Verzögerung. Der innerdeutsche Flug nach Stuttgart hatte lediglich Prioritätsstufe drei, Landungen ankommender Maschinen sowie der internationale Luftverkehr hatten Vorrang.

Noch vom Flughafen hatte ich Sven, meinen Stuttgarter Kollegen, über die Verspätung informiert. Mit schwäbischer Gelassenheit erwartete er mich zu vorgerückter Stunde. Der Anlass gestaltete die Begrüßung kurz und knapp. Er geleitete mich zum Mietwagencenter und begleitete mich anschließend zum Hotel. Auf meinem Zimmer gingen wir seine bisherigen Recherchen durch, die er mir auch in Form von mehreren Dateien inklusive Bildmaterial zur Verfügung stellte. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen zum Frühstück, bevor er nach Hause fuhr. Dann war ich allein, es war kurz vor Mitternacht. Ich war müde und ausgepowert und ging schlafen.

*

Am Samstag wachte ich um sechs Uhr auf. Schnell vergegenwärtigte ich mir, wo ich war. Und warum. Ich hatte Svens Unterlagen bereits durchgesehen, als wir uns um halb neun zum Frühstück trafen.

Lange Zeit mochte keiner von uns das Thema anschneiden, weswegen wir hier waren, und wir aßen in besinnlicher Stille. Wider Erwarten schmeckte mir das Frühstück ganz gut, und der Kaffee war ausgezeichnet. Ich nippte eben gedankenverloren an meinem Orangensaft, als Sven unvermittelt das Wort ergriff: »Ich treffe mich nachher noch mit jemandem aus dem Innenministerium. Die fahren Sonderschichten, um den Fall aufzuklären.«

»Hm. Zwei Tage nach der Entführung und einen Tag nach Entdeckung der Leiche.«

Ich hatte es nicht vorwurfsvoll gemeint, einfach nur den Tatsachen ins Auge geblickt, und Sven verstand mich. »Ja, das ist für alle Beteiligten kein einfaches Unterfangen. Meiner Quelle zufolge haben sie noch immer keinen Ansatzpunkt. Derzeit werden alle Überwachungsbänder aus dem Freiburger Raum und von der Gegend des Fundorts der Leiche ausgewertet. Aber das kann dauern.«

»Zumal sie gar nicht wissen, wonach sie suchen müssen. Ein dunkler Kombi!«

»Und nach einem Mann!«

Ich sah Sven überrascht an. Er klang verbittert.

»Was?«, fragte er.

»Nichts ..., es war nur ..., du klangst so ..., ich weiß auch nicht.«

»Du meinst, das schränkt den Täterkreis nur auf die Hälfte der Bevölkerung ein? Und wenn man ein gewisses Alter und einige andere Dinge zu Grunde legt, dann noch mal um ein Vielfaches? Und wenn man dann noch die rausfiltert, die einen dunklen Kombi fahren und aus dem Raum Freiburg oder St. Georgen oder Stuttgart kommen, dann wird es überschaubar?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich denke nicht, dass es so einfach ist.«

»Wieso?«

»Der Täter hat die Tat offenbar seit langem geplant. Mit ziemlicher Sicherheit wird er das Auto gestohlen und auf gar keinen Fall sein eigenes dafür benutzt haben. Und ich bin mir nicht einmal sicher, ob er aus dem Freiburger oder Stuttgarter Raum stammt, oder überhaupt aus diesem Bundesland. Theoretisch könnte er überall herkommen, sogar aus dem Ausland.«

»Hmm.« Mein Gegenüber blickte mich nachdenklich an. »So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Aber du hast Recht. Die Dimensionen könnten viel größer sein, als bisher angenommen.«

Er machte eine fast schon melodramatische Pause und sah mich ein wenig verzweifelt an. »Aber wenn das tatsächlich der Fall sein sollte ..., und wenn sie ihn nicht binnen sechsunddreißig Stunden nach der Tat fassen, wird es schwer, sagt meine Quelle. Und dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass er wieder morden wird.«

Ich griff nach meiner Tasche und stand auf.

»Wo willst du hin?«

»Diesen Gedanken hatte ich auch schon. Ich will verhindern, dass es eine zweite Tote gibt, ein zweites totes Mädchen, eine zweite Annabelle. Ich fahre nach Freiburg.«

*

Ich hatte meine Sachen aus dem Hotelzimmer geholt, dieses bezahlt und war nun auf dem Weg dorthin, wo alles begonnen hatte. Dorthin, wo Annabelle gelebt hatte. Auf der Autobahn war Stau, die Ferien hatten gerade sowohl in Bayern als auch in Baden-Württemberg begonnen. Auf der A8 von München nach Karlsruhe ging nichts mehr. Ich nutzte die Zeit, um einige Telefonate zu führen. Mit meiner Redaktion in Berlin, mit einer Freundin, und schließlich mit den Eltern von Annabelle, die ich vorsichtig auf meinen Besuch vorbereitete.

Wie zu erwarten war, verlief das Gespräch zunächst nicht so erfreulich. Markus Ähle, Annabelles Vater, verhielt sich sehr abweisend und erklärte lapidar, dass er der Polizei bereits alles gesagt hatte, was er weiß, und dass er mit Journalisten in der jetzigen Situation nicht reden würde. Er hoffte dafür auf Verständnis. Doch gab er das Telefon anschließend seiner Frau, damit, wie er meinte, ich dies von ihr ebenso bestätigt bekommen würde. Gesa Ähle war am Anfang sehr zurückhaltend und einsilbig, doch als ich nach einer Baustelle einmal etwas schneller fahren konnte, hörte sie offenbar, dass ich unterwegs war.

»Fahren Sie im Auto? Sind Sie schon auf dem Weg zu uns?«

Ich versuchte ein sarkastisches Lachen. »Nun ja, ich hatte es zumindest vor. Momentan stehe ich mehr oder weniger im Stau. Hier sind viele Urlauber unterwegs.«

»Woher kommen Sie denn?«

»Heute Morgen aus Stuttgart, generell aus Berlin, von dort bin ich gestern Abend hier eingetroffen.«

»Aus Berlin?« Es war das erste Mal, dass sie aus ihrem traurig-verschlossenen und monoton-abweisenden Tonfall heraus kam. »Warum?«

 

Ich musste nicht eine Sekunde überlegen. Ich hatte mich auf die Frage, auch wenn ich sie zu einem späteren Zeitpunkt erwartet hätte, vorbereitet: »Ich möchte versuchen zu verstehen, warum der Mörder Annabelle ausgewählt hat. Und ich möchte verhindern, dass es ein zweites totes Mädchen gibt.«

Nach schier unendlichen Augenblicken sprach Gesa wieder. Aber ihre Stimme war anders. Fest, bestimmt, klar, sie schien wie aus einer Lethargie erwacht. »Wann können Sie hier sein?«

Ich rechnete kurz. »In zwei bis drei Stunden, schätze ich.«

»Wir werden auf Sie warten. Bitte rufen Sie kurz vorher noch einmal an. Wir öffnen nicht jedem die Tür ..., heute.«

»Ich verstehe ..., vielen Dank. Ich melde mich wieder.«

»Bis nachher!«

Das Gespräch war beendet.

»Eine starke Frau«

, überlegte ich.

»Warum hat sie zugestimmt? Eigentlich müssten die beiden auch bereits von zahlreichen Polizisten und Journalisten-Kollegen um entsprechende Erläuterungen gebeten worden sein. Ich werde doch nicht die Einzige sein, die einen weiteren Mord verhindern will!«

Als ich im nächsten Stau stand, war es nicht mehr weit bis zur A5 in Richtung Basel. Noch immer überlegte ich, warum Gesa Ähle ihre Meinung – und die ihres Mannes – geändert hatte.

»Der Ton macht die Musik«

, überlegte ich.

»Vielleicht hatten meine Worte einfach glaubwürdig geklungen, und sie hatte gehört, dass ich auch das meine, was ich sage.«

Mitten in meine Gedankengänge hinein rief Sven an. Ich nahm den Anruf entgegen. »Hallo, Sven!«

»Hallo, Kathrin! Hast du einen Moment?«

»Sicher. Was gibt es denn?«

»Ich war gerade bei der Pressekonferenz des Innenministeriums und der Staatsanwaltschaft. Es war ein schier unüberschaubares Großaufgebot an mehr oder weniger zuständigen Leuten aufmarschiert, die ein nicht minder großes Aufgebot an Medienvertretern über den Stand der Ermittlungen informiert haben. Der Innenminister, der Polizeipräsident, der Leiter der Polizeidirektion Freiburg, zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft, zwei Referatsleiter aus dem Polizeipräsidium, der Präsident des Landeskriminalamts und der Pressesprecher des Innenministeriums bildeten die erste Reihe.«

Meine Hände umspannten das Lenkrad etwas fester. »Und?«

»Nichts! Sie wissen nichts! Und um das der Öffentlichkeit mitzuteilen, haben sie eine halbe Stunde gebraucht. Netto. Mit Vor- und Nachbereitung wurden es fast anderthalb.«

Ich atmete hörbar aus.

»Aber ich habe von meiner Quelle im Innenministerium vorher etwas erfahren.«

»Was?«

»Die nächste Stufe ist eingeleitet. Es werden alle Halter von dunklen Kombis überprüft, das heißt, zunächst wird eine Liste zusammen gestellt. Die Kennzeichen werden anschließend mit denen der Verkehrsüberwachung im gesamten Bundesland abgeglichen. So will man ermitteln, wer wann wo war.«

»Hirnrissig! So kriegen sie ihn nie!«

»Das denke ich auch. So wie du auch vermutet hast, dass der Täter nahezu alles perfekt geplant hat, wird er nicht so blöd gewesen sein und sein eigenes Auto benutzt haben.«

»Genau! Auch die sollten annehmen, dass er eins gestohlen hat. Sind die wirklich noch nicht auf die Idee gekommen? Gibt es in der Richtung irgendwelche Ermittlungen?«

»Nichts Nennenswertes. Der Gedanke wurde mal geäußert, aber letzten Endes nicht weiter verfolgt. Doch ich könnte mir vorstellen, dass alle aus ihrem Dämmerschlaf erwachen, wenn ein dunkler Kombi als gestohlen gemeldet wird. Oder endlich gefunden wird.«

»Ja, das kennen wir ja zur Genüge ...«, sinnierte ich laut.

»Und ob! Bist du denn eigentlich schon in Freiburg?«

»Demnächst«, erwiderte ich mit einem Anflug von Ironie in der Stimme. »Euer Verkehr hier kann glatt mit den Berliner Verkehrsverhältnissen konkurrieren.«

»Nur kein Neid. Die Ferien sind auch irgendwann mal wieder vorüber, dann ist es nur noch halb so schlimm.«

Er lachte ein freudloses Lachen.

»Tschüs, ich melde mich wieder!«

»Okay, bis dann!«

*

Es war sechs Uhr Abends, als ich in Freiburg angekommen war, mein Hotelzimmer bezogen und im zugehörigen Restaurant etwas gegessen hatte und nun in einer Querstraße unweit des Hauses der Familie Ähle parkte. Ich rief sie an und erklärte, dass ich in fünf Minuten bei ihnen sein könnte.

Sie erwarteten mich.

Auf dem Weg zum Haus versuchte ich mir die Szene der Entführung vor Augen zu führen. Das Fluchtfahrzeug in der Hauptstraße der ruhig gelegenen Wohnsiedlung war vielleicht deswegen niemandem aufgefallen, weil es einheimische Nummernschilder trug. Oder die einer größeren Stadt. Das Timing des Täters, der genau gewusst haben musste, wann Annabelle und ihre Mutter das Haus verlassen, um zum Kindergarten zu gehen. Ich sah mir die Gegend genauer an, doch ich bemerkte nichts, was meine Frage

»Warum Annabelle?«

auch nur annähernd hätte beantworten können. Es war eine ganz normale Wohnsiedlung, mit gepflegten Gärten, mittelgroßen Grundstücken, einigen Bäumen, und zur Zeit recht wenig Verkehr. Schließlich stand ich vor Haus Nummer vierundzwanzig. Ich klingelte.

Ein Mann öffnete die Tür. Er mochte ungefähr in meinem Alter sein, war groß, schlank, dunkelhaarig und sah übernächtigt aus.

»Wie viel mochte er in den vergangenen beiden Nächten geschlafen haben?«

Ich stellte mich vor, und mit einer Handbewegung lud er mich ein einzutreten. Im Flur stand bereits seine Frau, die mich zögernd ansah. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, wurde ich von beiden eingehend gemustert.

Ich hielt den Blicken ganz unbefangen stand und versuchte nicht zu aufdringlich zu sein. Gleichwohl verschaffte ich mir schnell einen Überblick. Diele, Küche, Bad, offenes Wohnzimmer, alles machte einen gepflegten Eindruck. Von der Diele ging es nach oben und nach unten. Oben waren ein Schlafzimmer und zwei Kinderzimmer, unten ein ausgebauter Keller, wie ich später erfuhr. Dann betrachtete ich die Mutter von Annabelle eingehender. Ja, auch Gesa Ähle hatte nicht viel geschlafen in den letzten beiden Nächten, doch war sie weit davon entfernt, hysterisch oder sonst irgendwie zu reagieren.

Offenbar hatte ich inzwischen die Musterung bestanden, Gesa trat einige Schritte auf mich zu, gab mir die Hand und geleitete mich ins Wohnzimmer. Hinter der Tür war noch eine Essecke, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Wir setzten uns, ihr Mann sorgte für Getränke.

»Ich nehme an, die Autofahrt war nicht sehr angenehm? Nun, zu Ferienbeginn ist das immer so eine Sache ...«

»Danke ..., ja, in der Tat. Mit dem Fahrrad wäre ich jedenfalls nicht viel langsamer gewesen«, schoss es spontan aus mir heraus, doch im selben Moment hätte ich mir auf die Zunge beißen können ob meiner Impulsivität.

Wider Erwarten lachte Gesa, ihr schien meine ungezwungene und direkte Art zu gefallen. Wir plauderten ein wenig Belangloses, ich lobte die Blumenpracht im Garten, Markus drückte sein Mitgefühl für die weite Reise aus.

Wie unvermittelt stürzte die Frage von Gesa auf mich ein: »Wollen Sie ihr Zimmer sehen?«

Ich wusste, was sie meinte. Natürlich wollte ich. »Gerne.«

Sie erhob sich, und auch ich stand auf, ihr in die Diele und nach oben folgend.

In Annabelles Zimmer entdeckte ich nichts Ungewöhnliches. Wenn man davon absah, dass es für das Zimmer einer Vierjährigen zu sauber, zu aufgeräumt, zu ordentlich war. Ohne dass ich diesbezüglich eine Frage gestellt hätte, sagte Annabelles Mutter: »Hier haben sich schon viele Polizisten umgesehen. Sie haben das ganze Zimmer durchsucht und überall Fingerabdrücke genommen. Von meinem Mann und mir wurden auch Fingerabdrücke genommen, um bekannte ausschließen zu können. Ein Polizist meinte, dass es sein könne, dass ...«

Ihr verschlug es die Sprache.

Einem Impuls folgend, ergriff ich ihre Hand und vollendete den Satz: »... dass der Täter hier zuvor eingebrochen war?«

Sie nickte, und ich glaube, wäre in diesem Moment nicht ihr Mann erschienen, hätte sie ihren Emotionen freien Lauf gelassen. Doch er schien ihr eine verlässliche Stütze zu sein. Er legte seinen Arm um sie, und wir setzten uns alle auf das Bett. So saßen wir eine lange Zeit. Meine Überlegung, die mir zwischendurch kam, sie damit zu trösten, dass Annabelle nicht Opfer eines Sexualdelikts geworden war, verwarf ich. Auch wenn es manchmal so scheint, als ob es gut wäre, etwas Tröstendes zu sagen, ist Schweigen doch Gold!

Es war elf Uhr an diesem lauen Sommerabend, als ich das Haus von Annabelles Eltern verließ. Nach einer kompletten Hausbesichtigung hatte Gesa ein kleines Abendbrot bereitet, anschließend hatten wir Fotos und Videofilme angeschaut. Gesa meinte, so könnte ich mir am ehesten ein Bild von ihrer Tochter machen – und vielleicht einen Hinweis auf die Tatumstände entdecken. Für nachfolgende Forschungen. Es waren auch Bilder und Filme aus drei Familienurlauben darunter, doch fiel mir nichts Ungewöhnliches auf, was meine Frage

»Warum Annabelle?«

auch nur annähernd hätte klären können. Während Markus in dieser Zeit immer noch recht still blieb, kommentierte Gesa die Bilder und auch die Filme, zum Teil recht ausführlich. Insofern diente die Sichtung auf jeden Fall der Bewältigung des schrecklichen Ereignisses. Auch wenn ich direkt keinen Nutzen, sprich Hinweis auf den Täter, daraus ziehen konnte, wurde mir ein lebendiger und nachhaltiger Eindruck vermittelt. Annabelle war ein lebenslustiges, aufgewecktes, hübsches Mädchen mit großen, dunklen Augen, die oft recht neugierig in die Kamera blickten. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und auch im großen Familienkreis sehr beliebt. Markus war zugezogen, er kam ursprünglich aus dem Rheinland, wo auch noch seine Eltern und Geschwister lebten, Gesa hingegen war gewissermaßen eine Einheimische, ihre Eltern und ihre Schwester lebten ganz in der Nähe von Freiburg. Ich verabschiedete mich wie von zwei Freunden, die ich bereits lange kannte.