Buch lesen: «Romy spielt sich frei»
Während der Arbeit an Sissi. 1955. Drehpause einer „Kaiserin“.
Im Jahr 2008 traf ich im sächsischen Zwickau bei der Präsentation meiner Romy-Schneider-Biografie eine Frau, die sich mit „Ich bin eine Kollegin von Romy“ vorstellte. Auf Nachfrage erklärte sie mir: „Ich habe auch ein Kind verloren.“ Ihr und allen anderen „Kolleginnen und Kollegen von Romy“ sei dieses Buch zugeeignet.
Günter Krenn
Der Anfang vom Ende
Rosa
Wanderjahre im 19. Jahrhundert
Eine Dynastie entsteht
Ihre Vorbilder: Clara Schumann und Josef Kainz
Ihr Mann: Karl Walter Albach
Ihr Titel: Hofschauspielerin
Ihr Sohn: Wolfgang Helmuth Walter
Magda
Vom Büro zur Bühne
Von der Bühne ins Studio
Filmstar(s) im Dritten Reich
Zwischen Selbstkritik und Eigenlob
23. September 1938: Romy wird geboren
12. März 1945: Die Stunde null
Das Imperium schlägt zu
Romy
Von der Schule ins Studio
Am Weg zum Klischee
Die dreiteilige Kaiserin
Mit Alain Delon in die Freiheit
Die Hofschauspielerin tritt ab
Der alternde Wolf bleibt
Die Stiefmutter im Hintergrund
Als Star zur Hölle und zurück
Gentleman Harald Meyen und Sohn David treten auf
Der Vater geht
Comeback mit Alain und das liebe Geld
Ihre wilden 1970er und Daniel Biasini
Aus dem Alltag einer alten Dame: Rosa
Die dunklen Jahre einer Dynastie
Trauerjahre einer Schauspielerin
Das Ende
Nach Romy
Die ewige Mutter!
Die ewige Tochter?
Die Zeiten ändern sich …
Anmerkungen
Dank
Bildnachweis
Impressum
Mit Ernst Marischka am Set zu Sissi II. 1956. Noch isst Romy ihrem Regisseur aus der Hand.
Szene aus L’Enfer. 1964. Sieben Jahre nach dem letzten Sissi-Film: Eine neue Schauspielerin „entsteht“.
Mit ihrer Tochter Sarah Biasini. 1981. Ein Schnappschuss, wie er scheinbar nur dem Fotografen Robert Lebeck gelingen konnte.
Es ist etwas Eigenartiges um unsere Erinnerungen […] Selten kommen sie, wenn man sie haben will, wenn man sie herbeigesehnt. Meistens schlagen sie wie Blitze in unsere Gedanken ein, wecken Gefühle, die uns einmal sehr glücklich oder traurig gemacht haben. […] Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, stelle ich mir das Leben als riesiges Kaleidoskop vor, das man nur ein bisschen schütteln muss, und schon purzeln die Erinnerungsbilder kunterbunt durcheinander. Es ist ein Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit. Zwischen Wehmut und Glück. Zwischen Resignation und Faszination.
Rosa Albach-Retty, 1978
Ich träume oft von Romy. Ich rede jeden Tag mit ihr. Sie ist für mich nicht tot. Sie ist da. Ich warte manchmal sogar auf ihren nächsten Anruf. Da wir nicht zusammenlebten, hat sich für mich nichts geändert. Gleich wird sie anrufen […] so, wie es immer war.
Magda Schneider, 1990
Es gibt nur ein Leben, und ich will es leben.
Romy Schneider, 1977
Die Einzige, die mich unter Druck setzt, bin ich selber. Ich versuche, stets mein Bestes zu geben. […] Wenn man mich mit meiner Mutter vergleicht, heißt das ja auch, dass sie in den Herzen und Gedanken der Menschen noch immer lebendig ist.
Sarah Biasini, 2021
Rosa Albach-Retty. 1979. Wenn ihr etwas schwerfällt, kann sie seit 1974 sagen: „Man ist ja keine 100 mehr …“
Es hat jede Affär’ ihren Hintergrund, ihr Milieu: Die Kulissen stimmen unsagbar gut zu dem, was gespielt wird.
Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, 1951
Der Anfang vom Ende
Sie wird nicht zur Beerdigung ihrer Großmutter gehen.
Romy Schneiders Flugticket von Paris nach Wien ist erst für ein paar Tage nach dem Ereignis gebucht, damit sie allein am Grab Abschied nehmen kann. Ihre Anwesenheit beim Festakt, das weiß sie, würde zu viele Paparazzi anlocken, die sich weniger für ihre Anteilnahme als für ihr nahezu öffentliches Privatleben interessieren und damit Romy und nicht Rosa zum Zentrum des Anlasses machen: „Ich will nicht im Mittelpunkt dieser Trauerfeier stehen, die durch mein Erscheinen ihre eigentliche Bedeutung verlieren würde. Das hätte Großmama nun wirklich nicht verdient.“1 Erst ein Jahr zuvor war das Begräbnis ihres Exmannes nach dessen Selbstmord ein willkommener Anlass dafür, Jagd auf Fotos der trauernden Romy zu machen. Die Augen hinter großen Sonnenbrillen nur notdürftig verborgen, sich an einer Zigarette und ihrem Handgepäck festhaltend, navigiert sie sich wie per Autopilot gesteuert durch ein auf sie eröffnetes Blitzlichtgewitter. Mit ihren verweinten Augen lässt sich mittlerweile gutes Geld verdienen – und der Höhepunkt dieser Konjunktur, ihr Horrorjahr 1981, steht noch bevor. Beruflich befindet sich Romy Schneider in jener Zeit zwischen zwei Filmarbeiten und kurz vor einem körperlichen Zusammenbruch, ausgelöst durch zu viel Arbeit und eine ungesunde Kombination aus Alkohol und Medikamenten.
Beerdigungen machen ihr Angst, wie das bei den meisten Menschen der Fall ist. Beerdigungen zwingen dazu, Bilanz zu ziehen. Man sieht sich ungewollt mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert und muss lernen, damit umzugehen, dass man einen anderen Menschen nie wieder sehen wird. Das Ereignis bedingt ein Familientreffen, so freiwillig oder erzwungen wie bei anderen großen, unvermeidlichen Anlässen. Die Verwandtschaft demonstriert Geschlossenheit, Verbundenheit. Die geweinten Tränen sind zumeist echt, die gesprochenen Worte salbungsvoll, würdigend und pathetisch. Die Hinterbliebenen können heimlich Rechenspiele veranstalten, wer von ihnen der oder die Nächste sein könnte, je nach statistischer Wahrscheinlichkeit oder Gutdünken.
Begräbnisse bringen auch mit sich, dass sich eine Familie wieder mit sich selbst beschäftigt, sich Fragen stellt, wer der oder die Verstorbene war, wer man selbst ist. Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich einer bestimmten Familie zu nähern. Besonders schmerzhaft sind solche Abschiede bei Menschen, die in jungen Jahren aus dem Leben gerissen werden – und die Leserschaft wird im Laufe dieser Geschichte an einige, allzu früh ausgehobene Gräber geführt werden. In diesem Falle, wir schreiben Mittwoch, den 3. September 1980, kann man in den zahlreichen Nachrufen auf die Verstorbene jedoch vom stolzen Alter von 105 Jahren lesen. Ort der Handlung ist die Ehrengrab-Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs, die, an der von der Kirche zum heiligen Karl Borromäus abgehenden Hauptallee angesiedelt, eher einem Freilichtmuseum denn einer Nekropole gleicht. Der größte Friedhof Österreichs scheint zu wissen, was er der Fremdenverkehrswirtschaft schuldig ist. Zahlreiche Touristinnen und Touristen besichtigen die dort aufgestellten steinernen Visitenkarten für die Ewigkeit, fotografieren die Ruhestätten gefeierter Musiker wie Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Johann Strauß, Hugo Wolf, Arnold Schönberg, aber auch von bekannten Schauspielern wie Hans Moser, Theo Lingen, Werner Krauss, Albin Skoda, dem Regisseur Georg Wilhelm Pabst. Die heute zu Grabe Getragene ist demnach prominent, viele der deswegen Anwesenden tragen ebenfalls bekannte Namen.
Im Vordergrund Trude Marlen, Magda Schneider und Wolfdieter Albach bei Rosas Begräbnis auf dem Wiener Zentralfriedhof. 3. 9. 1980. Die Grande Dame einer Schauspieldynastie ist nicht mehr.
„Tempus fugit – Die Zeit flieht“, das könnten aufmerksame Betrachter anstelle von Ziffern als Buchstabenfolge an der Uhr der berühmten Jugendstilkirche im Hintergrund der Begräbnisszene ablesen, und doch scheint sich Romy Schneiders Großmutter, wegen der man sich heute hier eingefunden hat, dieser Tatsache lange erfolgreich widersetzt zu haben. „Meine Großmutter hat noch mit 80 Theater gespielt. Ich möchte nicht so wie sie arbeiten und auch nicht 105 Jahre alt werden“2, wünscht sich Romy zwei Jahre später in ihrem letzten Interview, das bereits postum erscheint. Die verstorbene Greisin hieß Rosa Albach-Retty, war Burgschauspielerin, bis 1918 sogar k. u. k. Hofschauspielerin. Ihr biblisches Alter brachte es mit sich, dass sie nicht nur Kolleginnen und Kollegen, sondern schon manchem Familienmitglied ins Grab hinterher blicken musste. „Mit der habe ich noch gespielt“, das wird ebenso im Laufe der Jahre zu einer Phrase ihrer Erzählungen wie die erstaunte Feststellung, sie überlebt zu haben. „Am Ende ihres Lebens“, erzählt ihre Urenkelin Patrizia Albach über Rosa, „hat sie immer wieder zu meinem Vater, der Arzt ist, gemeint, 105 Jahre seien genug. Sie sei allein, alle ihre Bekannten und Freunde tot, ob er ihr nicht etwas geben könne, damit es schneller geht […] Das hat ihn einerseits belastet, andererseits konnte er sie mit seinem Humor wieder umstimmen.“3 Rosas Argumente zu entkräften ist freilich unmöglich. Ihr Mann starb 1952, ihr einziger Sohn, Wolf Albach-Retty, Romys geliebter Vater, 1967. Nur sie selbst ging aufrecht, diszipliniert und fast unverwundbar anmutend durch die sich unbarmherzig wandelnde und letztlich doch entfliehende Zeit. Ihre Villa in Wien hat sie schon vor Längerem aufgegeben, sie lebt seit Jahren in einem Künstlerheim in Baden. Die nur wenige Kilometer entfernte Bundeshauptstadt scheint ihr seither so fern wie New York.
Ihre Eltern sind schon lange tot, haben nur die Anfänge der außergewöhnlichen Dynastie erlebt, die sie mitbegründet haben. Dennoch ist der nun Verblichenen ihre Mutter vor fast sechs Jahren erschienen: an ihrem 100. Geburtstag am 26. Dezember 1974. Eine Szene, die sich in ihrer Kindheit abgespielt hat, kommt ihr an diesem Tag plötzlich in den Sinn. Gegen die ihr aufgezwungene Zucht und Ordnung rebellierend, fläzte sie sich als Dreizehnjährige neben ihren Vater mit übergeschlagenen Beinen zuhause in einen Sessel. Das war zu jener Zeit eine für ein wohlerzogenes Mädchen verbotene Haltung, denn eine Dame saß mit geradem Rücken an der Stuhlkante, winkelte ihre Beine schräg zur Seite ab, wobei Knie und Knöchel stets schicklich beieinander blieben. Die dazukommende Mutter herrscht ihr Kind daher an, sich nicht so „unanständig“ zu benehmen – die Jugendliche befolgt pikiert die Anordnung. Aus unbegreiflichen Gründen steht der Hundertjährigen die lang zurückliegende, fast vergessene Begebenheit an diesem düsteren Wintertag wieder vor Augen. Vielleicht weil sie den Anblick ihrer früh verstorbenen Mutter auf deren Totenbett im Jahr 1898 für immer als eine sie traurig stimmende Erinnerung in sich trägt, mit ihm alles verloren schien, was an ihrer Kindheit schön, heiter und unbeschwert war. An diesem runden Geburtstag kann sie die Mutter nun wieder deutlich wahrnehmen, spüren, riechen, hören, bittet sie deshalb laut um Verzeihung, streckt eine Hand nach der ihren aus. Jetzt, fast neunzig Jahre später, löst sich alles in Versöhnung auf, nimmt die Mutter die Entschuldigung an, lächelt ihr verständnisvoll und alles Ungemach der Vergangenheit aufhebend aus der Ewigkeit zu. Die Tochter fühlt eine vertraute Hand zärtlich über ihr Haar streichen, so wie damals, in Berlin, im Jahr 1887 …
Rosa
Der Schauspieler soll sich nicht alltäglich machen. Ein gewisser Nimbus echter, weihevoller Künstlerschaft, die unnahbar ist für das Triviale und Gemeine, soll ihn auch im profanen Leben auszeichnen.
Ernst von Possart, Lehrgang des Schauspielers, 1901
Romy in einem Kostüm für Sissi. 1955.
Rosa als Rita in Ludwig Fuldas Talisman am Deutschen Theater in Berlin. 1891. Romy hat ihre Großmutter immer sehr verehrt.
Rosa. 1894. Eine sogenannte Profil-perdu-Ansicht mit vorbildlich aufrechter Körperhaltung, aufgenommen im Atelier Tietze in Bad Elster.
Wanderjahre im 19. Jahrhundert
Die ersten beiden außerfamiliären Menschen, die Rosa in ihren Lebenserinnerungen erwähnt, sind Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke und Otto von Bismarck. Beiden begegnet sie Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin. Und es ist vielleicht für manche ihre künftigen politischen Entscheidungen bezeichnend, dass sie ihr historiografisches Koordinatensystem mit zwei Zentralgestalten der deutschen Reichsgründung von 1871 beginnt. Beide hatten maßgeblichen Anteil an Preußens politischer Vormachtstellung nach den deutschen Einigungskriegen, als Siege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich das Staatsgebiet sowie auch das deutsche Selbstbewusstsein erheblich vergrößerten. „Den großen Moltke“, damals 82 Jahre alt, trifft sie im Alter von acht Jahren, das ist 1882, im Frühling bei einem Spaziergang an der Hand ihrer Mutter im Berliner Tiergarten. Die bleiche, hagere Gestalt in Schwarz, deren Körpergröße ein Zylinderhut, im Volksmund „Angströhre“ genannt, noch nach obenhin verzerrt, muss der Kleinen riesenhaft erschienen sein. Als sie den Blick seiner stahlblauen Augen wohlwollend auf sich fühlt, knickst sie artig, er lobt ihr Aussehen und ihre Manieren, lüftet den Zylinder und fragt nach ihrem Namen, den sie ihm verrät: Rosa Retty. Dafür erntet sie von ihm den mit einer metallisch schnarrenden Stimme gesprochenen Kommentar: „Rosa. Das passt zu dir!“1 Die obligatorisch folgende Frage, ob sie denn auch ein braves Kind sei, wird von der Mutter bejaht, worauf der Feldmarschall beiden Damen noch einmal seine Höflichkeit offeriert und Rosa mit dem Auftrag verlässt, dass es so bleiben möge.
Das zweite und letzte Treffen mit dem als „der große Schweiger“ Apostrophierten findet im Jahr 1890 im Rahmen eines Empfangs im Palais des Grafen Dönhoff statt, bei dessen Buffet Rosa, inzwischen 16 Jahre alt, mit den Töchtern des Hauses gerade eine Tasse Tee trinkt. Der mittlerweile 90-jährige Moltke, ein Freund der Familie, kommt aus dem Salon, wo er in einer Herrenrunde Whist gespielt hat. Er fragt sie nach ihrer Herkunft, ist froh, dass sie behütet aufwächst, und erzählt ihr von seiner entbehrungsreichen Jugendzeit in der Landkadetten-Akademie in Kopenhagen. Als besondere Leistung seinerseits führt er keine politischen Taten an, sondern den Bau von Brücken und Wasserleitungen an den Dardanellen, die er neben den Befestigungsanlagen dort entworfen hat. Die pompösen Trauerbekundungen nach Moltkes Tod im April 1891 sind die ersten, die Rosa im Gedächtnis bleiben, die ostentative Theatralik daran beeindruckt die Schauspielerin: Schwarze Stoffe verhängen die Gaslaternen der Prachtstraße Unter den Linden, sogar der Leierkastenmann am Oranienplatz im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ändert sein Repertoire und besingt den „Heldengreis“, der die Einheit Deutschlands garantierte.
Den zweiten, für diese Epoche wichtigen Mann lernt Rosa ebenfalls im Palais Dönhoff in der Wilhelmstraße 63 kennen: Reichskanzler Otto von Bismarck, den sie im Vergleich zu Moltke als größer und dicker beschreibt, mit milchweißem, fast mädchenhaftem Teint und einer sehr hohen Stimme. Rosa, die später am Theater und beim Film erlebt, wie man dort Geschichte umgestaltet, wird feststellen, dass man den Reichskanzler im Film zwar äußerlich nachahmt, ihm aber ein sonores, männliches Timbre zuerkennt, denn: „Kein Regisseur hätte es damals gewagt, den ‚Eisernen Kanzler‘ im Falsett reden zu lassen.“2 Rosa gegenüber ist Bismarck Kavalier, würdigt ihre darstellerischen Fähigkeiten auf der Bühne, streicht sich dabei Erdbeermarmelade aufs Brot und trinkt genießerisch stark gesüßten Tee. Es macht Rosa ebenso stolz wie verlegen, dass der Kanzler sie zum Abschluss mit seinem Lorgnon wie ein naturkundliches Exponat inspiziert und, nachdem er die Stehbrille wieder abgenommen hat, charmant ihren zweifellos auf Fleiß basierenden Erfolg lobt. In dem Film Mädchen in Uniform wird Rosas Enkelin Romy im Jahr 1958, klein und eingeschüchtert wirkend, vor einem imposant an die Wand hinter ihr gepinseltem Zitat Bismarcks posieren: „Der Mensch ist nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um seine Pflicht zu tun.“
Berlin erlebt Ende des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Am 18. Januar 1871 wird es zur Reichshauptstadt proklamiert, die in den Kriegen eroberten Gebiete sowie die hohen Reparationszahlungen durch Frankreich ermöglichten eine Potenzierung der industriellen Kapazität und damit ökonomische Prosperität, weshalb sich die neue Metropole ständig vergrößert. Hatte die Stadt 1850 nur 300.000 Einwohner, sind es 1877 rund eine Million, die sich bis 1905 sogar noch verdoppelt. Die neue Hauptstadt wird zunehmend modernisiert, erhält eine effiziente Kanalisationsanlage, elektrische Straßenbeleuchtung und ein Telefonsystem.
Rosa Retty geht mit offenen Augen und gespitzten Ohren durch diese Zeit, sieht die Entwicklung des Kurfürstendamms von einem unwegsamen Karrenweg, bei dem man bei einem Spaziergang noch im Schlamm stecken bleiben konnte, zu einer Promenaden-Allee, hört, dass man im Juni 1884 die Fundamente für das Reichstagsgebäude aushebt. Sie erlebt den Verkehr einer modernen Stadt, wie sie ihn bislang nie kannte, hört bis in die Nacht hinein die Geräusche der Trillerpfeife des Kondukteurs in der von Pferden gezogenen Straßenbahn. Autos sieht man noch keine auf den Straßen, hier fahren Kutschen. Ein- und Zweispänner, die „Kremser“ mit einem von vier Eisenstangen getragenen Planen-Dach. Rosa sieht aber auch weniger luxuriöse Modelle, darunter die „Auswandererwagen“, die vom Schlesischen zum Anhalter Bahnhof fahren, oder Leichenwägen vierter Klasse, die nur bei Dunkelheit unterwegs sind, um ihre mit einer Decke kuvertierte Fracht in billigem Holz zu transportieren. In einem noblen Zweispänner begegnet ihr eines Mittags der 1871 inthronisierte Kaiser Wilhelm I. Da ihn andere Passanten ebenfalls erkennen, fährt der Monarch bald grüßend durch ein ihm zujubelndes Spalier. Rosa erweist ihm ihre Reverenz, wie sie es auch künftig mit Autoritäten halten wird.
Rosa Retty wird zwar eine begeisterte Berlinerin, doch ihre Geschichte beginnt in einer anderen, vierhundert Kilometer weit entfernten deutschen Stadt. Geboren wird sie als Rosa Clara Franziska Helene Retty am 26. Dezember 1874 im hessischen Hanau, wo ihre Eltern zu jener Zeit am Theater engagiert waren. „Im selben Jahr wie Hofmannsthal, zwei Jahre nach Grillparzers Tod“, stellt Hilde Spiel in ihrem Porträt Rosas 105 Jahre später fest.3 Ihr Vater Rudolf Wilhelm Albert Retty kommt 28 Jahre vor ihr am 20. Februar 1846 in Lübeck zur Welt, weil auch seine Eltern Schauspieler und dort im Engagement sind. Er ist 1874 ein vielbeschäftigter Bühnendarsteller, dessen Bariton im Sprech- wie im Musiktheater bis hin zu Opernrollen eingesetzt wird. An den Wochenenden schreibt er Feuilletons für Zeitungen und bearbeitet Stücke, um sie für Inszenierungen vorzubereiten, denn auch als Regisseur, eine erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende und „Spielleiter“ genannte Profession, bewährt er sich. Seine Tochter wird sein Können später mit einem Begriff umschreiben, der zu jener Zeit noch gar nicht erfunden ist: „Allroundtalent“. Als Basislektüre schwört Rudolf Retty auf Ernst von Possarts 1901 erschienenen Lehrgang des Schauspielers, das auch für seine Tochter zu einer wichtigen Anleitung für ihren Beruf wird. In Rosas Erinnerung ist der Vater ein Romantiker, bevorzugt bei der Wohnungssuche Innenstadtatmosphäre, logiert wenn möglich in alten Barockhäusern in Kirchennähe. Vielleicht leitet ihn als Wanderschauspieler dabei die Sehnsucht nach bürgerlicher Atmosphäre im Stadtzentrum, als sei er ein alteingesessener Citoyen. Die Tochter genießt die gemeinsamen Ausflüge an Nachmittagen, seine Erklärungen zu Flora und Fauna. Was sie von ihm lernt, ist vor allem, mit wenig zufrieden zu sein, seine Maxime lautet: „Je weniger du vom Leben verlangst, desto mehr gibt es dir!“4
Rosas Mutter, Maria Catharina Retty, geborene Schaefer, ist 1874 ebenfalls als Schauspielerin in Hanau engagiert. Sie ist ausgebildete Opernsängerin, singt jedoch nach der Geburt ihrer Tochter mit ihrem Koloratursopran nur mehr für diese. Rosas Lieblingsspeise ist Danziger Kaffeebrot und ihr Essverhalten irritiert die Familie. Schon als Kind isst sie lieber die dick mit Butter bestrichene Brotrinde und lässt das Innere übrig, sehr zum Ärger ihrer Mutter. Diese ist fleißig, führt detaillierte, in Wachstuch gehüllte, blau karierte Haushaltsbücher, um das Familienbudget sparsam zu verwalten. Ihre Kochkunst schließt neben der gutbürgerlichen deutschen auch die niederländische Küche ein, denn ihre Mutter Catharina van Meerten stammt aus Lommel im Brabant, weshalb Fleisch und Wurst im Hause Retty meist mit scharfem Senf gewürzt werden.
In Rosas Erinnerung hat sich die Mutter ihre Schönheit ihr ganzes kurzes Leben lang bewahrt: große, dunkle Augen in einem anmutigen Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen, ausgestattet mit einer guten Figur. Ihren das Gegenüber fixierenden Blick verdankt sie einem Trachom, einer bakteriellen Augenentzündung, an der sie in ihrer Jugend leidet, erst nach ein paar kostspieligen Operationen und längerer Nachbehandlung kann die Gefahr einer Erblindung abgewehrt werden. Jahrelang muss die Tochter danach der Mutter Wimpern mit einer Pinzette auszupfen, weil die ruhige Hand des Kindes ihr einen teuren Arztbesuch erspart.
Von ihrem Vater erhält „Roselchen“ mit sechs Jahren eines der schönsten Geschenke ihres Lebens: einen Kanarienvogel namens Hansi, dessen freizügige Haltung bei zumeist offenem Käfig sich eine Katze zunutze macht und sein Leben auf rüde Art beendet. Rosa lernt dadurch früh unwiederbringlichen Verlust kennen. Die Mutter versteht ihren Schmerz, schafft es unter Wahrung ihrer sparsamen Prinzipien jedoch, der Tochter einen kompletten Satz an Trauerkleidung auszureden – sie kauft ihr nur eine Schürze und eine Halskrause in Schwarz. Als Rosa 1889, nachdem bekannt wird, dass sich der österreichische Thronfolger, Kronprinz Rudolf, in Mayerling erschossen hat, als Vierzehnjährige erneut einen Trauerflor verlangt, weil sie und ihren Freundinnen Fotografien des Adeligen sammeln, wie es spätere Generationen mit denen von Filmstars tun werden, geht dies der Mutter dann doch zu weit. Als Ersatz für Hansi bekommt Rosa einen schwarzen Dackel geschenkt. Und von diesem Zeitpunkt an werden vierbeinige Begleiter aus der Geschichte der Rettys und ihrer Nachfahren nicht mehr wegzudenken sein.
Woran Rosa sich früh gewöhnen muss, sind Ortswechsel. Noch während seiner zweiten Spielzeit in Hanau meldet sich Rudolf Retty am 2. April 1875 mit Ehefrau und Tochter nach Gießen ab. Der Vater nimmt Sommer- und Wintergastspiele an, weshalb Rosa immer wieder die Schule wechseln muss und später die Sesshaftigkeit umso mehr schätzen lernt. Immer wieder weint das Kind, weil es Abschied nehmen muss von Freunden, einer Umgebung, in die es sich eingelebt hat, während das Familiengeschirr, die Bücher und die Kleidung wieder in Reisekoffern verstaut werden. Weil Rosa als Kind an Blutarmut leidet, gastiert ihr Vater im Sommer mit Vorliebe in der Nähe von Kurorten an der Ostsee, darunter in seiner Heimatstadt Lübeck, in Heringsdorf oder Stettin, denn die Ärzte hatten dem Kind zur Kur Meeresluft empfohlen.
Rosa als bereits populäre Schauspielerin. 1890er Jahre. Das Porträt stammt von dem Hof-Fotografen Wilhelm Höffert aus Berlin. Ein Rollenfach springt gleichsam aus dem Bild.
Im Jahr von Rosas Geburt wohnten die Rettys in Hanau am Paradeplatz 17 (heute: Am Freiheitsplatz). Rosas Taufe wird im Taufbuch der evangelisch-lutherischen Johanneskirche am 24. Januar 1875 verzeichnet. Als Paten wurden eingetragen: Clara Maria Johanna Berger verwitwete Retty, die Großmutter des Kindes, sowie die Schauspielerin Helene Katharine Maria Schüle. Seinen Rufnamen erhält der Täufling nach der Schwester seiner Mutter, Rosa Köth. Rosas Großmutter Clara wird als Schauspielerin aus Königsberg mit zwei Kindern bezeichnet. Auch mütterlicherseits gibt es Verbindungen zum Schauspielerberuf. Rosas Großvater Carl Ludwig Schaefer war als Student Mitglied einer fahrenden Schauspieltruppe und lernte bei einem Gastspiel im belgischen Lommel die Tochter des Stadthauptmanns kennen, die um 1813 geborene Catharina Margareta Huberta van Meerten, ein Kind aus einer von dessen fünf Ehen. Da dieser sich weigert, seine Tochter mit einem Schauspieler zu vermählen, fliehen die beiden aus der Stadt – und heiraten ohne seine Einwilligung. Ein frühes Dokument dafür, dass zahlreiche Damen der hier erzählten Familiengeschichte dazu neigen werden, in entscheidenden Phasen ihres Lebens eigene Entscheidungen zu treffen. Wir wissen wenig über Catharina van Meerten, aber wir dürfen bei ähnlich verwegenen Entscheidungen ihrer Nachfahrinnen ihr verständnisvolles Lächeln voraussetzen.
In Homburg kommt schließlich am 24. September 1851 Rosas Mutter zur Welt, die mit 17 Jahren in einer Opernaufführung erstmals Bühnenluft schnuppert und am 30. Oktober 1874 mit 23 Jahren in Frankfurt/Main Rudolf Retty heiratet. Geboren wurde der zwar in Lübeck, seine Vorfahren lebten ebenfalls an der Ostsee, jedoch im Südosten der Halbinsel Samland, in Königsberg. Die Stadt wurde 1946 zusammen mit dem Großteil Ostpreußens der Russischen Sowjetrepublik eingegliedert und in Kaliningrad umbenannt. Große und identitätsstiftende Teile der für unsere Geschichte relevanten historischen Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut. Nur auf kolorierten Lithografien und alten Fotografien hat sich der unprätentiöse Charme der ehemals Königlichen Barockstadt mit ihren im Stil der Backsteingotik erbauten Kirchtürmen erhalten.