Buch lesen: «Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten»
Günter Huth
Der Schoppenfetzerund die Weindorftoten
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben. Von Beruf ist er Rechtspfleger (Fachjurist). Günter Huth ist verheiratet und hat drei Kinder.
Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Kurzerzählungen. In den letzten Jahren hat sich Günter Huth vermehrt dem Genre »Krimi« zugewandt und bereits einige Kriminalerzählungen veröffentlicht. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburgkrimi. Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung
Das Syndikat.
Die Handlung und die handelnden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und rein zufällig.
Günter Huth
Der Schoppenfetzerund die Weindorftoten
Der siebte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann
Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und die Weindorftoten
© Echter Verlag, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltet von Peter Hellmund
E-Book hergestellt und ausgeliefert von Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
Fünfte Auflage 2018 • E-Book ISBN 978-3-429-06398-6
Im Jahre 2007 errichtete eine in der Region Unterfranken weit verbreitete Genossenschaftsbank auf dem Unteren Markt in Würzburg – genau an der Stelle, an der einst das Wohnhaus des bekannten Baumeisters Antonio Petrini gestanden hatte – ein ihrer Meinung nach repräsentatives Bankgebäude. Der ursprüngliche Bau war in der verheerenden Bombennacht des 16. März 1945 zerstört und die Ruine später, bei der Neugestaltung des Unteren Marktes, abgerissen worden.
Der Neubau, FORUM getauft, ist im Sprachgebrauch der Würzburger „das Petrinihaus“ geblieben. Die Errichtung dieses Gebäudes spaltete die Bürger der Stadt in Befürworter und Gegner, die sich ziemlich unversöhnlich gegenüberstanden. Entsprechende Demarkationslinien verliefen quer durch die politischen Parteien, durch den Stadtrat und durch die Stammtische. Bewahrer fochten hier voller Emotionen gegen Erneuerer und umgekehrt. Gleichgültig blieben nur wenige.
Es gab in der Stadt aber nur eine Handvoll Menschen, die die wahren Hintergründe kannten, die zum Bau dieses umstrittenen Gebäudes geführt hatten. Motive, die dem Verfasser dieser Zeilen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wurden. Zum Schutz noch lebender Beteiligter wurden Sachverhalte abgewandelt, agierende Personen völlig anders dargestellt und Tatsachen so verändert, dass Rückschlüsse von den Fantasieprodukten des Verfassers auf tatsächliche Gegebenheiten und Wahrheiten unmöglich sein dürften. Es ist nun die spannende Aufgabe des Lesers, die in dieser Geschichte möglicherweise versteckt en Abgründe menschlichen Verhaltens zu erkennen, ihre Hintergründe zu erforschen und sich dabei eine eigene Meinung zu bilden.
Im Grunde begann die Geschichte des neuen Petrinihauses in einer kalten Winternacht im Jahre 1673 in Würzburg …
Der Mann eilte hastig durch die finsteren Häuserschluchten der Stadt. Die Pelzmütze aus Bisamfell hatte er tief ins Gesicht gezogen, den Mantelumhang eng um seinen schlanken Körper geschlungen. Trotzdem bohrte sich der eisige Wind unangenehm durch jede Masche seiner Kleidung.
Sein Gang war unsicher. Nach dem Besuch bei der alten Zigeunerin hatte er sich in eine der vielen Weinstuben gesetzt, einen Teller Salzfleisch mit reichlich Sauerkraut gegessen und dazu einen Humpen Frankenwein getrunken. Im regen Disput mit einigen Räten der Stadt hatte er die Zeit vergessen und war dadurch wesentlich länger außer Haus geblieben, als er ursprünglich geplant hatte. Das war auch der Grund, warum er keine Laterne mit sich führte. Zudem machten es ihm das schlechte Wetter und sein Alkoholgenuss nicht leicht, seinen Weg durch die finsteren Gassen zu finden.
Der kalte Graupelschauer peitschte ihm ins Gesicht und zwang ihn dazu, seinen Blick auf die schlammige Straße zu senken. Das schwache Kerzenlicht, das durch die Fenster der Häuser auf die Straße fiel, half nur wenig.
Der Winter hatte Würzburg fest in seinen Klauen. Nur wer unbedingt musste, verließ seine Behausung und setzte sich Schnee und Frost aus. Die nasskalte Witterung war für einen Südländer wie ihn ungewohnt und nur schwer zu ertragen.
Schlagartig kamen ihm wieder die Worte der alten Zigeunerin in den Sinn. Vor einigen Tagen waren die Wagen der Sippe vor den Toren der Stadt aufgefahren. Das fahrende Volk lockte die Bürger der Stadt mit allerlei Kunststücken und Vorführungen vor die Stadtmauer. Der Rat hatte der Sippe ein Bleiberecht von einer Woche eingeräumt, dann sollten sie wieder weiterziehen. Den Stadtbütteln war aufgetragen worden, auf die Zigeuner ein wachsames Auge zu werfen. Nach Einbruch der Dunkelheit durfte sich keiner von ihnen mehr innerhalb der Stadtmauern aufhalten. Die Attraktion war eine alte Zigeunerin, die den Menschen die Zukunft voraussagte. Obwohl das Domkapitel heftigen Einspruch gegen die Praktiken dieser Gottlosen erhob, nutzten einige Bürger nach Einbruch der Dunkelheit die Gelegenheit, sich von der alten Zigeunerin die Karten legen zu lassen.
Auch er hatte das Bedürfnis verspürt. Bei aller Religiosität war er ein abergläubiger Mensch. Dass die Aussage der alten Frau aber so erschreckend ausfallen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Vielleicht war das auch der Grund, warum er sich in der Weinstube der berauschenden Wirkung des Weines ausgiebiger hingegeben hatte, als für ihn verträglich war.
Plötzlich rutschte er auf einer vereisten Stelle aus und konnte nur mit Mühe sein Gleichgewicht halten. Es entfuhr ihm ein heftiger Fluch.
„Guten Abend, Meister Petrini“, kam plötzlich und unvermutet eine tiefe Stimme aus der Dunkelheit, „kann ich Ihnen behilflich sein? Soll ich Sie nach Hause begleiten?“
Der Angesprochene blickte erschrocken ins Licht einer Laterne. Im dürftigen Schein konnte er trotz der dichten Graupel den metallischen Schimmer eines Spießes erkennen. Er hatte den Nachtwächter nicht gesehen, der sich nun aus der Dunkelheit eines Hauseinganges löste und einen Schritt nach vorne tat. Sein schwarzer Umhang ließ ihn völlig mit den dunklen Hauswänden verschmelzen.
„Grazie, grazie“, gab der Angesprochene hastig zurück, „alles in Ordnung.“ Seine Stimme war heiser. Schon seit Tagen wurde er von einer Erkältung geplagt.
„Na, dann Gott befohlen und einen gesunden Schlaf“, grüßte der Nachtwächter freundlich und wartete, bis der honorige Gast der Stadt weiter seines Weges ging. Als jener dann um die Ecke der Marienkapelle bog, verlor er ihn aus den Augen. Petrini war einer der angesehensten Bewohner der Stadt und ihm war bekannt, dass die Herren im Rat größten Wert darauf legten, dass es ihm in Würzburg gut ging und er weiterhin gerne in der Stadt blieb. Der Nachtwächter wusste, dass Petrini nur noch wenige Schritte von seinem Haus entfernt war, das er sich am Unteren Markt errichtet hatte. Er musste sich also keine Gedanken machen. Langsam drehte er mit tief ins Gesicht gezogenem Dreispitz weiter seine Runde.
Antonio Petrini, 1621 in Trient geboren und damals 52 Jahre alt, war einer jener italienischen Baumeister, die dem Ruf von Fürsten und kirchlichen Würdenträgern in den Norden gefolgt waren und an der Erneuerung der Befestigungen deutscher Städte mitwirkten beziehungsweise am Bau zahlreicher Kirchen und weltlicher Profanbauten beteiligt waren. Das Schicksal hatte ihn nach Würzburg geführt. Vom Fürstbischof und Rat der Stadt hatte er Aufträge erhalten und sich daher entschlossen, sich in der Domstadt niederzulassen, und sich ein repräsentatives Anwesen gebaut.
Er kratzte sich die Stiefel am Abstreifer ab und betrat sein Haus. Die großzügig gestaltete Eingangshalle war durch mehrere Kerzenleuchter erhellt. Seine Bediensteten, eine Köchin und ein Hausmädchen, wussten, dass ihr Herr es gerne hell hatte.
Walburga, das Mädchen, kam aus der Küche, wo es mit der Köchin zusammengesessen hatte.
Es wünschte einen guten Abend, Petrini erwiderte den Gruß, dann half das Mädchen ihm aus dem Mantel und nahm ihm die Mütze ab.
„Die Köchin hat das Abendessen vorbereitet, Meister Petrini“, sprach es, während dieser zum hölzernen Stiefelknecht ging, um sich von seinem nassen Schuhwerk zu befreien. Er schlüpfte in die bereitstehenden Filzlatschen, dabei winkte er ab. „Ich habe bereits gegessen. Bring mir noch einen Becher vom Roten, ich habe noch zu arbeiten und möchte nicht mehr gestört werden. Du und die Köchin, ihr könnt euch niederlegen.“
Walburga merkte natürlich, dass ihr Herr angetrunken war, sagte aber nichts. Sie nickte, dann entfernte sie sich, um die Kleider zum Trocknen aufzuhängen und den Wunsch Petrinis zu erfüllen.
Der Baumeister betrat sein Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses. Es handelte sich um ein geräumiges Atelier, das mit großen Fenstern und mehreren großflächigen Zeichentischen ausgestattet war. Überall standen Zeichenrollen, diverse Zirkel, Lineale und Stifte herum, die von der Tätigkeit des Hausherrn zeugten.
Petrini näherte sich dem großen Ohrensessel vor dem hohen offenen Kamin, in dem ein hell flackerndes Feuer brannte, das eine wohlige Wärme verbreitete.
Er nickte zufrieden. Auf Walburga war wirklich Verlass. Petrini ließ sich nieder und legte die Beine auf einen lederbezogenen Hocker. Mit einem entspannten Seufzer löste er den Knopf am Bund seiner Hose. Die letzte Stunde des Tages vor dem Kamin genoss er besonders.
Es klopfte an der Tür.
„Avanti“, erwiderte Petrini.
Walburga huschte herein und stellte den Becher mit Wein auf einen kleinen Beistelltisch neben dem Sessel. „Ich wünsche eine gute Nacht“, sagte sie leise und entfernte sich wieder.
Petrini murmelte ein „Grazie“, dann nahm er den Becher in die Hand und trank einen Schluck. Langsam ließ er den Kopf gegen das Polster sinken. Sofort drängten sich die Worte der alten Zigeunerin in seinen Kopf. Er wusste, dass es für einen gläubigen Christen eine Sünde war, sich mit Wahrsagerei zu beschäftigen. Aber dort wo er herkam, war Aberglaube tief in der Bevölkerung verwurzelt, und auch er konnte sich dem nicht entziehen. Immer wieder fand er den Weg zu Kartenl egerinnen und Handl eserinnen. Meistens waren die Auskünfte dieser Frauen verwaschen und wenig konkret gewesen, im Großen und Ganzen jedoch positiv. Die Worte der Alten von heute dagegen hatten ihn sehr beeindruckt. Im bunt bemalten Pferdekarren hatte er ihr gegenübergesessen, während sie ihm die Karten legte. Mit einem leisen Schaudern erinnerte er sich an das Geräusch, das ihre schmutzigen, krallenartigen Fingernägel verursacht hatten, als die Frau auf die Kartenbilder tippte und dabei Unverständliches murmelte.
„Der Herr wird ein hohes Alter erreichen und in Wohlstand leben“, hatte sie nach einiger Zeit erklärt und nach kurzer, wirkungsvoller Pause hinzugefügt: „Wenn der Herr auf sich aufpasst.“ Dann hatte sie eine lange Pause eingelegt und geraume Zeit eine Karte angestarrt, auf der der Tod als Sensenmann dargestellt war. Als Petrini dachte, es würde nichts mehr folgen, fuhr sie mit heiserer Stimme fort: „Hüte dich, Herr! Auf dein Haus werden Feuer und Schwefel fallen und es vernichten.“ Dann war sie verstummt. Petrini hatte nach Einzelheiten gefragt, aber die Alte hatte nur den Kopf geschüttelt und geschwiegen. Schließlich hatte er sie entlohnt und war gegangen.
Wenn er an die heisere Stimme der Alten dachte, lief ihm ein Schauder den Rücken hinunter und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er nahm einen kräftigen Schluck aus dem Becher. Der herbe Wein linderte den galligen Geschmack, den er auf der Zunge spürte.
In dieser Nacht, während das Kaminfeuer langsam herunterbrannte und sich der Becher leerte, fasste Antonio Petrini einen Entschluss. Wer war er denn, dass er sich einem von den Mächten gesponnenen Schicksal wehrlos ergab? Er holte sich mit einem Kienspan Feuer aus der Glut des Kamins, zündete die Kerzen eines Leuchters an und stellte ihn auf einen der Zeichentische. Petrini trank den Becher in einem Zug leer, dann griff er sich einen großen Bogen Zeichenpapier und begann mit einem Kohlestift in großzügigen Linien einen Grobentwurf zu skizzieren. Als Baumeister lag es schließlich an ihm, Räume und Gegebenheiten nach seinem Willen zu schaffen und zu verändern. Warum nicht auch bei seinem eigenen Haus? Antonio Petrini hatte nicht vor, hier zu verbrennen.
In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts
Die beiden Männer mittleren Alters trieben ihre Reitpferde durch eine Hecke. Nun lag das Gelände um die Frankenwarte vor ihnen. Toni Buschwächter, Baureferent der Stadt Würzburg, schlank, hochgewachsen, im klassischen Reiterdress, ritt eine Haflingerstute, während Arnulf Hünnerklein, Direktor der BR Bürger- und Reibeisenbank, untersetzt, mit Halbglatze, in Jeans und mit Westernboots, im Sattel eines Fjordpferdes saß. Die beiden Pferde schnaubten heftig, denn sie hatten gerade eine längere Strecke im Galopp hinter sich.
„Kurze Pause“, schlug Buschwächter vor und zügelte sein Tier. Langsam ließ er sich von der Stute die Zügel aus der Hand ziehen. Sie senkte den Kopf und schnupperte am Gras.
„Gerne“, gab Hünnerklein sichtlich erleichtert zurück. Sein Begleiter war der eindeutig bessere Reiter und saß daher wesentlich lockerer im Sattel.
Der Wallach drehte den Kopf und schnüffelte interessiert am Hals der Stute herum, was diese wiederum mit einem unfreundlichen Wiehern quittierte.
„Typisch Weiber“, kommentierte Buschwächter das Verhalten der Stute und lachte.
Die beiden Reiter glitten aus den Sätteln, banden die Pferde an einem Busch fest und ließen sich auf einer Bank nieder.
„Wir müssen reden“, sagte der Stadtbaurat. „Was ist aus deinen Nachforschungen geworden? Handelt es sich bei dem Dokument wirklich um das, was du vermutet hast? Wir müssen absolut sicher sein, sonst werde ich mich in die Sache nicht reinhängen. Ich riskiere dabei alles!“
„Ich habe mich viele Jahre mit derartigen Urkunden beschäftigt und bin mir hundertprozentig sicher, dass es sich bei dem bewussten Schriftstück um das Originaltestament von Petrini handelt. Das Datum ist der 13. Januar 1674. Die Urkunde enthält so konkrete Angaben, dass meines Erachtens kein Zweifel an ihrer Echtheit besteht.“
„Wie kommt es, dass sie nicht schon lange entdeckt worden ist?“ In der Stimme des anderen schwangen noch immer Zweifel mit.
„Das habe ich mich natürlich auch gefragt und kann es mir nur so erklären, dass das Testament von Anfang an verschollen war. Ausgegraben habe ich es in einem der zahlreichen Archive des Mainfränkischen Museums. Ich möchte nicht wissen, was es dort noch für verborgene Schätze gibt. All dieses Material aufzuarbeiten würde einen erheblichen Aufwand verursachen. Dem Museum fehlen ganz einfach Geld und Personal. Die Museumsleitung ist froh, wenn Hobbyforscher wie ich dort Studien betreiben. Jedenfalls enthält das Dokument konkrete Einzelheiten, die nur von dem Baumeister stammen können.“ Er wechselte das Thema. „In diesem Zusammenhang: Wie weit sind deine Vorbereitungen bezüglich des Grundstücksverkaufs gediehen? Als wir das letzte Mal darüber sprachen, hast du gesagt, dass einige Stadträte Bedenken haben, dort ein Gebäude zu errichten. Du weißt, dass unsere Pläne mit der Errichtung des Hauses stehen und fallen.“
Buschwächter machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mittlerweile ist die Mehrheit davon überzeugt, dass wir das Projekt durchziehen sollten. Wenn die Bank noch ein paar Scheine drauflegt, wird es keine Probleme geben. Die meisten Herrschaften im Rat wollen, dass Kohle in die Kassen kommt.
Die paar ewigen Nörgler, die bei jedem Bauvorhaben befürchten, dass dadurch die Stadt dem Untergang geweiht ist, sind chancenlos in der Minderheit.“
„… und deine Chefin?“
„Die frisst mir aus der Hand … wie diese Stute hier.“ Er lachte. „Da gibt es bestimmt keine Probleme.“
„Ich weiß nicht“, gab der Banker zu bedenken. „Ganz so leicht, wie du das darstellst, ist sie nicht zu handhaben. Wie die Vergangenheit gezeigt hat, kann sie ziemlich starrsinnig sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat.“
„Wirklich, lass das meine Sorge sein. Ich werde das schon managen. Sieh du nur zu, dass der Preis stimmt.“
„Vorstand und Aufsichtsrat meiner Bank sind sich darin einig, dass der Bauplatz dort für uns einfach optimal wäre. Von einer solchen Lage kann man nur träumen. Da greifen die Herrschaften dann auch mal gerne etwas tiefer in die Tasche. Meinst du, die Bürger nehmen es so einfach hin, dass wir ihnen in dieser zentralen Lage einen solchen Bau hinstellen wollen?“ Der andere lachte. „Die Bürger! Die Bürger! Die sind mir ziemlich egal. Die meckern heute und freuen sich morgen über die gleiche Sache. Man kann doch bei der Städtebaupolitik kein Wunschkonzert veranstalten. Lass den Bau erst mal stehen, dann gewöhnen sie sich schon dran. Vergiss du nur nicht, dass wir auch in der anderen Sache Partner sind. Es muss alles absolut diskret ablaufen. Wenn bekannt wird, was der eigentliche Grund für die ganze Baumaßnahme ist, kommen wir in Teufels Küche. Das ist dir ja wohl klar?“
„Ich hänge da mindestens ebenso mit drin wie du. Mach dir keine Sorgen, für Diskretion ist gesorgt und dafür, dass du deinen Anteil abbekommst, auch. Wichtig ist, dass die Männer, die du für gewisse spezielle Arbeiten organisierst, absolut zuverlässig sind.“
Sein Gesprächspartner nickte. „Kein Sorge. Es sind nur drei und die bekommen eine ordentliche Summe Geld. Außerdem werden sie nur so viel erfahren, dass sie die erforderlichen Arbeiten diskret erledigen können. Worum es in Wahrheit geht, brauchen sie nicht zu wissen.“
Der Banker war zufrieden und erhob sich. „Lass uns zurückreiten. Ich habe heute noch einen Termin und möchte nicht zu spät kommen.“
Sie holten ihre Pferde und saßen auf. Wenig später galoppierten beide in vollem Tempo in Richtung Stadt.
Erich Rottmann stolperte über ein am Boden liegendes Kabel und wäre dabei fast gestürzt. Öchsle, sein vierbeiniger Begleiter, der ihn wie immer ohne Leine begleitete, rettete sich mit einem schnellen Sprung zur Seite. Unter einen stürzenden Erich Rottmann zu geraten, der das stolze Kampfgewicht eines gestandenen Mainfranken hatte, wäre mit dem Überrollen durch eine Dampfwalze zu vergleichen gewesen.
Rottmann seinerseits konnte sich gerade noch an der neben ihm gehenden Elvira Stark festhalten, wobei er ungewollt, aber ausgesprochen weich mit dem Gesicht zwischen ihren Brüsten landete.
Der pensionierte Kriminalkommissar und ehemalige Leiter der Würzburger Mordkommission hatte Elvira zufällig in der Domstraße vor dem Grafeneckart, dem Rathaus der Stadt, getroffen. Sie war aus einem Bäckerladen gekommen, in dem sie sich gerade eine Tasse Kaffee und ein Hörnchen gegönnt hatte. Da Erich Rottmann gerade auf dem Weg zur Traditionsweinstube Maulaffenbäck war, in dem der Stammtisch Die Schoppenfetzer beim Frühschoppen tagte, und Elvira sich, wie sie sagte, in einigen Schuhgeschäften umsehen wollte, hatten sie ein Stück Wegs über den Marktplatz gemeinsam.
Elvira erklärte Erich lang und breit, dass sie absolut keine Schuhe mehr zum Anziehen hatte und daher dringend Abhilfe schaffen musste.
Rottmann hatte nur genickt, ging aber auf dieses heikle Thema nicht näher ein. Nach seinen Erfahrungen war das Verhältnis der weiblichen Bewohner dieses Planeten zu ihren Schuhen für Männer genauso wenig zu verstehen wie das Mysterium des Inhalts einer Frauenhandtasche. Beides verminte Gebiete! Höchst konfliktträchtig!
„Entschuldige bitte“, brummelte er verlegen und sorgte, nachdem er sich wieder aufgerappelt hatte, hastig dafür, dass wieder ausreichend sittsamer Abstand zwischen ihm und seiner Jugendfreundin entstand. „Die lassen aber auch alles hier herumliegen.“ Er zupfte seine Lodenjoppe zurecht und überzeugte sich mit einem Handgriff in seine Jackentasche davon, dass seine Pfeife und die dazugehörenden Utensilien nicht herausgefallen waren.
„Um Gottes willen, Erich, du musst dich doch nicht entschuldigen!“ Elvira schenkte ihrem Begleiter ein strahlendes Lächeln. Von ihr aus hätte dieser Moment der Nähe durchaus noch etwas länger dauern können.
Erich Rottmann verdankte diesen heiklen Augenblick den zahlreichen Arbeitertrupps, die schon seit Tagen dabei waren, auf dem Unteren und Oberen Markt die Holzlauben des Würzburger Weindorfs aufzubauen. In wenigen Tagen würde das Weinfest beginnen. Überall lag deshalb Baumaterial herum, war ein Gehämmere, Geschraube und Gebohre. Die Touristen, die vor dem historischen Falkenhaus versuchten, den Worten einer Fremdenführerin zu lauschen, hatten Mühe, deren Ausführungen zu folgen.
„Freust du dich nicht, dass es jetzt endlich losgeht?“, wollte Elvira wissen und zeigte mit einer Geste über den Platz. „Das Wetter scheint auch zu passen. Das wird dieses Jahr sicher toll!“ Sie sah ihren Begleiter mit einem schnellen Seitenblick an. „Ich hoffe natürlich schon, dass wir beide auch mal ein paar Schoppen zusammen trinken.“
Rottmann hüstelte. In der Zwischenzeit hatten sie die Schönbornstraße erreicht. Bis zu Rottmanns Abbiegepunkt ,Maulhardgasse‘ war es nicht mehr weit. Er wurde unruhig, denn Elvira machte noch keinerlei Anstalten, sich zu verabschieden. Wollte sie gar mit in den Maulaffenbäck gehen? Rottmann blickte hoffnungsvoll zur Schaufensterauslage eines Schuhgeschäfts auf der anderen Straßenseite. Aber Elvira dachte offenbar gar nicht mehr an ihren Schuhmangel.
„Wird schon irgendwie klappen“, gab Rottmann zurück. „Wir müssen halt mal sehen, wie wir es terminlich einrichten können …“
„Prima“, sagte sie lächelnd, „dann rufe ich dich an und wir können etwas ausmachen. Ich würde auch für uns reservieren. Ich weiß doch, dass du ein vielbeschäftigter Mensch bist.“ Wieder lächelte sie.
Sie spielte mit ihrer Bemerkung auf die ungewöhnliche Tatsache an, dass Rottmann seit seiner Pensionierung ständig in irgendwelche Kriminalfälle verstrickt wurde. Selbstverständlich konnte nur er diese Fälle lösen. Dummerweise standen sie immer wieder ihren „persönlichen Momenten“, die Elvira mühsam eingefädelt hatte, im Wege.
Dazu muss man wissen, dass sich Elvira Stark und Erich Rottmann schon als junge Menschen kannten … und liebten. Erich aus Gramschatz und Elvira aus Rimpar hatten sich in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit heftig ineinander verliebt und auf ihren Fahrrädern die Umgebung ihrer Heimatdörfer erkundet … und nicht nur diese. Doch irgendwann hatten sie sich aus den Augen verloren. Rottmann war zur Polizei gegangen und hatte dort Karriere gemacht. Elvira ließ ihre Vergangenheit gerne etwas im Dunkeln.
Vor wenigen Jahren hatten sich die beiden dann durch einen Zufall wiedergetroffen, als einer dieser Kriminalfälle den pensionierten Kriminalbeamten Rottmann in den Grafeneckart, das Rathaus der Stadt, führte. Dort hatte Elvira eine Vertrauensstellung als Reinemachefrau auf der Chefetage.
Seitdem sorgte die stramme Fränkin dafür, dass ihr die ehemalige Jugendliebe nicht mehr abhandenkam. Sie hegte die Hoffnung, den mittlerweile notorischen Junggesellen Erich Rottmann erneut erobern zu können. Vergangenes Jahr war sie sogar in die Rosengasse, in seine unmittelbare Nähe, gezogen. Ein Geniestreich, der Erich Rottmann seitdem immer wieder veranlasste, ängstlich nachzusehen, ob auch noch alle Zinnen seiner Junggesellenburg intakt waren.
Elvira merkte natürlich, dass ihr Begleiter leicht unruhig wurde. Sie wusste, dass die Herren vom Stammtisch Die Schoppenfetzer, alles pensionierte Kriminologen und Juristen, weibliche Begleitung ihrer Mitglieder beim Schoppen eher zurückhaltend betrachteten. Sie beschloss, Rottmann endlich aus seiner Zwangslage zu befreien, und verabschiedete sich: „Also, Erich, ich will jetzt mal weiter. Ich rufe dich auf jeden Fall an, gell. Wünsche dir einen schönen Stammtisch!“ Sie beugte sich zu Öchsle herab und streichelte ihm über den Kopf, dann winkte sie und eilte davon.
Erich Rottmann atmete tief durch. Irgendwie hatte er immer das Gefühl, dass ihn diese Frau an der Nase herumführte. Er schüttelte den Kopf und schob den Gedanken beiseite. Der Eingang zur Metzgerei neben dem Maulaffenbäck kam in Sicht- und Geruchsweite. Für Herrn und Hund so etwas wie der Vorhimmel, wenn man den Stammtisch als himmlisches Vergnügen betrachtete. Rottmann versorgte sich reichlich mit den lebensnotwendigen Grundnahrungsmitteln, einer ordentlichen Portion Leberkäs und einer Laugenstange, dann praktizierte er schwungvoll wenige Meter weiter den unzählige Male geübten Einkehrschwenk.
„Hallo, Erich, komm setz dich her“, begrüßte ihn Ron Schneider, wie Rottmann eines der Gründungsmitglieder des Stammt isches, mit einer einladenden Handbewegung, „wir haben dir deinen Platz freigehalten!“
Erich Rottmann winkte in die Runde. Obwohl gerade mal kurz vor elf Uhr, war der Maulaffenbäck schon voll und die Geräuschkulisse entsprechend hoch. Er schob sich auf seinen Stammplatz auf die Bank und legte sein Brotzeitpaket auf die Platte des runden Tisches. Sein Blick ging suchend durch den Gastraum. Er hielt Ausschau nach Anni, der Bedienung. Öchsle ließ sich währenddessen unter der Bank nieder.
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann kam die Gesuchte mit hochrotem Kopf aus dem Nebenzimmer geschossen. Rottmann winkte ihr zu. Sichtlich genervt winkte sie ab und hastete zum Tresen.
„Was ist denn heute mit der Anni los?“, wandte sich Rottmann an seinen Tischnachbarn, den ehemaligen Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Horst Ritter, wie Rottmann Schoppenfetzer der ersten Stunde.
„Vorhin hat sich unangemeldet eine Touristengruppe ins Nebenzimmer reingequetscht. Jetzt ist die Anni am Rotieren. Sie haben aber schon jemanden angerufen, der kommt und aushilft.“
„Ich denke, der Andrang im Maulaffenbäck wird deutlich nachlassen, wenn das Weindorf anfängt“, warf Ron Schneider ein. „Der Wirt hat anklingen lassen, dass er dann vielleicht sogar ein paar Tage zumachen will.“
Zwischenzeitlich hatte es Anni geschafft, Erich Rottmann wortlos einen Teller mit Besteck und seinen gewohnten trockenen Silvaner zukommen zu lassen, Rottmanns berühmtes „kleines Frankengedeck“. Rottmann unterließ wohlweislich jede frotzelnde Bemerkung. Wenn Anni in dieser Stimmung war, glich sie einem Pulverfass mit Lunte, das der geringste Anlass zum Explodieren bringen konnte.
Während Rottmann sich den weihevollen Düften des frischen Leberkäses widmete, diskutierten die übrigen Stammtischmitglieder die Schoppenpreise auf dem Weindorf, die ihrer Meinung nach viel zu hoch waren. Das Thema war sehr emotionsgeladen, die Diskussion verlief aber noch in geordneten Bahnen – bis, ja, bis Horst Ritter eine Frage stellte, die er besser unterlassen hätte: „Was meint ihr, wie das wird, wenn wir im Schatten des FORUMS unsere Schoppen genießen müssen?“ Sekundenlang trat unter den Herren am Tisch Stille ein. „Du redest doch nicht etwa von diesem sogenannten Petrinihaus?“, gab Ron Schneider schließlich zurück.
Rottmann verschluckte sich beinahe, so schnell würgte er den Bissen, den er gerade im Mund hatte, hinunter. „Ist es nötig, dass du jetzt von dieser neuerlichen architektonischen Entgleisung, diesem Klotz am Unteren Markt, anfängst, während ich esse?“ Er nahm einen kräftigen Schluck vom Silvaner, damit er wieder ungehindert sprechen konnte.
„Also, wenn ihr mich fragt, hat das Teil doch einen gewissen Charme. Erinnert mich irgendwie an eine Feldscheune, die man mit Steinriegeln anstatt mit Brettern verblendet hat“, sagte Ritter. „Welche Stadt kann denn schon von sich sagen, dass sie mitten auf dem Marktplatz eine Scheune hat?“
„Ich denke, dass der Architekt eher an eine Justizvollzugsanstalt gedacht hat, als er das teure Stück entwarf. Vergittert mit steinernen Querriegeln …“, wetterte Rottmann laut.
„… damit sich die Banker, die darin hausen müssen, schon mal daran gewöhnen können, wie es ist, wenn man gesiebte Luft atmen muss … falls mal der eine oder andere Schwarzgelder der lieben Kundschaft in Liechtenstein verspekuliert.“ Ron Schneider ließ sein meckerndes Lachen hören.
„Ihr müsst mal in der Nacht hingehen und dann eine Weile ganz still stehen bleiben, dann könnt ihr es hören.“ Horst Ritter sah die Schoppenfetzer mit todernster Miene an.
„Was denn?“, bohrte Rottmann nach, als Ritter keine Anstalten machte weiterzusprechen.
„Na, das rotierende Geräusch, wenn der alte Petrini mit hundert Sachen in seinem Grab herumwirbelt.“ Er grinste.
Die Herren am Stammtisch waren alle keine Bewunderer der neuesten städtebaulichen Errungenschaft Würzburgs, die sich ihrer Meinung nach konsequent und harmonisch in die Reihe der übrigen Bausünden der vergangenen Jahre eingliederte.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Gemüter ob dieses Reizthemas wieder beruhigt hatten. Die braven Schoppenfetzer befanden sich mit ihrer Meinung auf einer Wellenlänge mit zahlreichen Bürgern der Stadt, denen dieser Petriniklotz, wie ihn Rottmann sehr schmeichelnd nannte, ebenfalls ein Dorn im Auge war.
Schließlich glitt das Gespräch nach einiger Zeit wieder in thematisch ruhigeres Fahrwasser und der ordentliche Schoppen im Maulaffenbäck tat ein Übriges, um den schalen Geschmack im Mund der Stammtischbrüder zu vertreiben. Als sich die Runde kurz vor Mitternacht auflöste, hatte man sich für den nächsten Tag, den Tag der Eröffnung des Weindorfes, fest verabredet – ein Höhepunkt im Jahreslauf dieser Stadt und seiner weinbegeisterten Bürger, den sich die Stammtischfreunde aus dem Maulaffenbäck keinesfalls entgehen lassen würden. Dabei konnte keiner der Schoppenfetzer ahnen, unter welch dunklem Stern das diesjährige Weindorf stehen sollte.