Buch lesen: «Der Schoppenfetzer und der Henkerswein»
Günter Huth
Der Schoppenfetzer
und der Henkerswein
Foto: Rico Neitzel – Büro 71a
Günter Huth wurde 1949 in Würzburg geboren und lebt seitdem in seiner Geburtsstadt. Er kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Stadt zu leben.
Er ist Rechtspfleger (Fachjurist), verheiratet, drei Kinder.
Seit 1975 schreibt er in erster Linie Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher aus dem Hunde- und Jagdbereich (ca. 60 Bücher). Außerdem hat er bisher Hunderte Kurzerzählungen veröffentlicht. In den letzten Jahren hat er sich vermehrt dem Genre Krimi zugewandt. 2003 kam ihm die Idee für einen Würzburger Regionalkrimi. „Der Schoppenfetzer“ war geboren.
2013 erschien sein Mainfrankenthriller „Blutiger Spessart“, mit dem er die Simon-Kerner-Reihe eröffnete, mit der er eine völlig neue Facette seines Schaffens als Kriminalautor zeigt. Durch den Erfolg des ersten Bandes ermutigt, brachte er 2014 mit dem Titel „Das letzte Schwurgericht“ den zweiten Band, 2015 mit „Todwald“ den dritten Band, 2016 mit „Die Spur des Wolfes“ den vierten Band und 2017 mit „Spessartblues“ den fünften Band dieser Reihe auf den Markt.
Der Autor ist Mitglied der Kriminalschriftstellervereinigung „Das Syndikat“.
Die Handlung und die handelden Personen dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lenbens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig.
Günter Huth
Der Schoppenfetzer
und der Henkerswein
Der fünfte Fall des Würzburger
Weingenießers Erich Rottmann
Buchverlag
Peter Hellmund
im Echter Verlag
Günter Huth
Der Schoppenfetzer und der Henkerswein
© Echter Verlag, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltet von Peter Hellmund
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
Siebte Auflage 2020
ISBN
978-3-429-05512-7
978-3-429-05100-6 (PDF)
978-3-429-06492-1 (ePub)
WÜRZBURG IN DUNKLER VERGANGENHEIT
Die Nacht des 17. Mai 1558 war für die Jahreszeit ungemütlich kühl und wegen des herrschenden Neumonds extrem finster. Hinzu kam starker Regen, der, von stürmischen Winden getrieben, dem einsamen Mann in den Straßen der Stadt ins Gesicht peitschte. Das Wasser stürzte so dicht vom Himmel, dass die Konturen der Häuser der schlafenden Stadt in verwaschene Schatten verwandelt wurden.
Keine gemütliche Nacht für Barthelmes Hasenzahn, einen Nachtwächter der Bischofsstadt am Main. Mit Hellebarde, Horn und Laterne bewaffnet, den hohen Kragen des dicken Umhangs zum Schutz gegen das eindringende Wasser hochgeschlagen, stapfte er durch die aufgeweichten Gassen und tat seinen Dienst. In regelmäßigem Stundentakt ließ er, während er seine Runden drehte, den Wächterruf erschallen, der den Bürgern in den Häusern einen friedlichen Schlaf bescherte: »Hört, Ihr Leut und lasst Euch sagen…«
Jedes seiner Worte, das von einer Wolke kondensierten Atems begleitet wurde, riss ihm der Wind aber so gierig von den Lippen, dass es schon nach wenigen Metern nur noch schwer zu hören war.
Barthelmes roch beim Einatmen den vertrauten Gestank der mit Fäkalien getränkten Erde. Dieser vermischte sich mit dem Rauch aus den Kaminen der Häuser, deren Feuerstellen mit Holz und Torf geschürt wurden. In diesem Jahr hatten sich die Eisheiligen sehr verspätet, daher waren die Menschen gezwungen, noch immer zu heizen.
Hasenzahn fiel der Gestank nicht auf. Seine Nase war seit der Kindheit an diesen Geruch gewöhnt.
Neben dem Nachtwächter trottete die Gestalt von Greif, seinem treuen vierbeinigen Wegbegleiter. Dieser trug noch immer sein dichtes schwarzes Winterfell, das ihn vor den Unbilden des Wetters schützte. Hin und wieder schüttelte er sich das Fell und erzeugte einen feinen Sprühregen um sich herum. Der große Rüde, der aus der Verbindung einer Hütehündin mit demRüden eines Metzgers stammte, kannte die Runde, die sein Herr in der Nacht mehrfach zurückzulegen hatte, im Schlaf. Entsprechend gleichmütig tappte er nebenher. Greif benötigte keinen Führstrick mehr. Seine Sturm-und-Drang-Zeit lag längst hinter ihm.
Als ihm eine Bö den Regen entgegenpeitschte, drückte er sich dicht an seinen Herrn. Der Rüde hoffte auf eine baldige Pause in der Stube der Brückenwache, wo er seine rheumageplagten Knochen einige Zeit im Schein des warmen Kaminfeuers wärmen konnte.
Der Nachtwächter kannte die Straße vom Dom zur Mainbrücke wie seine Hosentasche, so dass er auch bei eingeschränkter Sicht keine Orientierungsprobleme hatte.
Kurz vor dem Grafeneckart hob Barthel aus alter Gewohnheit den Kopf und versuchte, einen Blick hinauf zur Behausung des Turmwärters zu werfen – zu seinem alten Freund Hubertus Wulfus, genannt Lupus, der Wolf, ein wegen einer Kriegsverletzung ausgemusterter Soldat des Fürstbischofs. Der alte Haudegen von echtem Schrot und Korn, der dort oben seit mehr als zehn Jahren seinen Dienst verrichtete, hatte von seiner hohen Warte normalerweise einen hervorragenden Blick auf die Stadt und die Umgebung. Hubertus war dafür verantwortlich, herannahende Feinde und – was noch wichtiger war – ausbrechende Feuer sofort zu erkennen und Alarm zu schlagen. Nur so konnten sich die Bürger der Stadt vor den gefürchteten Feuersbrünsten schützen, die in vielen Städten, in denen Sommer wie Winter mit offenem Feuer gekocht und geheizt wurde, immer wieder auftraten und diese innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleichmachten. Aber der Regen war heute so dicht, dass Barthel keine Chance hatte, auch nur einen Lichtschein aus dem Türmerzimmer zu erhaschen. Wahrscheinlich hatte sich Lupus einen Humpen Roten eingeschenkt, um die Gicht in den alten Knochen zu vertreiben. Bei dem Gedanken beneidete Barthelmes den alten Kämpen etwas.
Der Nachtwächter musste plötzlich schmunzeln. In der Stadt hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Lupus, als er noch im besten Mannesalter war, dort oben häufiger Besuch von jungen Weibsbildern bekommen hatte. Die hübschen Töchter des Baders sollen regelmäßig die schmale Wendeltreppe emporgestiegen sein.
Barthel nickte bedächtig. Wenn sich die holde Weiblichkeit schon die Mühe gemacht hatte, die zahlreichen Stufen zur Türmerstube zu erklimmen, hatte sie gewiss mehr erwartet als nur die reizvolle Aussicht.
Das war lange her. Barthel wischte sich die Nässe aus dem Gesicht. Mittlerweile war der Wein Lupus’ bester Zeitvertreib.
Der Nachtwächter schüttelte sich, weil ihn plötzlich fröstelte. Alles im Leben war vergänglich. Er wandte sich in Richtung Brücke, wo die warme Stube auf ihn und Greif wartete.
Als sich Herr und Hund dem geschlossenen Tor zur Mainbrücke näherten, erwachte Greif plötzlich aus seinem Gleichmut. Er hob den Kopf, spitzte die Ohren und ließ ein verhaltenes Knurren vernehmen, das tief aus seiner mächtigen Brust kam und schon so manchen Spitzbuben das Fürchten gelehrt hatte.
Barthel blieb stehen, schirmte seine Augen gegen die Regentropfen ab und starrte in die Nacht. Er konnte aber nichts erkennen, was das Verhalten des Rüden ausgelöst haben könnte. Vielleicht war es eine Katze gewesen oder eine der zahlreichen Ratten, die die Stadt bevölkerten.
Unbegründet war seine Vorsicht aber nicht. Erst wenige Wochen zuvor hatte sich in Würzburg eine frevelhafte Bluttat ereignet, die noch immer lähmend wie ein Fluch auf der Stadt und seinen Bürgern lastete. Der Täter war noch nicht gefasst – und wenn, würde ihn eine unbarmherzige Strafe erwarten.
Als der Nachtwächter nichts Verdächtiges feststellen konnte, entspannte er sich wieder. »Greif, lass es gut sein, mein Alter«, brummte er, tätschelte dem Rüden den Kopf und marschierte weiter in Richtung Torwache.
Der Hund wollte sich keineswegs beruhigen. Seine feinen Instinkte, die trotz seines Alters immer noch erheblich besser ausgeprägt waren als die seines Herrn, ließen ihn wachsam bleiben. Jetzt lief er seinem Menschen voraus und gab durch sein Verhalten deutlich zu verstehen, dass er eine Gefahr witterte. Seine Aufmerksamkeit galt der Brücke.
Barthel beachtete ihn nicht weiter, er wollte vor allen Dingen ins Trockene. Bevor er die Wachstube betrat, klopfte er seine schlammigen Stiefel am Eckstein des steinernen Türrahmens gründlich ab. Dann nahm er den schwarzen Dreispitz vom Kopf und schüttelte das Wasser, das sich darin angesammelt hatte, herunter.
In diesem Augenblick machte Greif einen Satz nach vorn in Richtung Tor und begann laut und zornig zu bellen. Verärgert wollte Barthel ihn schon zur Ordnung rufen, da hörte auch er die Geräusche. Sie kamen von der Brücke jenseits des Tores. Der Nachtwächter vernahm ein unregelmäßiges Klopfen. Es klang, als wenn ein Hammer auf Stein trifft. Durch die Regenwand wurde das Hämmern zwar gedämpft, war aber trotzdem deutlich als solches zu erkennen.
Barthel wunderte sich. Wer in Gottes Namen war da bei diesem Wetter mitten in der Nacht am Werk? Gewiss, an der Brücke wurde immer irgendetwas gebaut. Außerdem bedurfte sie regelmäßig der Reparatur, vor allen Dingen, wenn sich im Winter das Eis des Mains gegen die Pfeiler stemmte und der Frost Risse ins Mauerwerk sprengte. Erst vor drei Tagen hatten Steinmetze am zweiten Pfeiler ein Gerüst errichtet, um einen größeren Schaden zu beheben – aber doch nicht in der Nacht und nicht bei diesem Regen!
Der Nachtwächter war für die Brücke eigentlich nicht zuständig. Sein Bezirk lag westlich des Doms und reichte bis hinunter ins Mainviertel. Jetzt aber war sein Misstrauen geweckt. Er ging durch das kleine Seitentor, das im geschlossenen Haupttor für die Nachtwachen offengehalten wurde. Der Waffenknecht, der hier hätte stehen sollen, war jedoch nicht zu sehen. Vielleicht hatte er sich vor den Wassermassen in die Wachstube geflüchtet.
Greif war noch immer aufgeregt. Im schwachen Kerzenlicht der Laterne waren seine steil aufgerichteten Nackenhaare zu erkennen. Barthel trat langsam an die Brüstung und starrte hinunter. Der flackernde Lichtschein von mehreren pechgetränkten Fackeln war nicht zu übersehen. Die Flammen hatten Mühe, gegen die Nässe zu bestehen. Das Licht kam eindeutig vom zweiten Pfeiler.
Barthelmes konnte schemenhaft einen Nachen erkennen, der dort festgemacht hatte. Auf dem Sockel des Pfeilers sah er eine Gruppe von Männern. Einige leuchteten mit den Fackeln, während andere auf dem Gerüst standen und sich am Pfeiler zu schaffen machten. Trotz der Windböen waren ihre rauhen Stimmen zu hören. Wortfetzen schallten zu ihm herüber, die er allerdings nicht verstehen konnte. Dazwischen immer wieder der helle Klang von Metall auf Stein.
Diese nächtliche Szene hatte etwas Bedrohliches. Unwillkürlich warf der Nachtwächter einen Blick hinauf zur Burg. Auch sie war nicht zu erkennen. Dennoch war sich Barthelmes ihrer Gegenwart bewusst. Denn der neue Fürstbischof auf dem Marienberg war für die Bürger als Herrscher noch schwer einzuschätzen.
Vom Fluss her hörte er plötzlich einen lauten Schrei, der kaum als menschlich bezeichnet werden konnte. Es klang eher wie das qualvolle Brüllen eines tödlich verletzten Tieres.
So unverhofft, wie der Schrei begonnen hatte, so abrupt brach er ab. Barthelmes lief es eiskalt über den Rücken. Derartige Schreie hatte er bisher nur in der Folterkammer gehört, wenn Angeklagte einem schmerzhaften Verhör unterzogen wurden. Bis vor einigen Jahren war er für den Rat der Stadt als Büttel tätig gewesen. In dieser Eigenschaft hatte er vielen solcher Verhöre beiwohnen müssen. Er kannte die Schreie der Verzweiflung, des Schmerzes und der Todesangst.
In diesem Augenblick wurde er von hinten angesprochen.
»Barthel, was machst Du hier? Los, komm sofort herein. Du hast auf der Brücke nichts zu suchen!«
Erschrocken drehte sich der Nachtwächter um. Es war Tobias Rotemund, einer der Torwächter, der sich dem Nachtwächter unbemerkt genähert hatte. Greif, der alle Männer der Brückenwache kannte, hatte seinen Herrn nicht gewarnt.
»Was ist denn da unten los?«, fragte Barthelmes und wies in Richtung des Lichtscheins.
»Stell’ keine Fragen, Barthel, das geht Dich nichts an!«, entgegnete der Wächter ungewöhnlich barsch. Sonst war er immer für ein Schwätzchen zu haben. Jetzt aber knurrte er nur grimmig: »Los, komm runter von der Brücke … oder ich muss Dich melden!«
Der Nachtwächter zuckte mit den Schultern. Er wollte keinen Ärger mit den Wachsoldaten. Eine Anzeige beim Rat der Stadt hätte ihn die Arbeit gekostet, auf deren kärglichen Lohn er wahrlich angewiesen war.
Barthel hatte im Grunde genommen Verständnis für die Stimmung des Wächters. Die Soldaten waren ebenso wie die Bürger verunsichert. Über Würzburg lag in diesen schlimmen Tagen ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung.
Der Nachtwächter winkte seinem Hund, dann ging er wortlos durch das Tor zurück. Als er die Wachstube betrat, saßen die beiden anderen Wachsoldaten an einem Tisch am Kamin und würfelten. Ihr Gruß fiel diesmal nicht so kumpelhaft aus wie sonst üblich. Es herrschte eine gedrückte Stimmung.
Barthelmes stellte Hellebarde und Laterne in die Ecke, hängte den nassen Mantel an einen Haken und ließ sich dann ebenfalls ächzend auf einem Hocker nieder.
Die Wachsoldaten boten ihm einen Becher heißen Wein an, der ihm schnell die feuchte Kälte aus den Knochen treiben würde.
Greif hatte es sich in der Zwischenzeit an der Feuerstelle bequem gemacht. Die Wärme tat seinen alten Knochen gut. Sein Fell trocknete dampfend durch die Hitze des Feuers. Die Wachstube roch streng nach Hund, Feuchtigkeit und dem Schweiß der Männer. Aber das störte hier niemanden.
Der Nachtwächter wischte sich über die Lippen. Schweigend schaute er den Männern beim Würfelspiel zu. Er hatte im Laufe seines Lebens gelernt, dass es manchmal besser war, bestimmte Dinge einfach zu ignorieren. Zu viel Neugierde konnte ungesund sein.
Wieder nahm er einen kräftigen Schluck aus dem Becher. Der Wein, der aus den Weinbergen des Maintals stammte, war einfach und sauer, aber es gab reichlich davon, und er war auch für das einfache Volk billig zu haben. Außerdem war er heiß. Das vertrieb die Kälte – und der Alkohol die düsteren Gedanken.
Barthel trank den Becher leer und schenkte sich noch einen zweiten ein. Die Nacht war noch lange nicht um.
WÜRZBURG IN HEUTIGER ZEIT
Der technische Oberamtsrat der Wasser- und Schiffahrtsdirektion, Erwin Braun, betrachtete den Riss im zweiten Pfeiler der Alten Mainbrücke mit gerunzelter Stirn, dann sagte er: »Wahrscheinlich ist er nur oberflächlich. Ich denke, dass das Hochwasser nach dem langen Winter und dem starken Schneefall in einen Haarriss eingedrungen ist. Dann hat es gefroren, und das Eis hat das Mauerwerk weiter aufgesprengt. Es dürfte aber kein Problem sein, den Spalt wieder zu verschließen.«
Der Mann neben ihm wiegte bedenklich den Kopf, zog einen Zollstock aus seiner Hosentasche und schob ihn wortlos in den Spalt hinein. Mit einem kratzenden Geräusch verschwand der Zollstock im Pfeiler, ohne dabei auf Widerstand zu stoßen.
»Das geht ziemlich tief hinein«, stellte Norbert Wegmann, Techniker derselben Behörde, fest. »Beinahe einen halben Meter. Es fühlt sich fast an, als wäre im Pfeiler ein Hohlraum.« Er zog den Zollstock wieder heraus.
Die beiden Männer waren über eine Metallklappe, die vor der Figur des heiligen Kilian im Boden der Alten Mainbrücke eingelassen war, in den zweiten Pfeiler eingestiegen. Dort befand sich ein Raum, der ehemals für technisches Gerät genutzt worden war. Über eine weitere Eisentür kam man von dort wieder ins Freie und konnte über eine Metalltreppe auf den vorgelagerten Eisbrecher des Pfeilers hinabsteigen. So konnten sie den Schaden im alten Gemäuer aus der Nähe begutachten.
Erwin Braun machte ein ernstes Gesicht. »Wenn im Pfeiler wirklich ein bisher unbekannter Hohlraum sein sollte, müssen wir etwas unternehmen. Nicht, dass uns eines Tages der Kilian im Main versinkt.« Die Figur des Frankenapostels befand sich direkt über ihnen.
Wegmann zog eine vieldeutige Grimasse. »Ich schlage vor, wir fordern die technische Abteilung an. Die sollen mal mit einem Endoskop hineinschauen. Nur so können wir feststellen, welches Ausmaß der Hohlraum hat. So wild wird’s schon nicht sein. Wahrscheinlich reicht es, wenn wir Beton hineingießen.«
»Hoffentlich haben Sie Recht«, erwiderte Braun nachdenklich. Er hatte so seine Erfahrungen mit unerwünschten Überraschungen, die in alten Gemäuern stecken konnten.
Wegmann zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. »Vielleicht haben wir Glück, und sie haben einen Einsatztrupp frei.«
Es dauerte nur eine halbe Stunde, dann kam ein Wagen des technischen Dienstes auf die Brücke gefahren. Die Touristen starrten das Fahrzeug neugierig an. Die Einheimischen reagierten meist verärgert, weil auf der Brücke ein Fahrverbot für Kraftfahrzeuge bestand.
»Jetzt müsse die mit ihre stinkende Dreckskarre scho uff die Alte Meebrücke fahr! Zu faul zum Läffe!«, erboste sich ein alter Würzburger, fand aber beim Publikum wenig Verständnis, weil die umstehenden Touristen ihn schlichtweg nicht verstanden.
Sehr schnell hatte sich um die Figur des heiligen Kilian eine Gruppe Neugieriger versammelt, die erstaunt beobachtete, wie die Männer durch die Klappe im Boden der Brücke verschwanden – und wenig später wieder auf dem Eisbrecher auftauchten. Kaum ein Würzburger wusste, dass die Alte Mainbrücke mit einer Anzahl von Kammern und Hohlräumen versehen war.
Einer der Techniker führte den langen Schlauch eines Endoskops in einen hohlen, teleskopähnlichen Stock ein, den er dann in den Spalt schob. »Eigene Entwicklung«, kommentierte er stolz, »weil sich der Schlauch sonst verbiegt.«
Das Gerät war an der Spitze mit einem Objektiv und einer Minileuchte ausgestattet. Am anderen Ende befand sich ein Griff mit integrierter Optik, die sich der Mann nun vor die Augen hielt.
Suchend bewegte der Techniker das Endoskop auf und ab. Plötzlich riss er seinen Kopf in die Höhe und schaute seine Kollegen verwundert an. Ungläubig presste er sein Auge nochmals an das Gerät.
»Das … das gibt es doch nicht!«, stieß er schließlich verdattert hervor.
»Was gibt es nicht?«, wollte Braun wissen. »Ist der Schaden so gravierend? – Jetzt reden Sie schon, Mann, und lassen Sie sich nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!« Braun wurde langsam ungeduldig.
Statt einer Antwort starrte der Techniker nochmals durch das Endoskop, dann reichte er es an Braun weiter. »Schauen Sie selbst! Ich habe das Gefühl, ich sehe schon am hellichten Tag Gespenster!«
Es dauerte einen Augenblick, ehe sich der Beamte mit dem Endoskop zurechtfand. Dann verharrte er lange Zeit in der gleichen Stellung. Schließlich nahm er es langsam vom Auge und reichte es wortlos an Wegmann weiter, der nun seinerseits einen Blick riskierte.
»Verdammt, das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihm. Langsam nahm er das Gerät herunter. Auch er wirkte mit einem Mal betroffen. »Wenn Ihr auch einen Totenschädel gesehen habt, muss ich wenigstens nicht annehmen, dass ich den Verstand verloren habe.«
Braun griff sich das Gerät und schaute erneut hindurch. Wieder bewegte er den Stab in alle Richtungen. »Soweit ich erkennen kann, handelt es sich nicht nur um einen Schädel, sondern um ein ganzes Skelett.«
»Was machen wir jetzt?«, wollte Wegmann wissen und sah seinen Chef ratsuchend an.
Der zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ein solcher Fall ist mir noch nicht untergekommen. Mir ist auch keine Vorschrift bekannt, wie zu verfahren ist, wenn man in einem Brückenpfeiler einen Toten findet.«
»Ich schlage vor, dass wir ganz einfach die Polizei verständigen!« Wegmann versuchte den Fund nüchtern zu betrachten. »Die sind für Mord und Totschlag wohl zuständig.«
Braun sah seinen Mitarbeiter verwundert an. »Wie kommen Sie auf Mord? Können Sie mir verraten, wie ein Mörder einen Menschen in diesen Brückenpfeiler hineinbekommen haben soll? An dieser Stelle des Pfeilers ist sicher seit ein paar hundert Jahren nichts mehr verändert worden! … Aber gut, holen wir die Polizei. Mir fällt im Augenblick auch keine andere Lösung ein. Sollen die sich mit dem Toten herumschlagen. Für uns heißt das jedenfalls, dass hier vorerst nichts verändert werden darf.« Er griff zu seinem Mobiltelefon und wählte die Notrufnummer.
Oben auf der Brücke hatten einige Passanten das Wort »Toter« und »Skelett« aufgeschnappt. Sofort machten diese Worte die Runde und sorgten für ein erregtes Gemurmel.
Wie es der Zufall wollte, war unter den Neugierigen auch Christian Schöpf-Kelle, freier Mitarbeiter der Würzburger MAIN-POSTILLE und immer hungrig nach Sensationen. Er war gerade auf dem Weg zum Brückenbäck gewesen, um dort mit einem Freund zu frühstücken. Dabei war ihm die Menschenansammlung um die Kiliansfigur aufgefallen. Zuerst dachte er, es sei nur eine Gruppe Touristen, bis ihn sein journalistischer Instinkt einen Blick über die Brüstung hatte werfen lassen.
Vergessen war das Frühstück, vergessen der wartende Kumpel. Sein Riecher sagte Schöpf-Kelle, dass hier eine Story schlummerte – und zwar, wie er dem Gerede der herumstehenden Menschen zu entnehmen glaubte, keine alltägliche. Jedenfalls würde er sich keinen Meter von hier entfernen, ehe er nicht wusste, was Sache war. Er hoffte auf eine Story, die für die Redaktion Würzburg Stadt geeignet war. Also eine Geschichte, die mitten hinein ins Zentrum der Aufmerksamkeit mainfränkischer Zeitungsleser zielte. Gut für sein Image!
Es dauerte nur eine knappe Viertelstunde, bis ein ziviler Pkw auf die Brücke rollte und hinter dem Wagen des technischen Dienstes zum Stehen kam. Zwei Männer stiegen aus. Schöpf-Kelle erkannte den älteren der beiden sofort: Sebastian Krämer, Leiter der Würzburger Mordkommission. Sein Puls beschleunigte sich! Wie er Krämer kannte, würde der sich nicht wegen einer Kleinigkeit hierherbemühen.
Krämer schoss einen ärgerlichen Blick auf die Menschenansammlung ab, dann sagte er etwas zu seinem Kollegen, der nur mit den Schultern zuckte.
In dem Augenblick fuhr ein Streifenwagen über das Kopfsteinpflaster der Brücke und stoppte hinter dem Zivilfahrzeug. Zwei Uniformierte stiegen aus.
»Sperren Sie sofort den Tatort ab!«, ordnete der Leiter der Mordkommission an, kaum dass die beiden Streifenpolizisten die Brücke betreten hatten. Dabei machte er eine herrische Handbewegung in Richtung der Menge. »Die Leute haben hier nichts zu suchen! Am besten machen Sie gleich die ganze Brücke dicht. In der nächsten Stunde möchte ich hier keinen Durchgangsverkehr haben!«
Die beiden Beamten waren nicht gerade begeistert, begannen aber dann doch damit, die Schaulustigen freundlich, aber bestimmt von der Brücke zu weisen.
»Wat is dat dann für ’n Fatzke!«, empörte sich ein Tourist, der seine Herkunft aus dem Rheinland nicht verhehlen konnte.
»Das ist der Erste Kriminalhauptkommissar Krämer, der Leiter der Würzburger Mordkommission«, erklärte einer der uniformierten Beamten mit gesenkter Stimme, wobei sein Tonfall nicht unbedingt auf große Hochachtung schließen ließ.
Christian Schöpf-Kelle wartete die Aufforderung der Beamten nicht ab. Er verließ eilig die Brücke und stieg über eine nahe Treppe hinunter zum Mainufer. Von seinem neuen Platz aus hatte er eine wunderbare Sicht auf den Brückenpfeiler. Viel besser als von oben.
Der Schall wurde von der Wasseroberfläche des Flusses so gut getragen, dass er fast jedes Wort verstehen konnte, das die Männer drüben am Pfeiler sprachen. Diskret zog Schöpf-Kelle seine Digitalkamera aus der Umhängetasche. Mit dem Zoom holte er das Geschehen am Brückenpfeiler dicht heran. Unauffällig schoss der Journalist einige Bilder. Man wusste nie, wofür ein paar schnelle Schnappschüsse später gut sein konnten.
Nachdem der Leiter der Mordkommission lange durch das Endoskop geblickt hatte, erklärte er knapp: »Meine Herren, wir müssen den Pfeiler auf jeden Fall aufreißen, damit wir an die Leiche kommen!«
»Sind Sie wahnsinnig?«, fuhr Braun auf. »Wissen Sie, was es bedeutet, diesen Brückenpfeiler zu öffnen? Die gesamte Brücke steht unter Denkmalschutz! Außerdem denke ich, dass das kein Fall für die Mordkommission ist!«, ergänzte er. »Das Skelett ist doch mit Sicherheit uralt!«
»Was Sie denken, interessiert mich nicht! Was fällt Ihnen ein, sich in meine Zuständigkeiten einzumischen?«, schnauzte Krämer zurück. »Da drinnen liegt eine Leiche, deren Todesursache ungeklärt ist. Und für derartige Fälle sind zunächst einmal wir zuständig. Also, machen Sie voran, und sorgen Sie dafür, dass wir an das Skelett herankommen. Wir werden hier alles absperren, damit kein Unbefugter die Stelle betreten kann! Deichler, Sie kümmern sich darum!« Er warf dem zweiten Zivilbeamten einen scharfen Blick zu. Und Braun sah ein, dass er hier im Moment nicht weiterkam.
»Herr Krämer, ich denke, das werden unsere Vorgesetzten entscheiden müssen, wie es hier weitergeht.« Er holte seine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie dem Leiter der Mordkommission. »Für den Fall, dass wir Kontakt aufnehmen müssen.«
Krämer zögerte einen Augenblick, dann verfuhr er ebenso. »Ich werde dem Polizeidirektor und der Staatsanwaltschaft berichten, dann werden wir sehen, wer hier zuständig ist.«
Ohne weiteren Gruß drehte er sich um und kletterte über die Leiter in den Pfeiler, um wenig später wieder auf der Brücke zu stehen. Die anderen folgten ihm.
Krämer ließ einen der Streifenbeamten am Fuße des heiligen Kilian als Wache zurück, dann fuhren die Polizeifahrzeuge von der Brücke. Nun konnte auch der Techniker wegfahren. Der Fußgängerverkehr über die Alte Mainbrücke wurde wieder freigegeben.
Schöpf-Kelle hatte genug gesehen und gehört. Er war sich sicher, dass das Behördengerangel um die Zuständigkeit für den Brückentoten auf jeden Fall bis morgen dauern würde.
In seinem findigen Kopf entwickelte sich ein kühner Plan. Wenn der gelänge, würde ihm das eine hübsche Summe einbringen. Von seinem sprunghaft ansteigenden Bekanntheitsgrad ganz zu schweigen. Allerdings musste er dafür etwas riskieren. Er eilte zu seinem Auto, denn er musste dringend einige Telefonate führen.
Erich Rottmann, ein Mensch, der sonst mit keinerlei Schlafproblemen zu kämpfen hatte, wälzte sich im Bett stöhnend von einer Seite auf die andere. Tags zuvor beim Frühschoppen hatte er den Schmerz nach einem kräftigen Schluck vom kühlen Silvaner zum ersten Mal gespürt. Ganz leicht nur, eigentlich nur die Ahnung eines leichten Ziehens im rechten oberen Backenzahn. In diesem Augenblick leicht zu ignorieren, weil er gleich wieder verschwand.
Als Rottmann, rückblickend, an diesem Morgen in seinen heißen Leberkäs gebissen hatte, der vor ihm auf dem Teller so verlockend geduftet hatte, war aus dem leichten Ziehen ein heftiges Bohren geworden, das sich nachdrücklich ins Bewusstsein drängte. Der pensionierte Leiter der Würzburger Mordkommission hatte sich die Hand an die Wange gehalten und das Gesicht verzogen.
»Schmeckt der Schoppen nicht?« Dr. Ritter, ehemaliger Leiter der Würzburger Staatsanwaltschaft und wie Rottmann Gründungsmitglied des Stammtisches Die Schoppenfetzer, hatte seinen Stammtischbruder besorgt angesehen.
Rottmann hatte den Kopf geschüttelt. »Mein verdammter Backenzahn macht mir Probleme.«
Dr. Ritter hatte sich beruhigt zurückgelehnt. »Du musst halt mal zum Zahnarzt!«
»Was Du nicht sagst«, hatte Rottmann grantelnd erwidert. »Ich wäre doch jetzt glatt zum Tierarzt gegangen.«
Wie auf Kommando hatte sich Öchsle geregt. Er hatte es sich, wie gewöhnlich, unter der Eckbank, direkt unter dem Gesäß seines Herrchens bequem gemacht. Öchsle war wie sein Mensch ein ausgesprochener Leberkäsenthusiast und wartete immer geduldig auf seinen Anteil. Seinen eigentümlichen Namen hatte er Rottmanns Vorliebe für Spätlesen zu verdanken, von denen Öchsle gelegentlich ein paar Tropfen ablecken durfte.
Der Rüde hatte leise gewinselt und dann seinem Menschen auffordernd gegen die Wade gestupst. Rottmann hatte sofort kapiert. Begeistert schmatzend kaute Öchsle den diesmal ausgesprochen großzügig bemessenen Leberkäsanteil, den Rottmann ihm hinuntergereicht hatte. Der Hund hatte ja nicht wissen können, dass er dies dem Umstand zu verdanken hatte, dass seinem Herrchen der Appetit vergangen war.
Natürlich hatte Rottmann nicht bei seiner Zahnärztin angerufen. Stattdessen hatte er sich eingeredet, dass er den Schmerz mit alten Hausmittelchen aus Omas Hexenküche wieder wegbekommen würde. Aber auch das Nelkenöl, das er sich im halbstündlichen Abstand auf den rebellischen Zahn geträufelt hatte, hatte nur vorübergehend geholfen.
Rottmann, zurück in der Gegenwart, richtete sich auf und setzte die Füße auf den Bettvorleger. Ein Blick auf den Wecker zeigte ihm, dass es erst kurz nach Mitternacht war.
Es half alles nichts, er musste eine Schmerztablette nehmen. Er stand auf und ging ins Bad. Öchsle, der gemütlich in seinem Körbchen lag, hob den Kopf und sah seinem Herrchen verschlafen hinterher. Derartige nächtliche Unruhe war er nicht gewohnt.
Rottmann kam aus dem Bad zurück, setzte sich in seinen Sessel und schaltete den Fernseher ein. Bevor er sich wieder hinlegte, wollte er erst die schmerzstillende Wirkung des Medikaments abwarten. Gelangweilt zappte er sich durch die Programme. »Nur Mist!«, brummte er vor sich hin und schaltete das Gerät wieder ab.
Öchsle erhob sich mühsam, trottete zu ihm hinüber, legte seinen Kopf auf Rottmanns Oberschenkel und sah seinen Menschen fragend an.
Erich Rottmann streichelte Öchsles Kopf. »Du kannst nicht schlafen, weil ich hier in der Nacht herumgeistere, was?«
Der Rüde wedelte freudig mit dem Schwanz.
Rottmann gab sich einen Ruck. Er spürte bereits eine leichte Besserung. Eine unerwünschte Nebenwirkung bestand allerdings darin, dass seine Müdigkeit durch das Koffein im Medikament vollkommen verflogen war.