Buch lesen: «Der Ausweg»
Der Ausweg
von
Gundolf S. Freyermuth
FUEGO
Kein Geld, nur die große Liebe und ein Traum: Leben wie ein Rock’n’Roller.
„Der Ausweg“ erzählt von den unmoralischen Abenteuern eines bundesdeutschen Helden: Harry Mann, 38 Jahre alt und ohne Lebensunterhalt, ergreift die Gelegenheit, von der er glaubt, dass es seine letzte ist – ein Mord, zu begehen aus Liebe zu Frau und Geld.
Doch seine Tat hat unerwartete Konsequenzen: Aus dem tristen Berliner Hinterhof-Alltag wird Harry Mann in eine schöne weite Welt aus politischer Korruption, Erpressung und Attentaten katapultiert … Was in Berlin als privates Verbrechen begann, endet in Los Angeles mit einem hochpolitischen Showdown.
Von Mord zu Mord verstärkt sich dabei der Verdacht: Unter allen Beteiligten ist Harry Mann vielleicht sogar der unschuldigste.
Alle in diesem Roman genannten Personen und Ereignisse sind fiktiv. Wenn existierende Orte, eingeführte Markennamen oder bekannte Institutionen des öffentlichen Lebens wie Städte, Hotels, Personenkraftwagen oder politische Parteien erwähnt werden, so ist das notwendiger Bestandteil realistischen Erzählens und bedeutet in keiner Weise, dass die geschilderten, frei erfundenen Ereignisse sich in den genannten Städten, Hotels, Personenkraftwagen oder politischen Parteien je zugetragen hätten. Jede Übereinstimmung mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen wäre daher rein zufällig.
Zur Erstausgabe des Romans schrieb der Spiegel unter dem Titel „Ein Killer für Hollywood“:
„Mit Der Ausweg hat der West-Berliner Literaturwissenschaftler und Reporter Gundolf S. Freyermuth sein Debüt im Thriller-Genre, dem ‚Heldenbusiness’ (Loren D. Estleman), abgeliefert. Ein fulminanter Einstieg: Freyermuths Tiefkühl-Prosa hat die Präzision (und bisweilen auch die Melancholie) von guten Rocktexten, ein Spiel aus brillanten Einsichten und Katerstimmungen, aus Verfolgungsjagden, lausigem Sex in Hollywood-Hotels und Geldpaketen in Hamburger Briefkästen, ja überhaupt Zahlungen und Tauschgeschäften aller Art, denn im kalt gekachelten Alptraum der achtziger Jahre hat alles seinen Preis: Morde, Meinungen, Körper, Liebe.“
Der Spiegel, 28/1989, 10. Juli 1989. Die komplette Rezension findet sich im Internet [Link].
Und in einem Beitrag der Redaktion LeseZeichen des bayerischen Fernsehens hieß es:
„Der Thriller entpuppt sich als Ausweg: als Möglichkeit, einen Gesellschaftsroman zu schreiben.“
Für Angie
Vorwort zur Neuausgabe
“Wir alle suchen ständig nach einem Ausweg. Ich lebe auch lieber in der Welt von Ingmar Bergman oder Louis Armstrong. Die Realität verletzt uns am Ende immer.”
(Woody Allen, 1999)
Bücher wie Nationen und Kulturen haben ihr Schicksal. Als ich meinen Roman begann – vor einem knappen Vierteljahrhundert, in den letzten Monaten der alten Bundesrepublik –, schienen er und ich vom Glück verfolgt.
Die rund 600 000 Anschläge schrieb ich in neun spannenden Monaten der Jahre 1987/88, auf einem Mac SE und im Pendelverkehr zwischen Westberlin, wo ich einige inspirierende Semester an dem Institut lehren durfte, an dem ich in den siebziger Jahren studiert hatte, und im wundersamen Los Angeles, wohin mich der stern regelmäßig als Reporter schickte. Der Ausweg war mein zweites Buch, zudem mein erster Roman. Doch nur mit einem der elf weiteren Bücher, die ich seitdem veröffentlichte, verbinde ich so glückliche Erinnerungen. Vielleicht auch, weil die Frau, der ich das Buch am Ende widmete, immer mit dabei und voller Begeisterung war …
Literarisch fühlte ich mich in dieser Zeit ein wenig als Geheimagent. Denn ich verfolgte eine doppelte Erzählabsicht: Auf den ersten Blick, für die schnelle Lektüre, wollte ich einen spannenden Thriller schreiben. Gute rasante Unterhaltungsliteratur. Darunter aber platzierte ich eine zweite Ebene gewissermaßen augenzwinkernder Anspielungen; einerseits und vor allem auf die damals aktuellen politischen Skandale – von Flick bis Barschel –, über die ich als langjähriger (stern-) Reporter meinte, ein wenig mehr zu wissen, als meinem Gewissen gut tat; andererseits auf die literarische Tradition des realistischen Romans, handele er nun von Kriminalfällen oder schlicht von den „normalen“ – geschäftlichen, erotischen, intellektuellen – Abenteuern, die spätestens an seinem Ende unser Leben ausmachen. In der bürgerlichen Gesellschaft, sagte Brecht einst, sind alle Abenteuer Verbrechen.
Sobald meine Geschichte über die Varianten bundesdeutscher Korruption im Rohentwurf stand, las Hans-Helmut Röhring die wenigen Seiten und war sofort bereit, den Roman zu veröffentlichen. Und kaum hatte ich so den ersten der wenigen liebenswerten und zugleich integren Verleger gefunden, denen ich in meinem literarischen Leben begegnen sollte, platzte dem stern ein geplanter Vorabdruck und Michael Jürgs, der damalige Chefredakteur, bot mir an, den Ausweg in 15 Folgen und Millionenauflage vorab zu veröffentlichen.
Die Hardcover-Edition, die dann im Frühjahr 1989 erschien, startete entsprechend stark. Die Rezensionen waren reichlich und fielen fast ausschließlich positiv aus. Am nachhaltigsten blieben mir zwei im Gedächtnis: die kurze Besprechung, die Matthias Matussek im Spiegel schrieb, und ein Beitrag im Lesezeichen-Magazin des bayerischen Fernsehens. Denn beide trafen exakt meine Absichten.
Matussek schrieb über den Helden des Romans Harry Mann: Er „hat einen Hang zum Grübeln: Er stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Aber er stellt sie sich auf dem Computer, als faszinierende, intellektuelle Programm-Spielerei. In all den Jahren ist ein kühles, unsentimentales Talent in Mann herangereift, von dem niemand, am allerwenigsten er selbst, etwas ahnte: Er hat das Zeug zum Killer.“ Und die Lesezeichen-Redaktion meinte über mich, den Autor: „Der Thriller entpuppt sich als Ausweg: als Möglichkeit, einen Gesellschaftsroman zu schreiben.“
Die Taschenbuchrechte wurden schneller verkauft, als ich darüber nachdenken konnte, welchen der willigen Verlage ich akzeptieren sollte. Obendrein fanden sich wenige Wochen nach Erscheinen ein geneigter TV-Redakteur und ein mutiger Produzent, die aus meinem Erstlingswerk einen TV-Zweiteiler produzieren wollten: Georg Alexander, ein Freund aus Los-Angeles-Tagen, der gerade zum WDR nach Köln zurückgekehrt war, sowie Dr. Norbert Schneider, der Chef der Allianz-Film, den Wolfgang Menge auf mein Buch aufmerksam machte.
Frohgemut begann ich mit der Arbeit am Drehbuch und zugleich auch am zweiten Band. Das Erstlingswerk und sein Autor hätten es nicht besser treffen können. Doch mit diesem typischen Anfängerglück sollte es bald vorbei sein.
In den letzten Monaten des Jahres 1989 brach dann das Unheil in drei Wellen herein; wobei ich die genaue Reihenfolge nicht mehr erinnere. Fiel zuerst die Mauer? Oder wechselte Georg Alexander schon zuvor vom WDR zum ZDF und hinterließ mein TV-Projekt verwaist einem gänzlich desinteressierten Nachfolger? Das fertige und abgenommene Drehbuch zu dem Ausweg-Zweiteiler jedenfalls wanderte in die Schublade, um für immer vergessen zu werden. Lediglich mit Volker Schlöndorff fand es wenig später noch einen einsamen, wenn auch begeisterten Leser …
Der Ausweg, der ja nicht nur für seinen Helden, sondern auch für seinen Autor als Ausbruch gedacht war, mündete so in eine historische Sackgasse. Der Taschenbuchverlag sah das wie der WDR. Er zahlte das vertraglich vereinbarte Honorar, brachte das Buch jedoch nicht mehr heraus.
Mit dem Mauerfall war mein Thriller über Nacht veraltet – seine Grundkonstellation zwischen Ost und West, seine bundesdeutschen und vor allem seine Westberliner Charaktere, ihre Probleme und Sehnsüchte, die angesichts der Aufbruchsstimmung der frühen neunziger Jahre und der monumentalen Widrigkeiten der Integration von Ost und West sekundär, wenn nicht unwichtig schienen.
Dass ich nicht nur einen handlungsgetriebenen Thriller, sondern zugleich einen Gesellschaftsroman geschrieben hatte, die spezifische Kombination von Genre- und realistischem Erzählen – diese Ambition rächte sich nun: Mit der deutsch-deutschen Vereinigung las sich Der Ausweg als Roman einer untergegangenen Partikulargesellschaft, der bundesdeutschen. Deren Konflikte und Verbrechen, Gefühle und Sehnsüchte lagen der neuen gesamtdeutschen Gegenwart einerseits nun zu fern, um noch interessant zu sein, andererseits waren sie ihr noch zu nah, um schon wieder interessant zu werden.
Was glücklich begonnen hatte, war plötzlich verflucht. Das zweite Abenteuer um meinen bundesdeutschen Helden Harry Mann brach ich lieber ab. Sieben Jahre sollten vergehen, bis ich meinen nächsten Roman schrieb – der dann zur Sicherheit nicht mehr in der Gegenwart, sondern in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen spielte, und auch nicht mehr in Deutschland, sondern komplett in Los Angeles.
So historisch allerdings, wie dieser zweite Roman Bogarts Bruder 1996 bei seinem Erscheinen war, ist inzwischen Der Ausweg fast auch geworden: Die Bonner Republik, in der er vor 21 Jahren erschien, ist nicht nur von der Landkarte verschwunden. Ihr Alltag, ihre Lebens- und Denkweisen, ihre Kultur, die Mentalität ihrer Bewohner sind heute, zu Beginn des dritten Jahrzehnts der Berliner Republik, nicht nur den Nachgeborenen kaum weniger fern und fremd als die Lebensweisen, sagen wir, der Weimarer Republik.
Was also um 1990 die Thriller-Handlung des Ausweg so hoffnungslos veraltet erscheinen ließ – dass er eine untergegangene Kultur und historisch obsolete Mentalitäten dokumentierte –, genau das mag heute mit zwei Jahrzehnten Abstand neuen wie alten Lesern heute einen zusätzlichen, vielleicht sogar entscheidenden Anreiz bieten, sich von Harry Manns mörderischen Abenteuern zwischen Westberlin, Bonn und Los Angeles fesseln zu lassen.
I. Transatlantische Mausefalle
In diesem Fall, seinem ersten Mord, verhielt er sich noch sehr stümperhaft, und dass er damit Erfolg haben sollte, jedenfalls für den Anfang, schien allen, die davon erfuhren, ein wahres Wunder.
Die Geschichte begann damit, dass Harry Mann ...
Nein, halt! Zu behaupten, diese Geschichte habe mit Harry Manns Taten oder Untaten begonnen, scheint mir beim besten Willen nicht richtig. Die letzten dramatischen Szenen in einer jahrelangen Kette von ebenso ungesetzlichen wie friedlichen Ereignissen waren es, in die er hineinstolperte und in denen er für kurze Zeit die gewalttätige Hauptrolle spielte: als Irrläufer zwischen den Fronten; viel zu zornig, um nicht gierig zu sein, und viel zu klug, um sich kaufen zu lassen.
Einzig aus seiner Sicht also – aber auf die sind wir angewiesen, solange alle anderen Überlebenden sich verstecken, schweigen oder lügen – begann die Geschichte an einem Freitagabend, dem letzten Freitag im August. Und sie begann in seinem abgedunkelten Berliner Zimmer mit einem leisen elektronischen Piepen.
Das Geräusch der Alarmuhr des Computers ließ Harry Mann zusammenzucken. Er hatte es nicht geschafft, mal wieder nicht geschafft, und heute würde es ihm auch nicht mehr gelingen. Soweit er wusste, ging draußen ein ungewöhnlich freundlicher Tag zu Ende. Mann hatte ihn hinter geschlossenen Jalousien verbracht. Die Sonne störte die flimmrigen Kreise, in denen sich seine Programmierkünste drehten. Er brauchte kein Licht; was er brauchte, war eine gute Idee. Vielleicht auch nur etwas mehr Grips oder etwas mehr Ahnung von dem, was er tat.
Jetzt allerdings hätte ihm selbst eine göttliche Eingebung nicht mehr helfen können. Es war bereits sieben Uhr. Vier, fünf Stunden noch und ein bisschen Glück, vielleicht dann ...
Dank Kellings verfluchter Einladung blieb ihm diese Zeit nicht mehr. In spätestens dreißig Minuten musste er los; frischrasiert und schweradrett.
Harry Mann starrte auf den Bildschirm. Der Alarm, der dort blinkte, faszinierte ihn. Er hatte die Anzeige selbst programmiert; sie war zugleich Stoppuhr, Wecker und Weltzeituhr. Im Halbkreis um die Mitte des Bildschirms leuchteten die Ortszeiten rund um den Erdball: 3 Uhr mittags war es jetzt in Rio de Janeiro, 10 Uhr abends in Teheran, 3 Uhr bereits am nächsten Morgen in Tokio.
Harry Mann trank den letzten Schluck des Campari Soda, den er sich vor Stunden aus der Küche geholt hatte; das Glas enthielt nur noch lauwarmes, geschmolzenes Eiswasser und, wie er zu spät sah, eine tote Eintagsfliege. Er spuckte, was er getrunken hatte, zurück ins Glas und schob es weit von sich.
Natürlich wusste er, aus welch kindischem Grund ihn diese Anzeige, überhaupt die geordneten Pingeligkeiten des kleinen grauen Kastens faszinierten: Weil der vom Computer geforderte Wille zur Präzision und die garantierte Sicherheit, dass nichts in seinem künstlichen Kosmos, aber auch nichts als das Eingegebene geschah, einen wohltuenden Schleier über das Durcheinander, das herrschende Chaos, das Tohuwabohu der wirklichen Welt deckte.
Und weil diese Präzision ein Hort des Widerstands war. Denn dass nichts im Leben lief wie geplant, war eine gewaltige Untertreibung der simplen Wahrheit, dass alles Leben ungeplant verlief.
Versandete; sich erschöpfte in sinnlosen Anstrengungen.
6 Uhr am Samstagmorgen in Neuseeland, 10 Uhr heute, Freitagmorgen in Los Angeles. Dort schien jetzt die Sonne, deren Strahlen hier verblassten. In den achtunddreißig Jahren seines hektisch leerlaufenden Lebens hatte er Europa nie verlassen. Der Gedanke an die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit der Welt verwirrte ihn immer wieder aufs Neue. Gerade noch vorstellen konnte er sich, was die Menschen ein paar Straßen weiter, außerhalb seines Hinterhofghettos, in diesem Augenblick tun mochten.
Er schloss die Augen und sah, wie Rudolf Kelling in einem bescheidenen Reihenhaus draußen in Konradshöhe die Füße auf den Couchtisch gestreckt hatte, ein Glas Bier trank, die Sieben-Uhr-Nachrichten schaute, während seine Frau, wahrscheinlich ein verhuschtes Mäuschen, das sein graues Versandhaus-Kleidchen mit einer verwaschenen Schürze vor Flecken schützte, eifrig um den halb gedeckten eichenen Esstisch wuselte.
Wie sterbenslangweilig, wie bedeutungslos im Vergleich zu all dem, was in diesen selben Minuten überall auf diesem Planeten geschah, zur selben Zeit an einem anderen Ort, in einer Welt, in der die Uhren anders gingen ...
*
Die Luft hier oben in den Bergen war noch frisch wie der Morgen, sauber und klar, und sie roch nach Eukalyptus und Tannenharz, nach tausend Blüten und nach dem kühlen Wasser, mit dem die Beete und die exakt geschnittenen Büsche gerade besprengt worden waren. Der Himmel über dem geweißten Anwesen strahlte knallig blau, und die Sicht von der Terrasse zwischen Haupthaus und Canyon reichte weit hinaus über die Steilwand und die kahlen Täler dahinter bis zu der silbern glänzenden Spiegelfläche des Pazifischen Ozeans, der in zwanzig Meilen Entfernung an die Küste stieß. Es würde ein sonniger Tag werden, ein Tag wie die meisten in diesem Land des ewigen Frühlings.
Der rüstige alte Mann, der an diesem Morgen freiwillig die Aufgaben des Gärtners erledigte, stellte die Sprinkleranlage ab, hob nicht ohne Mühe die volle Gießkanne an und begann, die Blumen vor der dichten Hecke zu gießen, von der die Terrasse gegen die tief abfallende Steilwand des Canyon hin begrenzt wurde.
Mehr Mühe als die ungewohnte Arbeit kostete es ihn, so wenig wie möglich zu dem tiefbraun gebrannten Körper zu starren, der sich auf der Liege bei dem großen Pool sonnte. Das nackte Fleisch war nicht mehr ganz jung, aber soviel jünger als all die Körper, die der Alte seit Jahren berührt hatte. Die langen schlanken Beine, die schmalen Hüften, die kleinen, festen Brüste, all das war unerreichbar für ihn. Nicht die Spur einer Chance hatte er; und auch vor dreißig, vierzig Jahren hätte er nicht die Spur einer Chance gehabt. Nicht er.
Trotzdem beneidete er keinen der Männer, die diesen Körper besitzen durften; keinen der vielen Gockel, die hier in den zehn Jahren, die er das kalifornische Anwesen und seine Eigentümerin bewachte, für ein paar Monate stolz herumgekräht hatten. Wenn er überhaupt jemanden beneidete, dann diese noch halbwegs junge und halbwegs schöne Frau.
„Morgen, Paps“, sagte der Körper, ohne dass der dazugehörige Kopf die Augen geöffnet hätte.
„Guten Morgen, Frau Block.“
Paps wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit seiner Arbeitgeberin vor dem Frühstück und bevor sie ihren Kater überwunden hatte, ein Gespräch zu beginnen. Wenn es anginge, von einer Millionenerbin und erfolgreichen Geschäftsfrau, deren diverser Besitz ihr jeden Tag mehr als eine Million Reingewinn einbrachte, zu behaupten, dass sie faul und nichtsnutzig sei, verkommen und vergnügungssüchtig, undiszipliniert und schlecht erzogen ... Aber so etwas ging eben nicht an; obwohl Paps jede Wette gehalten hätte, dass Friedrich Block, des Teufels Schwiegersohn, Judenfresser-Fritz, der fleißigste Kriegsgewinnler aller Zeiten und Begründer des Blockschen Imperiums, Gott habe ihn selig, genau das von seiner jüngsten Tochter heute denken würde.
Paps leerte die Gießkanne langsam und sorgfältig auf das Beet roter Rosen neben der vor Wind und Sonne geschützten Essecke, die den Canyon wie ein Adlerhorst überragte. Karin Block, für die er jede Art von Drecksarbeit erledigte, zählte zu den zehn reichsten Privatpersonen Deutschlands; das konnte man mit schöner Regelmäßigkeit in den Klatschspalten der Regenbogenpresse nachlesen; und seit kurzem auch in den Leitartikeln gewichtiger Blätter. Millionen hatte sie unter Politiker aller Couleur verteilen lassen. Ihm, dem pensionierten Hauptkommissar, zahlte sie für seine verschwiegenen Dienste achttausend pro Monat. Brutto. Lausige achttausend Dollar. Paps fühlte sich Karin Block nicht zu Dank verpflichtet.
Der alte Mann stellte die Kanne ab, bückte sich leicht stöhnend und pflückte eine der Blumen, wobei er einen dunklen metallenen Gegenstand von der Größe einer Tonbandkassette so in die feuchte Erde drückte, dass er nur noch einen knappen unauffälligen Zentimeter herausragte.
Als er sich wieder aufgerichtet hatte, blickte er Karin Block direkt in die großen dunkelbraunen Augen. Sie hatte sich halb aufgesetzt, so dass ihre langen schwarzen Haare die rechte Brust fast verdeckten, und sah ihn neugierig an. Ihr flacher Bauch warf dazu tiefe Falten, die das Alter der strapazierten Haut verrieten.
„Für Mamma!“ sagte Paps, hielt die Rose linkisch hoch und versuchte, jungenhaft zu lächeln.
„Soviel du willst, Paps“, sagte Karin Block. Sie legte sich wieder zurück und spreizte wohlig die Beine.
Paps nahm die Gießkanne und trug sie zu dem Verschlag hinter den dichten mannshohen Fliederbüschen, die die erhöhte Terrasse von dem tiefer liegenden Park trennt. Als er die Tür wieder geschlossen hatte, wagte er einen letzten langen Blick zurück auf Karin Blocks nackten Körper und schlurfte dann hinüber zu dem Dienstbotengebäude.
*
Vor Harry Manns Augen blinkten die Zahlen der Dutzend verschiedenen Zeitanzeigen auf dem Computerschirm. Wieder waren zehn Minuten vergangen. 600 Sekunden. Den erstaunlichen Umstand, dass soviel passierte und nichts davon in seinem Leben, konnte er mit Hilfe dieses kleinen grauen Kastens immerhin auf einen simplen Nenner bringen: „DateItem“.
Jedes Zeitbruchstück berechnete das System des Computers sekundenweise und übersetzte es in grobe, unzulängliche Begriffe, wie sie im menschlichen Alltag geläufig waren; beginnend mit Januar 1904, 00:00:00 Uhr, bis irgendwann im Jahre 2040, 00:00:00 Uhr. The Date. Immer nur das, was gerade war. Soeben verging Sekunde 2642440203; wertlos wie die zuvor und die, die ihr folgten, wie alle anderen, heute, gestern, morgen.
Wer würde sich noch um die Münzen in seiner Tasche scheren, wenn es nur Pfennige wären? Ein billiges Überleben in Sekunden.
Harry Mann schüttelte den Kopf. Der Hobbyphilosoph in ihm brach mal wieder durch, einen Haufen wertloser Wahrheiten produzierte er, wie immer, wenn er keine Lust hatte, das zu tun, was er tun sollte.
Doch unbestreitbar gab es diese andere Welt, sie war immer da, zugleich mit ihm und seiner banalen Berliner Langeweile. Eine ungeheure Menge bedeutender Aktionen in jedem Augenblick seiner Untätigkeit: Wie viele Menschen spürten gerade jetzt ein Stück wirkliches Leben kommen, nackte Paare, die das vierbeinige Tier machten, Ungeborene auf dem Weg ins Licht, Sterbende mit einem letzten verzweifelten Atemzug, Glückliche und Unglückliche, sie alle spürten es kommen, irgend etwas; und er spürte nichts; wusste von nichts; kannte nur Fernsehbilder vom Leben und Sterben draußen jenseits des sicheren Käfigs, sinnlose Fetzen von Hunger und Krieg, von Erdbeben und Unfällen, von Epidemien und Amokläufen.
Mehr geschah, als seine Phantasie sich vorstellen konnte, und mehr auch könnte ihm eines Tages geschehen; er musste nur warten, geduldig abwarten. Weil er das fest glaubte, faszinierte ihn der kleine graue Kasten, der alle Phasen dieser Gleichzeitigkeit, selbst die Stunden, die ihm heute fehlten, die Lebenszeit, die er seit Jahren verbummelte, gleichgültig verrechnete. Die Neutralisierung seiner inneren Uhr, die Reduzierung jedes Verlustes auf winzige Teilchen erlaubte ihm, nichts zu ändern, ohne allzu große Zweifel weiterzumachen wie bisher und all die Gefahren und Verlockungen zu missachten, die aus der Ferne anderer Orte und Zeiten dem eigenen Wohlergehen und der bequemen Unzufriedenheit drohen mochten.
Aber wirklich vergessen, was alles irgendwo da draußen war, das konnte er nicht; die Abenteuer, die Morde, das Leiden; das Glück. Und so hätte es ihn nicht übermäßig verwundert, wenn er erfahren hätte, dass in wenigen Augenblicken drei Menschen, von denen keiner auch nur Harry Manns Namen kannte, über den erklecklichen Rest seiner „DateItems“ entscheiden würden.
*
Paps saß in einer orangefarbenen, unablässig leise quietschenden Hollywoodschaukel auf einem Hügel knapp hundert Meter vom Haupthaus des Anwesens entfernt. Neben ihm stand ein Klapptisch. Auf ihm waren, wie in Reih und Glied, eine Thermosflasche, ein Becher mit Kaffee, ein tragbares Telefon, ein Radio-Walkman mit Kopfhörer und ein olivgrüner Feldstecher aufgebaut. Zwischen dem Klapptisch und der Hollywoodschaukel eingeklemmt, den Kolben am Bein des Tisches und den Lauf an einer Querstrebe der Schaukel, lehnte griffbereit eine schwarz glänzende Maschinenpistole.
Von diesem erhöhten Standort aus, seinem Stammplatz, besaß Paps einen hervorragenden Überblick in alle vier Himmelsrichtungen. Vor ihm und zu seiner linken Hand führte der Feldweg von dem einsamen Anwesen in vielen Windungen durch die kahlen, von der Sonne verbrannten Berge hinab zu der gepflasterten Hauptstraße, die selbst wiederum in den Pacific Coast Highway mündete. In seinem Rücken befand sich das einstöckige Dienstbotengebäude, in dem Mamma, die in der vergangen Nacht für ihn die Wache übernommen hatte, noch tief und fest schlief. Und zu seiner rechten Hand stieg die kiesbelegte Auffahrt sanft zu der schneeweißen und schlossgroßen Villa an, vorbei an dem abseits gelegenen Tennisplatz und der Gym und in einem halben Kreis um den künstlichen Fischteich bis zu dem Wendeplatz bei dem überdachten Eingang, vor dem der zitronengelbe Porsche Targa und die schwarze Jaguar-Limousine parkten.
Paps griff zu dem Feldstecher. Auf dem Feldweg näherte sich in einiger Entfernung eine Staubwolke. Verursacht wurde sie von einem hellblauen Personenwagen. Einem Pontiac Bonneville. Der alte Mann verzog den Mund zu einem mitleidigen Grinsen. Die Mietwagengesellschaften klassifizierten derlei Schleudern als „Fullsize Car“. Mehr stand dem Schatzmeister eines Landesverbandes vermutlich nicht zu. Paps schaltete das Funktelefon ein, drückte „Intercom“ und tippte eine Zahl.
„Lupina, dice la Señora que Professor von Brauchangen viene“, meldete er ins Haus.
Durch den Feldstecher sah er, dass der blaue Wagen sich einige Windungen weiter hochgearbeitet hatte. In vier, fünf Minuten würde er bei der Schranke angelangt sein, die die Zufahrt zu dem Anwesen sicherte.
Der alte Mann schwenkte den Sucher hinüber zu dem Teil der Terrasse, den er von seinem Platz aus einsehen konnte. Lupina, eine muttchenhafte Mexikanerin mittleren Alters, trug ein Tablett zu dem Tisch in der Essecke, stellte es ab und sprach ein paar Worte in Richtung der Sonnenliege.
Karin Block stand auf, und für einen Augenblick tanzte vor Paps' Augen die Großaufnahme ihrer Scham: ein dichter Wald schwarzer Haare, der alles, was dahinter lag, kaum ahnen ließ. Paps bevorzugte blonde Varianten, deren helles, meist dünnes Haar das blutrote Ziel seiner Wünsche weniger verbarg.
Mamma war blond, dort unten jedenfalls noch. Aber sie war nicht mehr das Ziel seiner Wünsche; nicht, wenn sie, wie sie es manchmal tat, nackt auf den Balkon trat, um ihre quadratische durchtrainierte Gestalt der Sonne und seinen Blicken preiszugeben.
Karin Block hatte sich in ihren Morgenmantel aus aschgrauer Seide gehüllt und ging ins Haus. Dolores, die zweite Hausangestellte, eine große füllige Samoanerin von Anfang Zwanzig, deren einziger Schmuck ihre Fettringe waren, kam ihr mit einem verchromten Rollwagen entgegen. Die beiden Dienstboten deckten den Tisch in der Essecke zu einem opulenten Frühstück.
Der Bonneville hatte, fast grau vor Staub, die Schranke erreicht und hielt neben dem Pfeiler mit der Gegensprechanlage. Durch das Fernglas war in dem offenen Seitenfenster Brauchangens Gesicht deutlich zu erkennen. Er kam allein.
Das Telefon neben Paps stieß sein widerliches elektronisches Gewimmer aus. Er schob den Schalter auf „On“ und sagte artig:
„Willkommen, Herr Professor.“
Dann drückte er die „#“-Taste und eine Zahlenkombination.
Das eiserne Gitter der Absperrung rollte geräuschlos beiseite. Die Limousine beschleunigte und fuhr die Auffahrt hinauf, ohne dass der Mann hinter dem Steuer den Alten in der Hollywoodschaukel eines Blickes gewürdigt hätte.
Dolores öffnete die Tür. Obwohl der Bonneville nicht gerade zu den kleinsten Wagen gehörte, hatte sein Fahrer einige Probleme, sich hinter dem Lenkrad hervorzuschrauben. Professor von Brauchangen war ein plumper Hüne mit einem ungeheuren Bierbauch, fast zwei Meter groß und über zwei Zentner schwer, und er steckte in einem schlecht sitzenden grauen Einreiher, der sein ungeschlachtes Äußeres noch betonte. In keinem unpassenderen Aufzug hätte der Schatzmeister der Berliner CDU unter die kalifornische Sonne treten können. Neben ihm verwandelte sich die stämmige Dolores in eine elfenzarte Liliputanerin.
Paps sah wieder hinüber zu der Terrasse. Der Tisch war inzwischen fertig gedeckt. Lupina kam und brachte den Kaffee. Paps legte den Feldstecher beiseite und setzte den Kopfhörer des Walkman auf. Er schaltete das Radio ein und drehte an der Skala, bis er die Schritte des Dienstmädchens hörte.
Zufrieden lehnte er sich in seiner Hollywoodschaukel zurück und schloss die Augen. Von Ferne näherten sich Stimmen. Paps tastete nach dem Walkman in seinem Schoß und drückte den Aufnahmeknopf.
„... ungewöhnlich gut“, sagte von Brauchangen. Er berlinerte leicht, weniger in der Aussprache der Worte als im knarrenden Tonfall. Karin Block und ihr Gast betraten die Terrasse.
„... jedenfalls für diese Jahreszeit. Ahh ... natürlich kein Vergleich mit dem Wetter, das Sie hier haben.“
Paps konnte sich die Gesten vorstellen, mit denen der pompöse Professor seine Worte begleitete. Die Schritte, von Brauchangens schweres Bollern und das harte Klacken der hohen Absätze, die Karin Block trug, entfernten sich wieder von der geschützten Essecke, in deren Blumenbeet das Sendemikrophon steckte.
„Diese Stille, diese himmlische Ruhe! Und diese Aussicht! Wunderbar!“
Professor von Brauchangen schnaufte, als wollte er die wunderbare Stille und die wunderbare Aussicht durch die riesigen Löcher seiner Nase einsaugen.
„Ja“, sagte Karin Block, „wenn man hier ist, könnte man die Welt vergessen.“ Ihre Stimme war befangen. „Leider existiert der Alltag außerhalb dieses Paradieses weiter. Mit einem Haufen von Problemen und viel Ärger.“
Die Schritte der beiden näherten sich wieder dem Sendemikrophon. Stühle wurden gerückt. Eine dritte Person kam auf die Terrasse.
„Thank you, Lupina“, sagte Karin Block, „we’re fine.“
Lupina schlurfte davon.
Paps öffnete die Augen. Die Gesichter der beiden Personen an dem Tisch unter den drei kleinen Palmen konnte er aus dieser Entfernung ohne Fernglas nicht erkennen. Aber er sah, dass Karin Block sich für von Brauchangen in Schale geworfen hatte. Anstelle der ausgewaschenen Jeans, in denen sie vor zwei Tagen den devoten Trupp von Bevollmächtigten, Rechtsanwälten und Vorständen empfangen hatte, trug sie heute ein dunkelgraues Schneiderkostüm, wahrscheinlich das mit den feinen hellblauen Nadelstreifen.
Paps lehnte sich zurück, ließ die Schaukel ein wenig heftiger quietschen und schloss wieder die Augen.
„Ja“, sagte Professor von Brauchangen in einem philosophischen Tonfall, dessen Wirkung erheblich durch knatschendes Kauen gestört wurde, „die Welt draußen dreht sich weiter; und leider nicht immer so, wie wir es gerne hätten.“
Karin Block schwieg so demonstrativ, dass Paps die Peinlichkeit zu hören meinte.
„Ach, ehe ich es vergesse“, sagte von Brauchangen verlegen, „der Kanzler lässt sie grüßen und bedankt sich recht herzlich für die kleine Aufmerksamkeit, die Sie ihm ... Na ja, Sie wissen schon. Es hat ihm wirklich gefallen.“
Schweigen. Vermutlich hatte Karin Block nur genickt und still gelächelt. Besteck klapperte.
„Und selbstverständlich haben wir Ihnen auch für Ihren jüngsten Beitrag zu danken, mit dem Sie die Arbeit des ‚Euro-Vereins‘ unterstützt haben. Kam angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen natürlich wie gerufen ...“
„Aber ich bitte Sie“, sagte Karin Block mit sehr viel Nachdruck, „das ist doch selbstverständlich. Das hat ja schon, wie soll ich sagen ...” Sie lachte kurz auf: „...Tradition.“