Buch lesen: «Erwerb der deutschen Pluralflexion»

Schriftart:

Gülsüm Günay

Erwerb der deutschen Pluralflexion

Empirische Studien zu Kindern mit Türkisch als Erstsprache und Deutsch als Zweitsprache

A. Francke Verlag Tübingen



© 2016 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0024-3

Inhalt

  Tabellenverzeichnis

  Abbildungsverzeichnis

  Abkürzungsverzeichnis

  1 Einleitung

  Teil I Zur Nominalflexion

  2 Die Nominalflexion des Deutschen 2.1 Das Numerussystem des Deutschen 2.2 Das Genussystem des Deutschen 2.3 Das Kasussystem des Deutschen 2.4 Zusammenfassung

 3 Die Nominalflexion des Türkischen3.1 Das Numerussystem des TürkischenFunktion I:Funktion II:Funktion III:3.2 Das Genussystem des Türkischen3.3 Das Kasussystem des Türkischen3.4 Zusammenfassung

  Teil II Zum Spracherwerb

 4 Der Zweitspracherwerb4.1 Zur Begriffsklärung4.2 Die Rolle des Alters4.3 Zur Erklärung der Sprachverarbeitung4.4 Zusammenfassung

 5 Der Erwerb der deutschen Nominalflexion5.1 Der Erwerb der deutschen Nominalflexion im ErstspracherwerbZum PluralerwerbZum GenuserwerbZum Kasuserwerb5.2 Der Erwerb der deutschen Nominalflexion im Zweitspracherwerb5.3 Fragestellungen und HypothesenHypothese IHypothese IIHypothese IIIHypothese IVHypothese VHypothese VI

  Teil III Zum Plural- und Kasuserwerb –Eigene Untersuchung

 6 Experiment 1: Das Zauberkisten-Experiment – Zum Pluralerwerb6.1 Methode und Material6.2 UntersuchungsteilnehmerDaZ-KinderDaE-Kinder6.3 Durchführung6.4 Auswertungskriterien6.5 Hypothesen6.6 Ergebnisse6.7 Diskussion der Ergebnisse

 7 Experiment 2: Das Kunstwort-Experiment – Zum Pluralerwerb7.1 Methode und Material7.2 Untersuchungsteilnehmer7.3 Durchführung7.4 Auswertungskriterien7.5 Hypothesen7.6 Ergebnisse7.7 Diskussion der Ergebnisse

 8 Experiment 3: Das Bildkarten-Experiment – Zum Pluralerwerb8.1 Methode und Material8.2 Untersuchungsteilnehmer8.3 Durchführung8.4 Auswertungskriterien8.5 Hypothesen8.6 Ergebnisse8.7 Diskussion der Ergebnisse

 9 Experiment 4: Das Clown-Experiment – Zum Akkusativerwerb9.1 Methode und Material9.2 Untersuchungsteilnehmer9.3 Durchführung9.4 Auswertungskriterien9.5 Ergebnisse9.6 Diskussion der Ergebnisse

 10 Experiment 5: Das Wink-Experiment – Zum Dativerwerb10.1 Methode und Material10.2 Untersuchungsteilnehmer10.3 Durchführung10.4 Auswertungskriterien10.5 Ergebnisse

 11 Experiment 6: Das Bauernhof-Experiment – Zum Pluralerwerb11.1 Methode und Material11.2 Untersuchungsteilnehmer11.3 Durchführung11.4 Auswertungskriterien11.5 Ergebnisse

  Teil IV Diskussion der Ergebnisse

 12 Zum Pluralerwerb12.1 ErwerbsphasenHypothese IHypothese II12.2 Übergeneralisierungen12.3 EinflussfaktorenHypothese IIIHypothese IV12.4 Zusammenfassung

 13 Zum Verhältnis von Numerus, Genus und Kasus13.1 Zum Verhältnis von Numerus, Genus und AuslautHypothese V13.1 Zum Verhältnis von Numerus und KasusHypothese VI13.3 Zusammenfassung

  Teil V Zusammenfassung und Ausblick

  Zusammenfassung

  Ausblick

  Anhang

  Literaturverzeichnis

Tabellenverzeichnis


Tabelle 1:Zur Flexion des Nomens im Deutschen8
Tabelle 2:Genusmarkierung im Deutschen (im Nominativ Singular)17
Tabelle 3:Genusmarkierung im Deutschen (im Nominativ Plural)18
Tabelle 4:Kasusmarkierung im Deutschen (im Singular)23
Tabelle 5:Kasusmarkierung im Deutschen (im Plural)23
Tabelle 6:Deklinationstypen der deutschen Kasusflexion (erstellt nach Wegener 1995: 146f. und Dudenredaktion 2006: 197f.)24
Tabelle 7:Kasusregeln für Nomenmarkierung25
Tabelle 8:Kasusregeln für Artikelmarkierung25
Tabelle 9:Kasusregeln für Adjektivmarkierung26
Tabelle 10:Beispiel für Genus-, Kasus- und Numerussynkretismen (nach Wegener 1995: 166)27
Tabelle 11:Zu den semantischen Rollen in der Kasusmarkierung28
Tabelle 12:Geschlechtsunterscheidungen im Türkischen (nach Korkmaz 2007: 254f.)37
Tabelle 13:Kasusmarkierung am Nomen im Türkischen39
Tabelle 14:Erwerbsreihenfolgen von Kindern mit DaE in unterschiedlichen Studien60
Tabelle 15:Übergeneralisierungsrichtung von Kindern mit DaE in unterschiedlichen Studien61
Tabelle 16:Pluralerwerbsphasen nach Bittner (2000) übertragen auf den ZSE71
Tabelle 17:Untersuchungsteilnehmer (DaZ-Kinder)77
Tabelle 18:Berufe der Mütter (DaZ-Kinder)78
Tabelle 19:Berufe der Väter (DaZ-Kinder)79
Tabelle 20:Vorleseverhalten der Eltern (DaZ-Kinder)80
Tabelle 21:Gesamtauswertung Cito-Test
Tabelle 22:Untersuchungsteilnehmer (DaE-Kinder)80
Tabelle 23:Berufe der befragten Mütter (DaE-Kinder)81
Tabelle 24:Berufe der befragten Väter (DaE-Kinder)81
Tabelle 25:Vorleseverhalten der Eltern (DaE-Kinder)81
Tabelle 26:Items des Zauberkisten-Experiments (vgl. Bartke 1998: 71)83
Tabelle 27:Mittelwert der zielsprachlichen Pluralformen (Zauberkisten-Experiment)85
Tabelle 28:Insgesamt produzierte Pluralformen nach Items und Zielsprachlichkeit (Zauberkisten-Experiment)85
Tabelle 29:Auswertung der Antworten nach Kategorien (Zauberkisten-Experiment)86
Tabelle 30:Ergebnisse nach Altersgruppen und Kategorien (Zauberkisten-Experiment)87
Tabelle 31:Mittelwertunterschiede der Ergebnisse nach Anzahl korrekter Pluralformen und Altersgruppen (Zauberkisten-Experiment)87
Tabelle 32:Übergeneralisierungen nach Endungen im Zauberkisten-Experiment (mit und ohne Nullmarkierung)88
Tabelle 33:Ergebnisse insgesamt nach Markierung und Zielsprachlichkeit (Zauberkisten-Experiment)89
Tabelle 34:Verteilung der insgesamt produzierten Formen im Zauberkisten-Experiment (N=832)89
Tabelle 35:Markierte Pluralformproduktionen nach Teilnehmern (Zauberkisten-Experiment)94
Tabelle 36:Übersichtsvergleich der Daten Günay im Zauberkisten-Experiment mit den Ergebnissen von Bartke95
Tabelle 37:Mittelwerte der produzierten korrekten Pluralformen bei DaE- und DaZ-Kindern (Zauberkisten-Experiment)95
Tabelle 38:Insgesamt produzierte Pluralformen nach Items und Zielsprachlichkeit von DaE-Kindern im Vergleich zu DaZ-Kindern (Zauberkisten-Experiment)96
Tabelle 39:Übergeneralisierungen nach Endungen (mit und ohne Nullmarkierung) der DaE-Kinder im Vergleich zu den DaZ-Kindern (Zauberkisten-Experiment)97
Tabelle 40:Items des Kunstwort-Experiments100
Tabelle 41:Einteilung der Items des Kunstwort-Experiments in Gruppen (nach Marouani)101
Tabelle 42:Pluralmarkierung der Kunstwörter nach Items mit Nullmarkierung103
Tabelle 43:Zusammenfassung der Pluralmarkierung der Kunstwörter (mit und ohne Nullmarkierung)103
Tabelle 44:Pluralmarkierungen der Kunstwörter nach Items und Altersgruppen108
Tabelle 45:Mittelwert der zielsprachlichen Pluralformen bei den DaZ-Kindern (Bildkarten-Experiment)111
Tabelle 46:Insgesamt produzierte Pluralformen nach Items und Zielsprachlichkeit (Bildkarten-Experiment)112
Tabelle 47:Auswertung der Antworten nach Kategorien (Bildkarten-Experiment)112
Tabelle 48:Ergebnisse nach Altersgruppen und Kategorien (Bildkarten-Experiment)113
Tabelle 49:Mittelwertunterschiede der Ergebnisse nach Altersgruppen (Bildkarten-Experiment)113
Tabelle 50:Übergeneralisierungen nach Endungen im Bildkarten-Experiment (mit und ohne Nullmarkierung)113
Tabelle 51:Items des Clown-Experiments116
Tabelle 52:Auswertungskriterien des Clown-Experiments119
Tabelle 53:Ergebnisse des Clown-Experiments nach Items und Zielsprachlichkeit (DaZ-Kinder)120
Tabelle 54:Mittelwerte der zielsprachlichen Antworten im Nominativ und im Akkusativ im Clown-Experiment (DaZ-Kinder)120
Tabelle 55:Antworten der DaZ-Kinder im Nominativ und im Akkusativ (Clown-Experiment)121
Tabelle 56:Antworten der DaZ-Kinder im Nominativ und Akkusativ nach Items und Gebrauch von Adjektiv (Clown-Experiment)123
Tabelle 57:Antworten der DaE-Kinder im Nominativ und im Akkusativ (Clown-Experiment)125
Tabelle 58:Items des Wink-Experiments126
Tabelle 59:Auswertungskriterien des Wink-Experiments129
Tabelle 60:Mittelwerte der zielsprachlichen Antworten im Dativ im Wink-Experiment (DaZ-Kinder)130
Tabelle 61:Antworten der DaZ-Kinder im Wink-Experiment130
Tabelle 62:Adjektivgebrauch der DaZ-Kinder (Wink-Experiment)130
Tabelle 63:Antworten der DaE-Kinder (Wink-Experiment)132
Tabelle 64:Adjektivgebrauch der DaE-Kinder (Wink-Experiment)132
Tabelle 65:Altersgruppen Bauernhof-Experiment (DaZ-Kinder)135
Tabelle 66:Berufe der befragten Mütter (DaZ-Kinder/Bauernhof-Experiment)135
Tabelle 67:Berufe der Väter (DaZ-Kinder/Bauernhof-Experiment)136
Tabelle 68:Vorleseverhalten (DaZ-Kinder/Bauernhof-Experiment)136
Tabelle 69:Berufe der Mütter und Väter (DaE-Kinder/Bauernhof-Experiment)137
Tabelle 70:Vorleseverhalten der Eltern (DaE-Kinder/Bauernhof-Experiment)138
Tabelle 71:Altersstufen der DaZ- und DaE-Kinder im Bauernhof-Experiment156
Tabelle 72:Übergeneralisierungen im Zauberkisten-Experiment nach Items in Phase 2 und 3 (ohne Nullpluralformen)173
Tabelle 73:Übergeneralisierungen im Bildkarten-Experiment nach Items in Phase 2 und 3 (ohne Nullmarkierungen)174
Tabelle 74:Anteil korrekter Pluralformen in Phase 2, 3 und 4 im Vergleich (Zauberkisten-Experiment)175
Tabelle 75:Anteil korrekter Pluralformen in Phase 2, 3 und 4 im Vergleich (Bildkarten-Experiment)176
Tabelle 76:Übergeneralisierungen im Zauberkisten-Experiment nach Items und Altersgruppen178
Tabelle 77:Übergeneralisierungen im Bildkarten-Experiment nach Items und Endungen (DaZ-Kinder)180
Tabelle 78:Übergeneralisierungen im Bildkarten-Experiment nach Items und Altersgruppen182
Tabelle 79:Frequenzermittlungsvergleiche der Items aus dem Bildkarten-Experiment184
Tabelle 80:Gesamtbetrachtung der Pluralmarkierungen (nach Items) aus allen Pluralerwerbs-Experimenten194
Tabelle 81:Beispiel für „fortschrittliche“ Übergeneralisierung208

Abbildungsverzeichnis


Abbildung 1:Pluralbildung im Deutschen (nach Wegener 1992)13
Abbildung 2:Exemplarischer Gesprächsausschnitt aus dem Zauberkisten-Experiment83
Abbildung 3:Vergleich der übergeneralisierten Endungen91
Abbildung 4:Beispielkarten Trul99
Abbildung 5:Gesprächsausschnitt aus dem Bildkarten-Experiment110
Abbildung 6:Fehlerquote nach Altersgruppen (Bildkarten-Experiment)115
Abbildung 7:Fragemuster bei der Elizitation von Akkusativobjekten117
Abbildung 8:Gesprächsausschnitt aus dem Clown-Experiment118
Abbildung 9:Fehlerqoute nach Altersgruppen – Nominativ der DaZ-Kinder (Clown-Experiment)124
Abbildung 10:Fehlerqoute nach Altersgruppen – Akkusativ der DaZ-Kinder (Clown-Experiment)124
Abbildung 11:Fragemuster bei der Elizitation von Nominativformen127
Abbildung 12:Fragemuster bei der Elizitation von Dativobjekten127
Abbildung 13:Bauernhof-Experiment133
Abbildung 14:Gesprächsleitfaden (Bauernhof-Experiment)139
Abbildung 15:Gesamtergebnis nach Zielsprachlichkeit und Geschlecht (Bauernhof-Experiment)140
Abbildung 16:Markierung des Items Schaf nach Altersgruppen141
Abbildung 17:Übergeneralisierte Endungen im Bauernhof-Experiment155
Abbildung 18:Übergeneralisierungsrichtung der DaZ-Kinder (Bildkarten-Experiment)181
Abbildung 19:Übergeneralisierungen im Bauernhof-Experiment nach Altersgruppen182

Abkürzungsverzeichnis


Abb.Abbildung
AblAblativ
AdjAdjektiv
AkkAkkusativ
ANOVAAnalysis of variance (Einfaktorielle Varianzanalyse)
bzw.beziehungsweise
ca.circa
CitoCetraal Instituut voor Toetsontwikkeling (Sprachstandtest)
DDurchgang
DaE-KinderKinder mit Deutsch als Erstsprache
DaZ-KinderKinder mit Deutsch als Zweitsprache
DatDativ
def.definit
DOdirektes Objekt
ebd.ebenda
f.folgende
ff.fortfolgende
FemFemininum
GGenus
GenGenitiv
GLGesprächsleitung
HHypothese
HAVAS 5Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands Fünfjähriger (Sprachstandtest)
IPEInstitut für Interkulturelle Pädagogik im Elementarbereich Mainz
IOindirektes Objekt
indef.indefinit
irreg.irregulär
k.A.keine Angabe
LokLokativ
MaskMaskulinum
NAnzahl
NeutrNeutrum
NomNominativ
PGPluralgruppe
PlPlural
PLMPluralmarkierung
PWPassiver Wortschatz
SSilbenanzahl
SDStandardabweichung
Sg.Singular
SUSubjekt
TNUntersuchungsteilnehmer
u.a.unter anderem
ULUmlaut
usw.und so weiter
ÜGÜbergeneralisierung
vgl.vergleiche
z.B.zum Beispiel
Zit.Zitat
ZSEZweitspracherwerb

1 Einleitung

Mit großen Augen betrachtet das Kind das auf dem Boden aufgebaute Bauernhof-Brettspiel, während die Gesprächsleiterin das Spiel erklärt. Dann fängt es an zu würfeln. „Ein Schaf“, sagt es, auf das Bild auf dem Würfel schauend, und findet sogleich das dazugehörige Spielfeld. „Hier! Hier sind ganz viele Schäfe!“, ruft es auf die Wiese mit den Schafen zeigend. Das Spiel beginnt – beziehungsweise das Experiment 6 der vorliegenden Arbeit –, das mit Kindern mit türkischem Migrationshintergrund durchgeführt wurde.

Kinder mit Migrationshintergrund – so werden die Kinder von rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung (Statistisches Bundesamt 2013) bezeichnet.1 Sie sind in Deutschland geboren, besuchen meist ab dem dritten Lebensjahr eine deutsche Kindertagesstätte und sprechen verschiedene Erstsprachen. Mehr als ein Drittel der Kinder unter 10 Jahren in Deutschland besitzen einen Migrationshintergrund. Die größte Gruppe dabei bilden die Kinder mit Türkisch als Erstsprache. Sie werden in Kindergärten und Grundschulen oft als Problemkinder wahrgenommen – vor allem aufgrund ihrer Sprachdefizite. Welche Bereiche der deutschen Sprache stellen diese Kinder beim Erwerb vor besondere Probleme?

Gegenstand von Untersuchungen des kindlichen Zweitspracherwerbs von Kindern mit Türkisch als Erstsprache sind bislang der Erwerb der Verbstellung (Haberzettl 2005), der Satzstruktur (Kroffke/Rothweiler 2006, Chilla 2008), des Wortschatzes (Karasu 1995, Kuyumcu 2008), der Determinierer (Lemke 2008) und der Präpositionen (Turgay 2010). Umfassende Studien zum Erwerb der deutschen Nominalflexion durch türkischsprachige2 Kinder liegen bislang nicht vor. Dies liegt gewiss nicht daran, dass dieser Bereich der Sprache beim Erwerb keine Rolle spielt oder dass die Formen und Strukturen schnell korrekt produziert werden. Im Gegenteil, die Komplexität der deutschen Nominalflexion und die damit verbundenen Erwerbsprobleme für Zweitspracherwerber3 sind offensichtlich und evident. Dies zeigt Wegener (1992) mit ihrer Habilitation über den Zweitspracherwerb von Kindern mit Polnisch, Russisch und Türkisch als Erstsprache. Bislang veröffentlichte sie jedoch nur in verschiedenen Aufsätzen ihre Ergebnisse aus der Studie, die sie mit vier Kindern mit Polnisch und Russisch als Erstsprache und zwei Kindern mit Türkisch als Erstsprache durchgeführt hat (1995a-d; 2006). Ihr Interesse gilt insbesondere der Frage, ob die Komplexität der Strukturen für die Erklärung der Erwerbsschwierigkeiten hinzuzuziehen ist oder eher die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Erstsprache und dem Deutschen den Erwerb beeinflussen. Neben fundierten theoretischen Ausführungen formuliert sie mit Hilfe ihrer empirischen Arbeit Erwerbsphasen für den Nominalflexionserwerb, die beispielsweise der Arbeit von Marouani (2006) als Grundlage dienten. Marouani (2006) untersucht den Zweitspracherwerb von neun drei- bis fünfjährigen Kindern mit Arabisch als Erstsprache. Sie analysiert hauptsächlich in Anlehnung an Wegener (1995a) die Kategorien Genus, Numerus und Kasus hinsichtlich ihrer Markierung, ihrer Zuweisung und ihrer Funktion und deren Erwerb mit Hilfe von Spontansprachdaten der arabischsprachigen Kinder. Die zentrale Frage ihrer Arbeit, ob Abhängigkeitsverhältnisse beim Erwerb der Kategorien bestehen, kann sie eindeutig verneinen, da sie keine Beziehung zwischen Genuszuweisung und Pluralmorphologie und zum Kasus feststellte. Die in der Theorie feststellbaren Abhängigkeitsverhältnisse schienen beim Erwerb keine Rolle zu spielen. Die Notwendigkeit weiterer Studien zum Erwerb der Nominalflexion, insbesondere durch Kinder mit anderen Erstsprachen wie zum Beispiel durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache, hebt sie besonders hervor:

„Es wäre allerdings eine effizientere Behandlung der in dieser Arbeit untersuchten Problematik sehr nützlich gewesen, wenn weitere Daten von anderen gleichaltrigen ausländischen Kindern mit ähnlichen Lernbedingungen, aber unterschiedlichen Muttersprachen hatten, herangezogen werden können, wie z.B. Türkisch oder Russisch. Ein solcher Vergleich hätte dazu beitragen können, den Gebrauch der untersuchten grammatischen Erscheinungen bei den arabischen Kindern besser verstehen zu können und es erlaubt, den Erwerbsverlauf der nominalflexivischen Kategorien klarer darzustellen.“ (Marouani 2006: 257)

Weitere Arbeiten, die den Zweitspracherwerb der Nominalflexion durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache untersuchen, sind insbesondere im Bereich der Kategorie Genus (z.B. Kaltenbacher/Klages 2006, Jeuk 2008) zu finden. Einen ersten fundierten Ansatz in diesem Bereich liefert die Studie von Ruberg (2013), der den Genuserwerb von Kindern mit Türkisch, Polnisch und Russisch als Erstsprache untersucht. Er stellt fest, dass der Genuserwerb bei Kindern, die bis zum Alter von vier Jahren mit dem Zweitspracherwerb beginnen, wie beim Erstspracherwerb verläuft (vgl. Ruberg 2013: 318). Lediglich Unterschiede hinsichtlich der Geschwindigkeit seien feststellbar. Im Vergleich zu den untersuchten Kindern mit Polnisch und Russisch als Erstsprache beobachtet er bei den Kindern mit Türkisch als Erstsprache einen langsamer ablaufenden Erwerbsverlauf.

Die zentrale Frage, die hier aufkommt, ist: Wie ist der Erwerbsverlauf in anderen Bereichen der Nominalflexion? Zum Numerus- und Kasuserwerb von türkischsprachigen Kindern liegen uns bislang außer den Ergebnissen von Wegener, die sie mit Hilfe von zwei Kindern ermittelt und den Analysen von Lemke (2008), die er im Rahmen seiner Studie zum Erwerb von Determiniererphrasen in Bezug auf ein von ihm untersuchtes Kind mit Türkisch als Erstsprache formulierte, keine Daten vor.

In dieser Arbeit wird der Erwerb der deutschen Pluralflexion durch 77 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und Türkisch als Erstsprache analysiert.4 Als Kontrollgruppe dienen 19 DaE-Kinder (Kinder mit Deutsch als Erstsprache).5 Mit Hilfe eines vor der Untersuchungsdurchführung von den Eltern ausgefüllten Fragebogens werden Daten zum Alter und Beginn des Zweitspracherwerbs ermittelt, um eine möglichst homogene Gruppe von DaZ-Kindern (Kindern mit Deutsch als Zweitsprache) untersuchen zu können. Hierbei werden lediglich sprachunauffällige Kinder für die Experimente herangezogen. Zudem werden nur Kinder untersucht, die mit drei Jahren in eine Kindertagesstätte kamen und bei denen die Eltern angeben, zu Hause Türkisch mit den Kindern zu sprechen. Die Daten werden mit Hilfe von verschiedenen Elizitationstests in den Wohnungen der Kinder erhoben. Neben dem Erwerb der Pluralflexion erfolgt auch ein Einbezug des Genus- und insbesondere des Kasuserwerbs.

Für den Genus- und Kasuserwerb von DaZ-Kindern, die bis zum Alter von vier Jahren mit dem Erwerb des Deutschen beginnen, konnte in bisherigen Studien festgestellt werden, dass der Erwerb wie in der Erstsprache verläuft (vgl. z.B. Thoma/Tracy 2006, Rothweiler 2007, Chilla 2008, Meisel 2009, Ruberg 2013). Gilt dies auch für den Pluralerwerb von türkischsprachigen DaZ-Kindern?

Folgende drei zentrale Fragen sollen in dieser Arbeit untersucht werden:

1 Unterscheidet sich der Erwerb der Pluralbildung durch DaZ-Kinder mit Türkisch als Erstsprache, die bis zum Alter von vier Jahren mit dem Erwerb des Deutschen beginnen, vom Erstspracherwerb des Deutschen?

2 Welche Strategien setzen DaZ-Kinder bei der Wahl der Pluralmarker ein?

3 Sind die in der Theorie feststellbaren Abhängigkeitsverhältnisse der Kategorien Numerus, Genus und Kasus auch beim Erwerb dieser Kategorien erkennbar?

Aus diesen Fragen leiten sich die Hypothesen ab, die im fünften Kapitel der Arbeit formuliert werden.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Teile. Zunächst wird im ersten Teil die Nominalflexion des Deutschen und des Türkischen thematisiert, indem das jeweilige Numerus-, Genus- und Kasussystem skizziert wird. Hierbei erfolgt die Beschreibung der türkischen Nominalflexion, soweit möglich, auf einer direkten Vergleichsebene mit der im vorhergehenden Kapitel dargestellten deutschen Nominalflexion. Auch wenn im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit der Schwerpunkt auf der Pluralflexion liegt, erscheint die Betrachtung des Genus- und Kasussystems sinnvoll, um den Kontext und die Komplexität der Erwerbsaufgaben, mit denen die Kinder in diesem Bereich konfrontiert sind, aufzeigen zu können.

Der zweite theoretische Teil beschäftigt sich eingangs mit grundlegenden Thesen und Annahmen des Zweitspracherwerbs und fokussiert anschließend den Erwerb der Nominalflexion. Neben den Untersuchungen und Annahmen zum Pluralerwerb, werden dabei auch Studien und Erkenntnisse zum Genus- und Kasuserwerb skizziert, um einen Überblick über die Annahmen zum Erwerb der deutschen Nominalflexion in der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung zu geben. Ausgehend von den theoretischen Grundlagen, den aufgeführten Studien und den obigen drei Fragen werden am Ende dieses Teils, in Kapitel 5.3, die Hypothesen der Arbeit formuliert.

Im dritten Teil werden die eigenen Untersuchungen zum Plural- und Kasuserwerb vorgestellt. Hierfür werden die sechs durchgeführten Experimente und ihre Ergebnisse einzeln detailliert beschrieben, analysiert und diskutiert.

Experiment 1, das Zauberkisten-Experiment zur Erhebung von Pluralformen, ist eine leicht modifizierte Form des Elizitationsexperiments, mit dem Bartke (1998) den Pluralerwerb von DaE-Kindern untersuchte. Im zweiten Experiment wird das mit arabischsprachigen DaZ-Kindern durchgeführte Kunstwort-Experiment zur Pluralflexion von Marouani (2006) repliziert. In Experiment 3, dem Bildkarten-Experiment, steht ebenfalls die Pluralmarkierung der DaZ-Kinder im Mittelpunkt der Betrachtung. Hierbei wird anhand von Bildkarten die Pluralbildung von Nomen aus dem Realwortschatz untersucht, die sich teilweise mit den Items aus den anderen Experimenten der Studie überschneiden, um diese Ergebnisse miteinander vergleichen zu können. Bei den Experimenten 4 und 5 handelt es sich ebenfalls um Elizitationsexperimente. Diese von Eisenbeiß (1994) adaptierten Experimente beschäftigen sich mit dem Kasuserwerb. Im Clown-Experiment werden durch das Anziehen eines Clowns Nominativ- und Akkusativformen elizitiert. Im Wink-Experiment, das bei Eisenbeiß den Namen „Zoo-Besuch“ trägt, winken Playmobilfiguren verschiedenen Tieren zu und dem Kind wird die Frage gestellt, wem die Figur gerade zuwinkt. Das letzte Experiment ist ein selbst entworfenes Bauernhof-Brettspiel, mit dem je Kind Pluralformen von 36 Nomen erhoben werden. Da es sich hierbei um eine andere Probandengruppe handelt als in den anderen obigen Experimenten, wird es in der Arbeit als letztes Experiment aufgeführt.

Der vierte Teil der Arbeit gliedert sich in zwei Kapitel. Zunächst werden die Ergebnisse zum Erwerb der Pluralflexion ausgewertet und diskutiert, indem auf der Grundlage der im dritten Teil der Arbeit vorgestellten Ergebnisse die Kernhypothesen dieser Arbeit überprüft werden. Anschließend wird das Verhältnis von Genus zu Numerus und von Kasus zu Numerus, das sich aus den selbst erhobenen Daten ableiten lässt, beschrieben.

Im fünften Teil der Arbeit werden die Erkenntnisse bezüglich der Fragestellungen und die Antworten, die auf der Grundlage der erhobenen Daten formuliert werden können, zusammengefasst und die zentralen Ergebnisse diskutiert.

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
278 S. 15 Illustrationen
ISBN:
9783823300243
Rechteinhaber:
Bookwire
Download-Format:

Mit diesem Buch lesen Leute