Segeln mit Huhn

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ETAPPE
03
DIE KARIBIK


1.600 MEILEN


409 TAGE


318 EIER


17° 55’ NORD, 62° 50’ WEST
DIE KARIBIK

Hier bleiben wir so lange, bis ich YVINEC hergerichtet habe. Aber zuerst muss die Bordkasse wieder aufgefüllt werden.

15.7.2014

Meine Geldprobleme lösen sich dank harter Arbeit und eisernem Sparen. Jede Arbeit ist besser als keine: Ich arbeite als Gärtner, Blumenlieferant, Strandwächter oder Kellner. Am Ende habe ich es geschafft, einen Job auf dem Wasser zu finden, in einem kleinen Wassersportclub am Strand von Saint John. Ich unterrichte Surfen, Segeln mit dem Katamaran, Paddling ... ein Traum! Mit dem Besitzer, Jean-Mi, gerate ich ganz schön aneinander. Er hat einen starken Charakter und steht ständig unter Strom. Auf ihre Verjüngungskur wartend, ankert YVINEC friedlich direkt gegenüber. Was für ein Glück, dass ich mein »Haus« an meinen Arbeitsplatz mitnehmen kann.

AN DIE ARBEIT!

Auch Monique frönt dem Wassersport: paddeln, surfen, windsurfen, schwimmen ... Ihr Lieblingssport: Fotoshootings. Und ja, selbst in den Tropen muss man arbeiten. Seit unserer Ankunft haben ein paar Zeitungen über uns berichtet ... oder besser gesagt, über Monique. Ich habe den Eindruck, dass meine geflügelte Partnerin im Begriff ist, der berühmteste Hühnervogel des Planeten zu werden.


DAS BEIBOOT VON YVINEC IST AUSEINANDERGEBROCHEN. UM ZUM UFER UND WIEDER ZURÜCK ZU MEINEM SEGLER ZU GELANGEN, MUSS ICH MEIN BOARD BENUTZEN. MONIQUE, DIE IMMER BEI MIR IST, TURNT WIE EINE AKROBATIN DARAUF HERUM UND LÖST BEI DEN TOURISTEN JEDES MAL, WENN WIR AM STRAND ANKOMMEN, GELÄCHTER AUS.


ZURÜCK IN DIE KINDHEIT

Im Lauf der Wochen treffe ich nette Leute und knüpfe feste Freundschaften. Unter anderem habe ich mich mit Jonas, Andrea, Johann, Eric angefreundet ... tolle Typen. Alle verschieden, aber das Meer verbindet uns. Und dann gibt es die Kinder, meine kleinen Brüder am Strand von Saint John, wie ich sie gern nenne. Sie verbringen Stunden an Bord von YVINEC, wenn sie nicht in der Schule sind. Antonin, Léo, Élie, Noah ... Für uns sechs (Monique ist selbstverständlich mitzuzählen) ist es eine einzige Party. Wir hören Musik, springen von der Hängematte aus ins Wasser, kochen Festmahle, diskutieren, als seien wir gleichaltrig. Sie erinnern mich an meine Kindheit auf Yvinec: die Füße nackt, der Kopf frei und voller Träume.

Auf diesen paradiesischen Karibikinseln haben viele »Weltreisende« ihre eskapistischen Träume und ihre Entdeckerlust davonfliegen lassen: »Was soll es anderswo Besseres geben?« Ich verstehe sie. Die Sonne, die tropische Wärme, die Korallenriffe und die Freundlichkeit der Bewohner verlocken zum Bleiben. Dennoch – ich habe etwas anderes im Sinn: in Grönland zu überwintern. Ich habe begonnen, meine Familie auf der anderen Seite des Atlantiks vorsichtig darauf vorzubereiten. Meine Schwestern sind – wenig erstaunlich – entsetzt. Aber mein Vater ... Seine Stimme sagt mir, dass er stolz und zuversichtlich ist. Er reist durch mich. Ich fände es schön, wenn er nach meiner Überwinterung in Grönland für eine Zeit lang zu mir stoßen würde.

19.9.

Ich nutze die Hurrikansaison, um Saint-Barth zu verlassen und mit meinen Freunden Jonas und Andrea die etwas südlicher gelegenen Antillen zu durchkämmen.

1.10.

Guadeloupe, Marie-Galante, Dominica, Martinique, St. Lucia, Grenada ... Wir machen nur kurze Zwischenstopps, aber das Leben ist wunderbar. Wer mit dem Boot unterwegs ist, hat einen privilegierten Zugang zu unwegsamen und wilden Landstrichen. Das Leben ist schön! Wir leben nach dem Rhythmus von Sonnenauf- und Sonnenuntergang, ernähren uns von gefangenem Fisch und schlafen draußen unter dem Sternenregen wie Vagabunden – glückliche Vagabunden.

10.10.

Wir sind in Trinidad und Tobago. Hier werde ich YVINEC aus dem Wasser holen, um sie auf die extremen Bedingungen der Arktis vorzubereiten. Das letzte gerade Stück ab Granada war nicht gerade erholsam. Der Wind war meist schwach und blies mit 3 Knoten von vorn. Die Genua – das Vorsegel – ist zerrissen, und alle Versuche, sie zu flicken, waren vergeblich. Dazu kam eine Motorpanne, sodass wir mindestens zehn Meilen vor der für Piraten berüchtigten Küste Venezuelas herumgetrieben sind. Jonas, Monique und ich versuchten, uns möglichst gut zu tarnen, um unbemerkt zu bleiben.


Wer mit dem Boot unterwegs ist, hat einen privilegierten Zugang zu unwegsamen und wilden Landstrichen. Das Leben ist schön!

GLÜCKLICHERWEISE IST JONAS DA, UM MIR ZU HELFEN. SEIT MEHREREN TAGEN ARBEITEN WIR UNUNTERBROCHEN.


Wir sind vor Venezuela. Jonas, Monique und ich verkleiden uns als Piraten, um uns zu tarnen.

28.10.

Glücklicherweise ist Jonas da, um mir zu helfen. Seit mehreren Tagen arbeiten wir ununterbrochen. 15 Stunden täglich, bei 40 °C, wir lassen die Arbeit nur ruhen, um inmitten von Farbe, Rost und Sägemehl zu schlafen und zu essen.



Zu Tisch: An Bord von YVINEC lohnt sich das Angeln immer. Einmal mehr werden wir es uns schmecken lassen.


Meine »Bande« Noah und Antonin, meine »kleinen Brüder«, am Strand von Saint John.


Es ist Zeit, dass YVINEC sich einer Verjüngungskur unterzieht und auf den hohen Norden vorbereitet wird.

ICH HABE ES AUCH DER GROSSZÜGIGKEIT VON NEUEN BEKANNTEN UND ANONYMEN SPENDERN ZU VERDANKEN, DASS ICH MEIN PROJEKT IN DIE TAT UMSETZEN KANN.

20.11

Anderthalb Monate später ist YVINEC generalüberholt und gefühlt nur noch halb so alt. Der Anstrich ist brandneu. Motor und Segel sind repariert. Der Rumpf wurde verstärkt, und ungefähr 40 Löcher wurden »gestopft«. Ich habe Christian und seine Frau Claudine kennengelernt, beide großherzige Menschen. Christian hat mir nicht nur auf dem Boot geholfen, sondern mir unter anderem auch das Schweißen beigebracht – eine wertvolle Fertigkeit, wenn man ein Boot aus Stahl besitzt. Ich bitte ihn, Monique auf den Bug zu malen. Mit seinen geschickten Händen gibt er seinem Werk den letzten Schliff, bevor wir wieder Richtung Saint-Barthélemy in See stechen.

5.12.

In Saint-Barth beginne ich bei Jean-Mi zu arbeiten: Er hat mich erwartet. Ich muss noch Zusatzausrüstung für YVINEC finanzieren.



MAI 2015

Nach fünf Monaten eisernen Sparens habe ich YVINEC endlich fertig ausrüsten können. Ich habe es auch der Großzügigkeit von neuen Bekannten und anonymen Spendern (einer Crowdfunding-Kampagne) zu verdanken, dass ich mein Projekt in die Tat umsetzen kann. Auf Saint Martin installiere ich neue Segel, ein Windrad, Solarmodule, neue Bullaugen, einen neuen Motor, eine Heizung und Isoliermaterial. Auch mit neuen Navigationsinstrumenten statte ich mich aus: einem GPS-Gerät zur exakten Positionsbestimmung und einem AIS, um andere Schiffe, insbesondere Frachtschiffe, zu orten und von ihnen geortet zu werden. Angesichts der eisigen Temperaturen, die uns erwarten, darf nichts dem Zufall überlassen bleiben.

29.6.

Nach einem schönen Abschiedsabend am Strand von Saint John ist es Zeit, den Anker zu lichten. Ich bin so ungeduldig, dass ich mir nicht einmal die Zeit nehme, YVINEC aufzuräumen. Unter Deck herrscht ein heilloses Durcheinander. Die Traurigkeit, die mit dem Auf-Wiedersehen-Sagen einhergeht, mischt sich mit Reisefieber. Ich kann nicht glauben, dass ich dem Leben in den Tropen den Rücken kehre. Christian und Claudine sind da. Claudine hat zu Hause eine Menge Lebensmittel für mich eingemacht, ihr habe ich es zu verdanken, dass ich werde schlemmen können. Sie überreichen mir auch ein kleines Geschenk, das ich an Weihnachten öffnen soll, wenn YVINEC im Eis eingeschlossen ist.

 


ETAPPE
04
VON DEN ANTILLEN NACH GRÖNLAND


3.378 MEILEN


57 TAGE


43 EIER


72° NORD, 40° WEST
VON DEN ANTILLEN NACH GAÜNLAND

Endlich - mein Traum ist zum Greifen nah. Schon im Augenblick des Auslaufens weiß ich, dass das Navigieren mich völlig neu herausfordern und alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen wird.

12.7.2015

ABFAHRT MIT HINDERNISSEN

Ein paar Stunden später: Der Autopilot, eines der wenigen Teile, die nicht ausgetauscht wurden, funktioniert nicht mehr. Ich will nicht zurück, im Geiste bin ich schon weg. Wegen meines Starrsinns bin ich gezwungen, 14 Stunden ununterbrochen am Steuer zu verbringen, bis wir Virgin Gorda, eine Insel der Britischen Jungferninseln, erreicht haben. Dort kann ich den Autopiloten reparieren.

Einen weiteren, 18-stündigen Zwischenstopp legen wir auf den Bermudas ein, um einem Tief auszuweichen, Diesel zu tanken und die Wasservorräte aufzufüllen. Ich nutze ihn für einen Ölwechsel bei dem neuen Motor. Einige Tage nachdem wir die Bermudas verlassen haben, geraten wir in ein zweites Tief, dem wir leider nicht ausweichen können. Es ist mein erster richtiger Sturm. Das Meer um uns herum kocht. Überflutet von etwa zehn Meter hohen Wellen und von 50 Knoten Windgeschwindigkeit angeheizt, saust YVINEC mit der Nase voran flüssige Abhänge hinunter.

14.7.

Die restliche Überfahrt, die sich viel geruhsamer gestaltet als in den ersten Tagen, folgt dem Rhythmus der Sonnenuntergänge. Meer und Sonne verschmelzen in einer Palette aus Mauve, Gold, Purpur und Blau. Großartige Landschaften, die aussehen wie Aquarelle. Oft tanzen Delfine und Wale um das Boot. Das sind die Momente, die mir auf wunderbare Weise ins Gedächtnis zurückrufen, warum ich das hier tue.



Mein erster richtiger Sturm. Das Meer um uns herum kocht.

17.7.

Der Wind kommt von hinten und bläst augenblicklich nur mit 12 Knoten. Es ist an der Zeit, den Spinnaker zu setzen. Ich liebe dieses Segel, vor allem wegen seiner Farben. Normalerweise wird es gesetzt, wenn der Wind stetig von hinten kommt. Mein Spinnaker misst 90 Quadratmeter, es ist nicht einfach, ihn allein zu setzen, aber ich habe mich daran gewöhnt. Das Segel ist so groß, dass man schnell sein und aufpassen muss: Im richtigen Moment, ehe eine Bö von der falschen Seite das Boot aus dem Gleichgewicht bringt, ist er einzuholen. Sonst droht er wie bei der Atlantiküberquerung zu zerreißen.

Monique legt in ihrem Verschlag weiterhin fast jeden Morgen ein Ei. Ich bin jedes Mal überglücklich und staune Bauklötze, dass ich mitten auf dem Ozean frische Eier essen kann. Seither habe ich gelernt, erfindungsreich zu sein. Hart oder weich gekocht, als Spiegel- oder Rührei zur Garnierung von Reisgerichten: kurz, ich liebe Eier in allen Variationen. Jetzt, wo wir in höhere Breitengrade gelangen, beginnt die Kälte sich bemerkbar zu machen. Ich habe im Inneren der Kabine einen Stall für Monique eingerichtet, dort wird sie es warm und trocken haben.

HALIFAX

Nach 15 Tagen auf See und 1.600 Meilen legen wir am 23. Juli 2015 in Halifax an. An unsere Einfahrt in den langen Kanal werde ich mich noch lange erinnern. 4 Knoten Strömungsgeschwindigkeit, praktisch keine Sicht und haushohe Frachtschiffe, die das Wasser aufwühlen. Nichts scheint diese Seeungeheuer aufhalten zu können. Diesmal hat Monique Muffensausen: Ängstlich bleibt sie drinnen im Warmen. Ich muss kaltblütig bleiben, damit wir gesund und unversehrt ankommen. Das Manöver ist heikel, aber in Panik zu geraten bringt nichts und hindert am Denken.

25.7.

Ich habe alles gekauft, was ich für die große Kälte brauche: einen Mantel, einen Schlafsack für Temperaturen bis –40 °C, Skier, Handschuhe, Mütze, Kocher, Merinounterwäsche usw. Ich bin bereit, den arktischen Polarkreis zu überqueren.

SAINT-PIERRE UND MIQUELON

Nach einigen Tagen wohlverdienter Ruhe haben wir die Leinen losgemacht. YVINEC gleitet sanft auf unser neues Ziel zu: Saint-Pierre und Miquelon.

3.8.

Seit Halifax unter Spinnaker segelnd, lief bis Saint- Pierre alles perfekt. Keinerlei Regulierung war nötig, nichts. YVINEC sauste, vom Wind getrieben, ganz ruhig dahin. Saint-Pierre und Miquelon ist nicht nur das einzige französische Gebiet im Nordatlantik, sondern auch das älteste – und mit seinen 242 Quadratkilometern eines der kleinsten. Die schöne, wilde Natur, die vor den Eingriffen des Menschen geschützt ist, erinnert mich an »meine« Bretagne. Hier dreht sich praktisch alles um die Fischerei. Die bunten Holzhäuser sind ein Ebenbild ihrer Bewohner: fröhlich, herzlich, gastlich.

13.8.

Wir müssen schon wieder los: Wie bei jedem Zwischenstopp fällt die Trennung schwer. Die Laderäume von YVINEC sind mit Nahrungsmitteln vollgestopft. Ich bin gerührt und verlegen ob der Großzügigkeit, die die Bewohner mir erwiesen haben. Ich betrachte die Krümmung des Horizonts. Gletscher, Bären und Polarlichter erwarten mich.



Home! Auf der kleinen französischen Insel fühlt Monique sich wie zu Hause.


Gute Gesellschaft: Wale gesellen sich zu uns und schließen sich uns an.


Je höher die Breitengrade, umso stürmischer wird es. Ich bin am Bug, um die Segel zu richten, als eiskaltes Wasser sich über mich ergießt und bis auf die Haut durchnässt.

AUF NACH GRÖNLAND!

Je höher die Breitengrade, umso stürmischer wird es. Ein Tief kommt direkt auf uns zu. Ich bin am Bug, um die Segel zu richten, als eiskaltes Wasser sich über mich ergießt und bis auf die Haut durchnässt. Das Windrad dreht sich im Sturm wie verrückt. Umso besser. Es sorgt dafür, dass ich Strom an Bord habe, autonom bin. Das Sonnenlicht wird zusehends spärlicher, und die Nächte werden länger. Auf die Sonnenkollektoren kann ich nicht länger bauen.

18.8.

Der Wecker klingelt. Ich lasse mich alle 30 Minuten wecken, um die Segel zu überprüfen, den Kurs zu überwachen und zu checken, ob in der Nähe andere Schiffe kreuzen. Man nennt das Wache halten. Mein Körper hat sich schnell daran gewöhnt, ich bin kein großer Schläfer. In dieser Nacht ist alles klar. Kein Schiff. Die Luft ist kühl.

19.8.

Wir kommen hervorragend voran. Die Nächte unter dem mit Sternen übersäten Himmel sind schön. An diesem Abend ist es anders: Polarlichter tanzen am Himmel. Eine neue Premiere für mich. Ich kenne die rationale Erklärung für dieses Phänomen, werde aber von der Magie des Augenblicks davongetragen.

20.8.

Gestern ist der Süßwassertank ausgelaufen. Glücklicherweise habe ich noch Flaschen mit Mineralwasser. Ich werde mich einschränken und mit Salzwasser kochen müssen. Eine bittere – oder sollte ich lieber sagen »gesalzene«? – Erfahrung, wie ich beim Mittagessen feststellen durfte. Wie dem auch sei, es ist wirklich nicht toll.


Polarlichter tanzen am Himmel. Ich lasse mich von der Magie des Augenblicks davontragen.

23.8.

Plötzlich taucht er vor mir auf: mein erster Eisberg. Ich mag meinen Augen gar nicht trauen. Ein Berg aus Eis, mit 1.000 Facetten von Blau und Grün, gebieterisch zwischen Himmel und Wasser aufragend. Ich habe so sehr darauf gewartet. Künftig muss ich doppelt vorsichtig sein; Eisberge und Growler (Eisschollen) werden in diesen Gewässern immer zahlreicher. Eine Kollision könnte fatal sein. Wenn alles gut geht, müssten wir Grönland von hier aus in zwei oder drei Tagen erreichen.




ETAPPE
05
GRÖNLAND


1.395 MEILEN


239 TAGE


262 EIER


60° 43’ NORD, 46° 2’ WEST
GRÖNLAND

Nach etwa zehn Tagen voller Missgeschicke, aber auch Momente voller Staunen, sind wir jetzt in Grönland. Unser nächstes Ziel: überwintern.

25.8.2015

Soeben haben wir in Qaqortoq angelegt, einer der größten Städte im Süden Grönlands. Ich hatte befürchtet, dass Monique bei der Einreise Probleme verursachen würde, aber dieses eine Mal gibt es keinerlei behördliche Einreiseformalitäten.

Mit seinen zwei Millionen Quadratkilometer Fläche ist Grönland die größte Insel der Welt (wenn man Australien nicht als Insel betrachtet), paradoxerweise aber auch die bevölkerungsärmste Region des Planeten (ca. 60.000 Einwohner). Nur ein paar Dörfer säumen die Küste; der größte Teil der Insel ist zu einer dicken Eiskappe gefroren: dem Eisschild.



26.8.

Die kleinen bunten Holzhäuser, mit denen der Ort übersät ist, verleihen ihm ein fröhliches Aussehen und erinnern ein wenig an Spielzeug. Früher waren die Behausungen einfacher: Grassodenhäuser, Zelte oder Iglus, je nach Jahreszeit. Im Lauf von fast 4.000 Jahren haben sich die Inuit perfekt an diese extreme, vom Eis geprägte Landschaft angepasst.

Als 1721 dänische Missionare auftauchten, veränderten sich die Behausungen. Aus Skandinavien wurden zunehmend kleine, bunte Hütten aus Holz als Fertigbausätze importiert.

 

Traditionell war die Hausfarbe ein Hinweis auf die Funktion des Gebäudes: Geschäftshäuser waren rot, Krankenhäuser gelb, Polizeiposten schwarz und Fischfabriken blau.

Heute ist Grönland ein autonomer Bestandteil des Königreichs Dänemark und ein mit der Europäischen Union assoziiertes überseeisches Land. Die lebhaften Farben der Häuser sind nur noch fröhliche Relikte der Vergangenheit.

27.8.

Mit dem Ziel, uns im Oktober so weit nördlich wie möglich vom Eis einschließen zu lassen, brechen wir in Richtung der Hauptstadt Nuuk auf.

Die Szenerie auf See ist märchenhaft. Die Berge sind steil und felsig. Ihre Gipfel sind mit Schnee bedeckt, ihre Flanken von der Kälte wie verbrannt. Es gibt keinen Baum weit und breit, nur eine feine Schicht Moos bedeckt die Ebenen.

Wir setzen unseren Weg zwischen Tausenden kleiner Inseln durch sehr schmale Fjorde fort. Die Untiefen sind schlecht kartografiert. Ich muss auf Sicht navigieren, die Augen auf das Radar fixiert. Manchmal tauchen zwischen zwei Bergen feine Sandstrände auf. Morgen werden wir Ivittuut erreichen.



28.8.

Dieser Zwischenstopp in Ivittuut ist, gelinde gesagt, verwirrend. Der Himmel hängt tief, die Luft ist feucht, beim Einlaufen begrüßt uns ein gräulicher Nebel. Beim Anlegen betrachte ich aufmerksam die Küste, voller Freude, mich einem neuen Ort zu nähern. Doch von Weitem sieht das Dorf aus, als hätte man auf die Pausetaste gedrückt. Als ich festen Boden unter den Füßen habe, begreife ich schnell, dass hier niemand ist, keine Menschenseele. Türen und Fenster der Häuser sind vernagelt, Tiergerippe und Walknochen liegen verstreut in den Straßen.

30.8.

Nachdem wir mehrere Stunden lang »Auf der Suche nach der verlorenen Stadt« gespielt haben, machen wir uns wieder auf den Weg. Später erfahre ich, dass der Ort nach der Schließung seiner Kryolithmine im Jahr 1987 sukzessive aufgegeben wurde.

Wir übernachten jeden Tag an einem neuen Ankerplatz, ganz allein auf der Welt, mit dem Blick auf dieses Land, das mich fasziniert und unwiderstehlich anzieht.

Wir fischen unseren ersten wilden Lachs. Monique lässt es sich schmecken. Diese Henne ist zweifellos wie für mich gemacht. Es ist gut, autark zu leben, sich von dem zu ernähren, was die Natur um uns herum uns gibt. Wir wollen nicht zu viel zu nehmen, manchmal nicht einmal genug, bloß das Notwendige. Ein selbst gefangener Fisch ist einfach großartig. Das Verlangen veredelt sein Aroma, das Warten seinen Geschmack, und die Energie, die man aufwendet, um ihn zu fangen, verleiht ihm die richtige Würze.

Gestern haben wir in Paamiut angelegt, um uns auszuruhen. Gleich werden wir ablegen.


Fast wie in der Bretagne ...

6.9.

Wir steuern unter einem rosafarbenen Himmel, unter dem sich die Atemfontänen von Walen und ein paar kleine Robbenköpfe erahnen lassen, direkt nach Norden. Diese letzten Monate auf See haben meine Beobachtungsgabe verfeinert, meinen Blick geschärft. Ich suche das Meer nach Hindernissen, einem Tier oder einer Landschaft ab, die mich zum Träumen bringen könnte.

7.9.

Gestern sind wir am späten Abend in Qeqertarsuatsiaat angekommen. (Ja, ein unaussprechliches Wort, bei dem man oft zweimal ansetzen muss.)

Nach dem Besuch dieses 200-Seelen-Dorfs legen wir ab in Richtung Nuuk, der Hauptstadt. Das Navigieren ist unangenehm, der Wind stark, und die von vorn kommende Strömung bremst uns. Wir schlüpfen zwischen Tausenden kleinen Inseln hindurch, um dem Seegang auf dem offenen Meer auszuweichen. Wenngleich gefährlich, sind die Nächte spektakulär und voller Leuchten. Polarlichter blitzen am Himmel auf. Er ist so grün wie das fluoreszierende Plankton im Kielwasser des Boots. Surreal.

10.9.

Ich bin wie gebannt von den Eisbergen. Es gibt sie in allen Formen und Farben. Tausende von Tröpfchen strömen von ihnen herab und landen im Wasser. Sanft schmelzen sie unter der Sonne. Kein Laut ist zu hören. Ich fahre näher heran, um ein Foto zu machen.

Dann lasse ich YVINEC sozusagen im Schlepptau eines Eisbergs, indem ich sie vorn an ihm festmache. Ein großer Fehler. Zunächst unbekümmert, klettere ich ins Beiboot und fahre davon. Mein Foto wird großartig werden. Aus der Ferne schieße ich Bilder. Doch plötzlich verändert der Eisberg sein Aussehen, und das Wasser beginnt zu brodeln. Durch das Segelboot aus dem Gleichgewicht gebracht, neigt sich der Eiskoloss gefährlich zur Seite und zieht YVINEC mit sich fort. Mein Boot steckt seine Nase in brodelndes Wasser, sein Heck wird nach oben geschleudert. So schnell wie möglich kehre ich an Bord zurück. Zum Glück habe ich ein Messer in der Tasche, mit dem ich das Seil durchschneide und YVINEC befreie. Mit ohrenbetäubendem Lärm klatscht sie zurück aufs Wasser. Wir haben kaum Zeit, uns aus dem Staub zu machen, als der Eisberg buchstäblich untergeht. YVINEC schlingert in den Wellen. Einige Augenblicke später taucht der Eisberg in einer Wasserkaskade wieder auf. Er hat jetzt eine andere Form. Der Teil, der vorher unter Wasser war, ist jetzt im Freien, an der Luft. Er wirkt glasartig, ganz anders als die anderen Eisberge. Er gleicht einem Rohdiamanten, einem blauen Diamanten. Unglaublich und fantastisch.

Ich konnte ein Unglück vermeiden, und das Archimedische Prinzip ist bestätigt. In Zukunft werde ich auf Distanz bleiben.


Wir verlassen Paamiut im ersten Tageslicht des 5.9. Die Sonne hat den Himmel glutrot gefärbt.

NOTIZ AN MICH SELBST: DIE EISBERGE KENTERN: NIEMALS ZU NAH HERANFAHREN!

DIE ZIVILISATION / 11.9.

Am 11. September um 6:30 Uhr erreichen wir Nuuk. 16.000 Einwohner, für eine Hauptstadt ist das wenig. Dennoch gibt es Hochhäuser, Autos, Bars und Restaurants. Nach all den Wochen der Stille fühle ich mich ein bisschen verloren. Aber ich nutze die Gelegenheit: Ich gehe aus, berausche mich an der Gesellschaft anderer Menschen, bevor ich mich über Winter für viele Monate in die ersehnte Einsamkeit begebe.


STURMWARNUNG / 13.9.

Wir sind in Richtung Ilulissat unterwegs. Laut Vorhersage zieht ein Tief aus südlicher Richtung herauf. Das Boot flitzt in Rekordgeschwindigkeit über die Wellen. Der Augenblick ist magisch, wir fliegen im wahrsten Sinne des Wortes. Es sind die höchsten Wellen, die ich je gesehen habe. Die Brecher ergießen sich bis ins Cockpit, das sich in ein Meerwasserschwimmbecken verwandelt hat. Der Wind weht mit 60 Knoten, die Lufttemperatur beträgt 3 °C. YVINEC, deren Durchschnittsgeschwindigkeit sonst bei 5 Knoten liegt, rast mit mehr als 12, manchmal 16 Knoten dahin. Ich spüre meine Finger nicht mehr: Meine Hände kleben am Ruder. Ich bin eins mit meinem Boot, richte den Blick aufs offene Meer. Wir müssen schnell weg von der Küste und den zahlreichen Untiefen in der Nähe, damit wir am Ende nicht von den Felsen aufgespießt werden. Ich muss jede Woge voraussehen und das Boot rechtwinklig dazu ausrichten, damit es nicht kentert. YVINEC krängt, aber sie kippt nicht um und fährt weiter. Der Sturm dauert insgesamt 13 Stunden.

15.9.

Der gestrige Sturm hat meinen Motor zerstört. Die Leistung sinkt, dann gibt er den Geist komplett auf. Beim Auseinandernehmen stelle ich fest, dass er voller Wasser ist. Ich fahre jetzt unter Segel, YVINEC lässt sich kaum manövrieren. Doch ich muss präzise steuern, neben uns ragen majestätische Eisberge auf. Die geringste Kollision wäre fatal, denn das Eis ist hart wie Stein. Angst habe ich nicht, denn die Szenerie ist berückend, fast beruhigend. Wir sind ganz in der Nähe des Jakobshavn-Gletschers, eines der größten Gletscher der Welt, der von der UNESCO als Weltnaturerbe eingestuft wurde. Pro Jahr lösen sich von ihm Eisberge mit einem Gesamtgewicht von etwa 35 Milliarden Tonnen ab, das sind sechs bis zehn Prozent der gesamten Eismasse, die in der nördlichen Hemisphäre freigesetzt wird. Das macht die Diskobucht zu einem der atemberaubendsten Orte des Planeten.


ILULISSAT / 30.9.

In einem Meer von Farben kommen wir in Ilulissat an. Da ich ohne Motorkraft fahre, muss ich YVINEC mit dem kleinen Beiboot in den Hafen »stupsen«. Den Motor zu reparieren wird sicher kein Kinderspiel. Ich muss Ersatzteile in Belgien bestellen und habe keine Ahnung, wann sie eintreffen werden.

Während ich auf die Ankunft der Ersatzteile warte, stelle ich den Rest meiner Ausrüstung zusammen. Ich kaufe vor allem Kanister und Fässer für Diesel, damit ich während der Überwinterung heizen kann: sechs Fässer à 200 Liter, 15 Kanister à 60 Liter und 12 Kanister à 20 Liter. In Ilulissat gibt es mehr Schlittenhunde als Einwohner. Trotzdem ist es die touristischste Stadt Grönlands. Die prachtvollen Eisberge, die in die Diskobucht treiben, ziehen Neugierige aus aller Welt an. In den kleinen, pittoresken Häusern stechen die Souvenirshops ins Auge ..., aber ich bin auf der Suche nach mehr wilder Urtümlichkeit. Ich möchte noch weiter nach Norden, noch weiter weg.

16.10.

Nach über einem Monat ist der Motor endlich repariert. Karl, der Mechaniker, hat sein Möglichstes getan, um uns zu helfen. Jetzt heißt es nur noch auf gutes Wetter warten, bevor es wieder in Richtung Norden hinaus aufs Meer geht. Es ist höchste Zeit: Die Temperaturen fallen, und die Tage werden kürzer.

18.10.

Wir sind heute Morgen um 7 Uhr aufgebrochen. Die Nacht ist eisig, die Leinen sind gefroren, das Deck ist mit Schnee bedeckt und das Ruderblatt festgefroren. Ich musste mit einem hölzernen tuuq (einer Art Klinge mit langem Griff) minutenlang darauf herumschlagen, um es freizubekommen.

Die Ausfahrt aus dem Hafen erfordert akrobatische Manöver. Das Wasser ist vereist, und Eisberge blockieren den Weg. Nach einem dreistündigen Kampf mit sechs Kehrtwendungen bahnt sich YVINEC schließlich einen Weg ins offene Meer.

Von einem Ort zum anderen gelangt man hier nur übers Meer oder durch die Luft. Es gibt keine Straßen: Gletscher und Fjorde machen den Bau von Verbindungsstraßen zwischen den Dörfern unmöglich.

Wir steuern jetzt bei 10 Knoten Südwind im Zickzack zwischen den Eisriesen hindurch. Die Außentemperatur beträgt –12 °C. Mit dem Steuern scheint es schwierig zu werden. Ich werde ununterbrochen am Ruder bleiben müssen, um den zahlreichen Eisschollen auszuweichen. Auf den Autopiloten, der seit unserer Ankunft auf Grönland nicht mehr funktioniert, kann ich nicht zählen. Wir sind so nahe am Nordpol, dass der Kompass buchstäblich vollkommen durchdreht ...

REGEL NUMMER 1: NIEMALS DIE HOFFNUNG VERLIEREN!


20.10.

Wir kommen ebenso langsam wie schlecht voran. Die Sicht ist schlecht, und die Eisberge vor uns zwingen uns zu zahllosen Umwegen. Heute haben wir nur 20 Meilen geschafft.

Bei –20 °C ist alles auf dem Schiff komplett gefroren. Das Deck ist so glatt wie eine Eisbahn, und die Leinen so hart wie Holz. Damit ich sie benutzen kann, muss ich sie kesselweise mit kochendem Wasser aufweichen.

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