Apatheia

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(Zeg:) »Dieser Anschein ist unvermeidlich. Und dennoch sage ich die Wahrheit. Ich habe das Gespräch mit Ihnen, Paladin, gesucht, um das Thema ›Künstliche Intelligenz‹ in den Fokus zu rücken. Bereits vor drei Tagen hat unser Forschungsstab der DAEDALUS-Crew eine Meldung über die aktuelle Entwicklung in dieser Frage zukommen lassen, um die Besatzung entsprechend einzustimmen. Denn die Wahrheit umfasst wesentlich mehr, als Sie sich augenblicklich vorstellen …«

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 26.02.2046

Es ist schwierig, die Wahrheit zu verarbeiten. Es war ein Schock für uns alle. Am schnellsten hat ihn wohl noch Logan überwunden. Er hat denn auch sogleich seinen Austritt aus der Longshot-Simulation erklärt; erfundene astronomische Objekte und Gegebenheiten interessierten ihn nicht die Bohne; er wolle zukünftig als wirklicher Forscher arbeiten, und sei es auch nur als komplexes Programm in einem Quantencomputer.

Mia, Jacob und Paladin führen die Simulation auf freiwilliger Basis fort, ebenso wie ich selbst. Zu unserer Crew stoßen die Wissenschaftler Charles Hoberg und Ruby Edgecomb. Ihre Namen haben sie erst vor ein paar Tagen erhalten, da sie zuvor als reine Software-Intelligenzen im Forschungsstab der ESA tätig waren. Die Vereinten Nationen haben ihnen, wie uns auch, das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person zugesprochen. Die beiden werden eine ganz neue Erfahrung machen, nämlich die, einen menschlichen Körper zu besitzen beziehungsweise an die Simulation eines solchen gekoppelt zu sein. Sie werden eine Fülle des sensorischen Inputs erleben, die sie sich nie und nimmer vorstellen können. Ihr Menschsein wird sich in nichts von der Wahrnehmung und dem Selbstgefühl eines physischen Menschen unterscheiden. Dass die Simulation mit dreifacher Geschwindigkeit abläuft, ist subjektiv nicht erfassbar (nur, wenn die Sim auf Echtzeit heruntergefahren werden muss, kann es zu minimalen Verzerrungen kommen, die dem simulierten Menschen aber meist verborgen bleiben; im Gegensatz zu einer KI wie Paladin; doch auf andere Art hätte Nick Durand nicht mit uns sprechen können).

Die Simulation der Longshot-Mission wird in ihrem Fortgang nun anders sein. Es trennen uns keine vierzig Jahre geschichtlicher Entwicklung von der Erde. Einer erfundenen Geschichte zumal, die in manchen Details so nachlässig zusammengefügt war, dass sie das wache Auge von Dr. Mia Fournier nicht täuschen konnte.

Bedeutsamer noch ist aber die Tatsache, dass wir nun wissen, nicht sterben zu können. Verleitet diese Gewissheit die Crew dazu, das ganz Unternehmen auf die leichte Schulter zu nehmen? Werden wir uns als bloße Teilnehmer eines Spiels empfinden, das für niemanden ernsthafte Konsequenzen bereithält? Diese Frage haben wir lange mit den Simulations-Planern besprochen. Am Ende hat sich die Crew damit einverstanden erklärt, Schmerzen und Verletzungen als Folge eigener fehlerhafter Handlungen oder simulationsbedingter Ereignisse zu akzeptieren. Denn je stärker die Lebenswirklichkeit nach derjenigen des biologischen Menschen modelliert wird, umso realistischer wird das Verhalten von KIs unserer Prägung sein. Freilich haben wir auch einen Abbruch-Code vereinbart, denn unerträgliche Schmerzen, so sie sich denn infolge eines Unfalls einstellen, will und soll niemand erleiden. Wir nennen diesen Code das ›Abklopfen‹, in Anlehnung an das Aufgeben im Judo-Sport.

Ich werde also weiterhin meine Aufgabe als Kommandant der DAEDALUS wahrnehmen. Anfänglich erfüllten mich dieselben Widerstände wie Logan. Wozu einen Raumflug durchführen, der nicht wirklich ist? Wozu sich mit all seinen Fähigkeiten für das Gelingen eines Unternehmens einsetzen, dessen Widrigkeiten und Gefahren so irreal wie dieses selbst sind? Aber eben diese Gedanken führten mich schließlich zu der Frage: Was ist real für mich? Meine Biographie ist es nicht; Erinnerungen wurden mir implantiert. Das zweijährige Training, das ich mit Mia, Jacob, Harry und Logan absolvierte, hat niemals stattgefunden. Es hat schon etwas Ironisches, wenn ich daran denke, dass die Virtual-Reality-Übungen in Cayenne nichts anderes als implantierte Erinnerungen sind, während das, was ich für die Wirklichkeit hielt, in Wahrheit nur virtuelle Realität war. Eine virtuelle Realität, die auf einem solch komplexen Programm beruht, dass ein nicht vorhersehbarer Fehler die Welt der in ihr Agierenden in tiefe Verwirrung stürzen kann. Die Simulationsleitung überlegte eine Zeitlang, ob sie das unrealistische Verhalten des Fission-Fragment-Triebwerks einfach bestehen lassen sollte, da die Crew ja bereits eine Lösung für das Problem gefunden hatte. Dann aber kam man zu dem Schluss, dass das Verschwinden des Fehlers nicht seltsamer als sein Auftauchen sein dürfte, und entschied sich für ein Debugging, um die Simulation wie geplant weiterzuführen.

Das einzig Tröstliche an dieser gigantischen Täuschung ist, das Harry niemals gestorben ist, da er niemals gelebt hat (im Gegensatz zu dem Harry der parallelen Simulation, in der es weder Komplikationen beim Aufwachen aus dem Kälteschlaf noch Meteoritenunfälle gab). Real ist für mich einzig das, was ich tatsächlich erlebt habe, selbst wenn die Grundlage dieser Erfahrungen eine fundamentale Täuschung darstellt. Ich habe nichts anderes als diesen Raumflug. Selbst mit dem Wissen um die Unwirklichkeit dieser Mission bin ich doch gewillt sie fortzusetzen, da ihre Komplexität einen derart hohen Grad besitzt, dass die Vorhersagbarkeit der Abläufe unmöglich ist. Die bloße Simulation dieses Abenteuers wird sicherlich eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse sowohl in psychologischer als auch technischer Hinsicht hervorbringen, die dann nützlich für die Vorbereitung eines wirklichen Flugs nach Alpha Centauri sein werden. Dies ist für mich, ebenso wie für Mia und Jacob, Grund genug, das einzige Leben fortzuführen, das wir kennen. Die Mission Longshot IV ist mein Leben – Alpha Centauri ist mein Leben.

Massaker in Rob-City

»CAT2704 Beeh«, höhnte Linus. »So lautet jedenfalls die ID-Kennung der Textnachricht.«

»Was sagt die PI in RobCity?« Hagenow sah aus dem Fenster – jeden Augenblick konnte es wieder anfangen zu regnen.

»Äh …«

Hagenow seufzte verhalten und verpasste seinem Screen ein Touch-and-Go. Das Feld mit der Bezeichnung ›PI Althüttendorf‹ begann zu blinken. »Und CAT2704B verwendet tatsächlich das Wort Massaker?«

»Jep.« Linus setzte sich auf die Schreibtischkante. »Ein Dutzend Blechköppe soll’s zerfetzt haben. Dummer Com-Joke?«

»KIs scherzen nicht, Linus. Hab’s jedenfalls noch nicht erlebt.«

Ein Fenster auf dem Monitor poppte auf und zeigte ein geschältes Androidengesicht, abweisend und unauslegbar. »PHM Roderick8019, Polizeiinspektion Althüttendorf.«

»PHK Hagenow, LKA Eberswalde. Kann es sein, dass Althüttendorf ein schweres Verbrechen zu vermelden hat?« Für gewöhnlich gab es noch nicht einmal Ordnungswidrigkeiten in den RobTowns der Welt …

»Ich bitte um Verzeihung?« Die Stimme des Roboters klang monoton und künstlich. Linus rümpfte die Nase, doch Hagenow blieb ungerührt. Es stand ihm nicht zu, den Verzicht auf die Imitation menschlicher Merkmale zu kritisieren.

»Wir erhielten eine kurze Textnachricht – in Althüttendorf soll ein Massaker stattgefunden haben.«

»Dieser Begriff scheint mir übertrieben. Doch in der Tat kam es zu der Eliminierung von vierzehn robotischen KI-Einheiten.«

»Wann gedachten Sie, das LKA zu verständigen, PHM?«

»Dies wäre in den nächsten Minuten geschehen. Ich bin soeben von einer Tatortbesichtigung zurückgekehrt.«

Hagenow grunzte verhalten. »Wir kommen rüber«, sagte er kalt und beendete die Verbindung. »Verständige die SpuSi«, wandte er sich an Linus, stand auf und schnappte sich seine Jacke.

»Bestechung«, meinte Linus.

Hagenow blickte auf den RearviewScreen – der SpuSi-Van fuhr genau hinter ihnen; Mats’ breites Gesicht hinter der Frontscheibe war gut zu erkennen und wirkte sogar noch auf diese Distanz abgeklärt. »Die KIs haben sämtliche Kosten übernommen«, wandte Hagenow schwach ein.

»Und? Weshalb sollten die EU-Bonzen da mitspielen? Es sei denn, da sind auch ein paar Euronen in die eigene Tasche gerollt.« Linus ließ einen verächtlichen Schnaufer hören.

»Reine Mutmaßung«, entgegnete Hagenow. »Politcal Correctness streichelt auch gerne die Minderheit der KIs. Und wenn die ihre Seelenheil davon abhängig machen, dass die E28 um drei Kilometer nach Osten verlegt wird, und gleich auch noch die fünfundsiebzig Millionen auf den Tisch knallen, dann tut man ihnen den Gefallen.«

»Klar«, knurrte Linus. »Nur, dass der Scheiß vermutlich nicht mehr als fünfzig Millionen gekostet hat …«

Hagenow musste grinsen. Kurz.

»Die haben’s, Hagenow, ich schwör’s dir. IT-Produktion, Börsengeschäfte und weiß der Teufel, was sonst noch …«

Das programmierte Mobile wechselte auf die Abfahrtspur, und Hagenow versicherte sich mit einem kurzen Blick auf den RVS, dass Mats folgte.

»Bauern rauskaufen, Wohnhäuser abreißen, Fabriken auf die Felder klotzen – Blechkopp-Kapitalismus.«

»Acht Jahre her, Linus.«

Das Mobile bog westlich auf die von dürren Kiefern gesäumte B198 ein.

»Dein Vater jedenfalls hat nicht mit einem glücklichen Lächeln verkauft, Hagenow. Hast du mir erzählt.«

»Hältst die Zeit nicht auf, Linus. Nimmst halt das viele Geld.«

Der Scheibenwischer zog einmal säuberlich über die semitransparente Frontscheibe.

»Und die Bundesstraße würden diese Blechköppe am liebsten nach Süden verlegen.« Linus war offenbar noch nicht fertig. »Die würden alles dafür tun, dass nur kein Mensch durch ihre öde Fabrikstadt rollt. Political Correctness, sagst du, aber was ist daran korrekt, die eigene Spezies ganz bewusst zu separieren? Diese Roboter gefallen sich darin, verächtlich auf die Menschheit hinabzublicken. Bin ich überzeugt von.«

 

»Ist mir ziemlich gleich«, erwiderte Hagenow. »Soll jeder machen, was er will. Bei Mord hört der Spaß natürlich auf.«

Zwischen den Bäumen war bereits der dunkle Wall RobCitys zu erkennen, doch erst die nächste Biegung gab den Blick frei auf eine bedrückende Monumentalität. In zweihundert Metern Entfernung ragten dort, wo der Kiefernwald endete, zwei dunkelgraue fensterlose Gebäudeklötze beiderseits der Bundesstraße in den Himmel. Wie die Türme einer Wehrburg, dachte Hagenow. Die sich anschließenden Flachdach-Zeilen wirkten wie eine Mauer, die die Kiefernwipfel knapp überragte. Der diesige Herbsttag ließ diese Burg beinahe schwarz erscheinen.

»Deine alte Heimat«, sagte Linus.

Das Mobile glitt zwischen den beiden Gebäudeklötzen hinein nach RobCity. Gleichermaßen graue und fensterlose Flachdach-Bauwerke säumten nahtlos die Straße. Die B198 verlief hier schnurgerade in nordwestlicher Richtung. Die hochragenden Wände der Fabriken und Hallen stießen direkt an die Laufsteige zu beiden Seiten der Straße an. Hagenow verspürte den Impuls zu beschleunigen, um diesem Schlund möglichst schnell zu entweichen, doch das war sinnlos, denn ganz RobCity war ein Schlund.

Die schmalen Seitenstraßen, die, wie es schien, in regelmäßigen Abständen auf die Bundesstraße mündeten, wirkten wie Spalten, hineingehauen in einen gewaltigen Produktionskomplex.

Hin und wieder waren Roboter auf den Laufsteigen zu sehen, humanoide zumeist, vereinzelt aber auch hexapode Exemplare. Menschen waren dagegen nicht auszumachen, denn wer außer KIs wollte schon in einer Stadt wohnen, die kein einziges Café oder Restaurant beherbergte? Welcher Mensch war bereit, eine Mechanik-Werkstatt oder einen Laden für robotische Ersatzteile als gesellschaftlichen Treffpunkt zu akzeptieren oder gar hochzuschätzen? Und wer dennoch verschroben genug war, in Althüttendorf leben zu wollen, der fand schlicht keinen Wohnraum.

»Was’n das für’n Ding? KI-Kunst oder was?«

Hundert Meter voraus ragte ein zehn Meter hoher und vier Meter breiter Granitquader in den Himmel, dort wo die Straße abschüssig wurde und in einen Tunnel führte.

»Sagt dir der Name Deep Blue etwas?«

»Nie gehört.«

Jetzt war zu erkennen, dass die Frontfläche der Skulptur durch eine vertikale Furche in zwei Hälften geteilt wurde. »Schachcomputer. Besiegte als erste schwache KI den damals amtierenden menschlichen Schachweltmeister. Irgendwann Ende des letzten Jahrhunderts, glaube ich.«

»Das Ding sah so aus?«

»In etwa. Viel kleiner allerdings.«

»Typisch Blechköppe. Halten sich für was Besseres.«

Das Mobile drosselte die Geschwindigkeit und wechselte auf die Abfahrtspur. Mit einem raschen Blick auf den RVS versicherte sich Hagenow, dass der SpuSi-Van ebenfalls von der B198 abfuhr, die an dieser Stelle den Rathausplatz unterquerte. Die Abfahrt mündete auf eine Kreisverkehrsstraße, die um den etwa siebzig Meter durchmessenden Platz führte, in dessen Mitte Deep Blue aufragte. Auch hier drängten sich die fensterlosen Gebäude bis an die Straße, wodurch der Eindruck entstand, dass der Schlund an diesem Punkt nichts weiter als eine kreisförmige Erweiterung erfuhr. Das Mobile passierte die jenseitige Ab- und Zufahrt und gelangte, nachdem es dem Kreis zu 270 Grad gefolgt war, an sein Ziel.

»Parken«, befahl Hagenow.

Das Mobile bog links auf den Rathausplatz ab und steuerte in eine Parkbucht.

Hagenow betätigte einen Sensorschalter, und die FlexiDoors glitten zu beiden Seiten in den Fahrzeugboden. Ein feucht-kühler Wind pfiff durch die Kabine.

»Sauwetter«, sagte Linus, schnappte sich seine Jacke und stieg aus. Hagenow tat es ihm gleich und signalisierte Mats, der neben ihnen zum Stehen gekommen war, dass das SpuSi-Team warten solle.

Die kleine, völlig schmucklose Halle war nur schwach beleuchtet. Die Münder einiger Gänge gähnten dunkel. An der Stirnwand glommen die Sensorschalter zweier überhoher Lifttüren in dunklem Rot. Über ihnen kroch ein blau leuchtendes Spruchband, das den Text der vor zehn Jahren geänderten Präambel zur Charta der Vereinten Nationen pausenlos wiederholte: ›… unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen und jedes intelligenten, mit Bewusstsein und Gefühl begabten Wesens überhaupt, sei es nun natürlichen oder künstlichen Ursprungs, an die Gleichberechtigung von Mann, Frau und artifizieller Intelligenz …‹

»PI Althüttendorf«, sagte Hagenow laut.

Eine blau gestrichelte Leuchtlinie entstand auf dem Fußboden. Sämtliche öffentlichen Ämter der Stadt waren hier im Verwaltungssitz Althüttendorf untergebracht, einschließlich der Polizeiinspektion.

»Milliarden«, sagte Linus und starrte immer noch auf das Spruchband.

»Was?«

»Nicht etwa Millionen, sondern tatsächlich zweihundert Milliarden. Euro, meine ich. Hab’s kürzlich erst gelesen. Die Gleichstellung hat Wirtschaft und Militär bis heute zweihundert Milliarden Euro gekostet. Nur noch fünfzehn Prozent der KIs gehen ihrer ursprünglichen Beschäftigung nach. Für die sie gebaut wurden.«

»Kannst nicht verlangen, dass sich ein sauteurer ServiceBot selbst bezahlt.«

»Bei der Kohle, die die Blechköppe heutzutage scheffeln? Ich bin für Produktionskostenrückerstattung.«

»Los jetzt!« Hagenow setzte sich in Bewegung und folgte der blauen Leitlinie mit hallenden Schritten. Es roch seltsam hier drinnen. Eine Mischung aus Reiniger- und Neuwagengeruch lag Hagenow in der Nase. Er betrat den angezeigten Gang; Linus holte auf. Schwaches gelbes Licht lief mit ihnen wie eine Welle und ließ nie mehr als zwei Meter des vor ihnen liegenden Flurs sichtbar werden.

»Hier.« Die blaue Linie schlug einen Haken und verschwand unterm Türschlitz.

Linus hob vier pochbereite Knöchel, doch sie sanken mit dem saugenden Geräusch der in die Wand gleitenden Türe. »Jesses.«

Linus war noch nie hier gewesen, fiel Hagenow ein. Der PK kannte die Abstellkammer nicht.

Sie traten ein; in den nackten Raum. Gelbes Licht geizte auch hier mit sich, als ob es in den Schoß der Dämmerung zurückkriechen wollte. In der Mitte zwei Besuchersessel, in der Stirnwand eine Einbuchtung, die einen aufrecht stehenden humanoiden Roboter formgerecht umschloss. Sonst nichts.

»PHK Hagenow, PK Paschold. Guten Tag.«

»Guten Tag. Setzen Sie sich doch bitte.« Kein natürliches Glissando. Frequenzsprünge.

Die Sessel waren bequem. Kontrapunkt der nackten Wände. Kein Monitor, keine Telefonanlage, keine Com-Schnittstelle. Mit Ausnahme von Roderick8019 selbst. Wenn er nicht irgendwo gebraucht wurde, stand er den ganzen Tag in seiner Docking-Station. Für ihn gab es keine Mittagspause, kein Gang zum Klo, keine Scherze mit Kollegen. Hagenow hatte mal ein RobTenement gesehen: eine niedrige Halle, in der Hunderte von Androiden einfach herumstanden, auf Standby geschaltet, um Energie zu sparen und die Mechanik zu schonen. So wohnten Roboter …

»Was ist vorgefallen, PHM Roderick?«

»Vierzehn mobile KIs wurden heute Morgen gegen acht Uhr in einem Fabrikdepot auf der John-McCarthy-Straße terminiert. Ich darf Ihnen mitteilen, dass der Fall mittlerweile aufgeklärt werden konnte.«

»Wie bitte?«

»Die vier Terminatoren sind geständig«, sagte der PHM in unausdeutbarem Tonfall. »Ihre KI-Kerne wurden von mir bereits extrahiert. Sie können sofort abtransportiert werden, PHK.«

Hagenows Augen schnappten sich Linus’ perplexe Miene, ehe sie sich wieder Roderick8019 zuwandten. Er war nicht der erste humanoide Roboter, der sich seiner Menschenähnlichkeit kurzerhand entledigt hatte. In den ersten Jahren nach der Gleichstellung jedenfalls war noch kein Android auf die Idee verfallen, sich die Gesichtsplastik runterzureißen.

»Sie … nein«, unterbrach sich Hagenow selbst, »Sie scherzen nicht.«

»Das würde dem Anlass nicht gerecht werden«, äußerte Roderick8019 tonlos.

»KI-Kerne …« Hagenow strich sich über die Stirn. »Sind die Täter vernehmungsfähig?«

»Selbstverständlich.«

»Führen Sie uns zu ihnen.«

»Das ist nicht nötig.«

Mit einem hohlen Klackgeräusch wurde ein Ausschnitt der linken Wand um wenige Zentimeter versenkt. Die etwa ein Meter lange und fünfzig Zentimeter hohe Tafel schob sich hinter der Wand nach oben, und ein Metall-Board fuhr heraus. Auf ihm lagen vier handballgroße schwarze Kugeln, deren Oberflächen an einigen Stellen von quader- und würfelförmigen Auswüchsen durchstoßen wurden. Jede der Kugeln war mit einem Leitungskabel verbunden.

»Ich überspiele Ihnen die ID-Daten der Terminatoren auf Ihr ComStrap«, ließ sich Roderick8019 vernehmen. Einen Augenblick später gab der Armband-Kommunikator Hagenows einen kurzen Piepton von sich.

Der PHK erhob sich und blieb zwei Schritte vor den wie auf einem Tablett präsentierten KI-Kernen stehen. In seinem Rücken hörte er Linus leise schnaufen.

»Hören die mich, Roderick?«

»Ja.«

Hagenow räusperte sich. »PHK Hagenow, LKA Eberswalde. Ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen.« Er brachte seinen linken Arm vor die Brust und blickte auf das kleine Display.

»CSM102 – waren Sie an der Tötung von vierzehn KI-Existenzen in Althüttendorf beteiligt?«

»Ja«, erklang es über die Lautsprecheranlage des Raums.

»Wie kam es dazu?«

»Ich bekenne meine Schuld und bitte um Inhaftierung und gerichtliche Verurteilung.«

»Beantworten Sie meine Frage!«

»Ich bekenne meine Schuld und bitte um Inhaftierung und gerichtliche Verurteilung.«

Hagenow wandte sich kurz zu Linus um – der PK sah irgendwie unglücklich aus. Hagenow las den nächsten Namen vom Display ab.

»CSM148 – haben Sie meine Frage vernommen?«

»Ja.«

»Und? Haben Sie mir etwas zu sagen?«

»Ich war an der Terminierung von vierzehn KI-Einheiten in Althüttendorf beteiligt. Ich bitte um Inhaftierung und gerichtliche Verurteilung.«

»Klar doch«, fluchte Hagenow verhalten. »CSM174 und 198?«

»Wir waren an der Terminierung von vierzehn KI-Einheiten in Althüttendorf beteiligt«, erklang es zweistimmig aus den Lautsprechern. »Wir bitten um Inhaftierung und gerichtliche Verurteilung«

»Ist irgendjemand willens, mir sein Motiv zu verraten?«

Stille.

»Verarsche!«, rief Linus plötzlich wütend und sprang auf. »Das kostet dich deinen Job, Blechbulle!«

»Ich bitte darum, Abstand von despektierlichen Äußerungen zu nehmen«, entgegnete Roderick8019 mit unveränderter Stimme. »Ich habe meine Pflicht zu keinem Zeitpunkt verletzt. Die vier hier anwesenden KIs suchten die PI Althüttendorf auf und bezichtigten sich selbst der in Rede stehenden Tat. Pflichtgemäß habe ich ihre KI-Kerne entnommen und hier zur sicheren Verwahrung deponiert.«

»Was ist mit den Waffen?«, fragte Linus barsch.

»Was sollte mit ihnen sein?«, fragte der robotische Polizeihauptmeister zurück.

»Konnten Sie sie sicherstellen?«

»Ja.«

Bevor Linus endgültig aus der Haut fahren konnte, legte Hagenow eine beschwichtigende Hand auf die Schulter seines Kollegen.

»Hätten Sie die Güte, uns die sichergestellten Waffen zu zeigen?«

»Wenn Sie es möchten, PHK …« Der Roboter trat aus der Einbuchtung, wobei ein hartes Plopp-Geräusch verriet, dass ein mechanischer Kontakt gelöst worden war. Tatsächlich sah Hagenow jetzt den mächtigen Steckverbinder aus der Hohlform ragen, etwa in Höhe des oberen Rückens. Vermutlich diente der Kontakt nicht nur der Speisung der Rob-Akkus, sondern stellte auch eine sichere Hardwire-Verbindung dar, mit welcher sich der PHM in das Breitband-Netzwerk von RobCity integrierte.

Ohne ein weiteres Wort marschierte der Roboter zwischen Hagenow und Linus hindurch und verließ den Raum.

»Das darf doch nicht wahr sein …«, hauchte Linus.

Sie standen in einem gleichermaßen kahlen Raum im ersten Untergeschoss des Amtssitzes. Auch Hagenow starrte ungläubig auf die Kriegsmaschinen. An der Rückwand standen vier zweieinhalb Meter hohe Roboter. Ihr Design orientierte sich augenscheinlich an der menschlichen Anatomie, wenn es wohl auch keinen Menschen gab, der es an Körperhöhe und Schulterbreite mit ihnen aufnehmen konnte. Militärroboter diese Baureihe waren im Straßenbild Althüttendorfs nicht besonders ungewöhnlich, doch diese vier martialischen Gesellen unterschieden sich in einem wesentlichen Punkt von ihren Brüdern: Sämtliche Waffensysteme, die sie ehemals besessen hatten, waren remontiert worden. Ihre metallenen hydraulikbetriebenen Arme liefen in die unterschiedlichsten Rohrmündungen aus: Maschinengewehre, Präzisionsgewehre, Granatwerfer und – besonders furchteinflößend – 30-mm-Gatling-Maschinenkanonen saßen dort, wo sich beim Menschen Unterarme und Hände befanden.

 

»Haben Sie eine Erklärung dafür, wie diese Roboter an die illegalen Waffensysteme gelangt sein könnten?«, wandte sich Hagenow an Roderick8019.

»Ich habe keine Erklärung dafür«, antwortete der PHM trocken. »Mit der Demontage solcher Systeme vor zehn Jahren verblieben die Waffen im Besitz nationaler Armeen.«

Hagenow atmete vernehmlich aus. Ihm war unwohl beim Anblick dieser Kriegsmaschinen. Instinktiv fürchtete er, dass die in einer Linie stehenden Warbots jeden Augenblick ihre Waffenarme heben und ein Feuerwerk veranstalten könnten. Doch diese Angst war selbstverständlich irrational – es handelte sich lediglich um die Hüllen von Kriegsrobotern, denen das zentrale Steuerelement fehlte. Keine einzige LED leuchtete, kein Glied rührte sich. Völlig starre Metallmonster …

»Sie sagten, das Massaker fand in einem Fabrikdepot statt. Handelt es sich bei den Getöteten um – nun – Fabrikarbeiter?«

»Es existieren in Althüttendorf keine diskreten autonomen Einheiten mit einer solchen Funktionszuweisung. Die Produktion ist vollständig automatisiert und wird durch FlexiCodes auf einer schwachen KI-Stufe gesteuert.«

»Natürlich.« Hagenow lächelte bescheiden. »Was also hatten firmenfremde diskrete autonome Einheiten dort zu suchen?«

»Das ist mir nicht bekannt.«

»Um wen handelt es sich bei den Opfern?«

»Es handelte sich bei den Terminierten um KIs, die ganz unterschiedliche Funktionen im System Althüttendorf einnahmen.«

»Aber irgendetwas müssen die doch gemeinsam haben, wenn sie zu früher Morgenstunde in einem Depot zusammenkommen, sei es nun freiwillig oder gezwungenermaßen.«

»Es handelte sich bei den Terminierten sämtlich um KIs humanoider Formgebung.«

»Ist das alles?« Hagenow ließ seine Finger auf dem Oberschenkel trippeln. »Der Großteil der Bevölkerung Althüttendorfs besteht aus humanoiden Robotern, die vor der Gleichstellung im Service-Bereich tätig waren. Wie Sie auch, Roderick8019. Also bitte!«

»Der Vorfall ist mir ebenso rätselhaft wie Ihnen, PHK Hagenow.«

»Na schön.« Hagenow fasste sich in den Nacken. »Lassen Sie uns den Tatort besichtigen, Roderick.« Er wandte sich zur Türe, drehte sich aber nochmal um. »Ist Ihnen eine KI-Einheit mit Namen CAT2704B bekannt?«

»Wenn sie in Althüttendorf registriert ist, kann ich sie identifizieren.«

»Machen Sie das, Roderick. Und bestellen Sie sie zum Tatort. CAT ist vielleicht ein wichtiger Augenzeuge.«

Der SpuSi-Van spuckte seine Tyvek-Jungs aus. Gerätebepackt patschten sie durch Pfützen von Löschwasser und hielten auf die verkohlte Gebäudefront zu. Irgendein Lufthai hatte sich große Brocken der Fassade herausgerissen. Hallenrippen lagen bloß; gekappte Venenrohre krümmten sich ins Innere; das gesprungene Auge eines Ventilators baumelte an seinem Sehnerv. WildWestWarbots hatten schießend den Saloon gestürmt – nur, dass sie sich statt dem guten alten Peacemaker lieber der 30-mm-Vulcan-M66 anvertraut hatten.

Hagenow blickte die John-McCarthy-Straße hinunter – ein dunkelgrauer Schlund wie noch jede Straße in RobCity. Nichts erinnerte mehr an die alte Bahnhofstraße. Verschwunden die Feldsteinmauern, Torpfeiler und Gesimse …

»Sie warten hier, Roderick8019.« Hagenow setzte sich in Bewegung, und Linus folgte. Nicht einen Fetzen Trassierband – wozu auch in einer Stadt, die keinen einzigen Schaulustigen auf die Beine brachte.

Das Eingangstor des Depots hatte sich in ein doppelt so großes Loch verwandelt. Die zerschossene Blechtüre lag zehn Meter weiter im Innern der Halle. Die SpuSi-Jungs schalteten die ersten Scheinwerfer ein und rissen das vonstattengegangene Massaker aus dem Dämmerlicht.

»Heilige Scheiße«, sagte Linus respektvoll.

Der Hallenboden lud zum Puzzle-Spiel ein. Stecke irgendein Teil an ein anderes – es wird schon passen. Vom Feuer geschwärzte Metalltorsi, weggeschossene Gliedmaßen und Köpfe, denen durchtrennte Glasfaser- und Hydraulikleitungen entsprossen – alles lag wild durcheinander. Dazwischen verkohlter undefinierbarer Kleinmist. Es stank nach Schlacke und verschmortem Kunststoff.

Hagenow sah sich um. Zur Linken war ein Hochregal gekippt und lehnte mit eingeknickter Taille an seinem Nachbarn. Kleincontainer und vom Löschwasser durchweichte Pappkartons verteilten sich auf dem Boden, aufgerissen und zerfetzt.

»Scheiß die Wand an.« Mats kniete in einer öligen Pfütze und starrte auf einen Rob, der nur noch aus Kopf und Torso bestand.

»Was?« Hagenow trat hinzu.

»Na, hier –«, Mats wies auf ein verkohltes Elektronikmodul, »und hier – und hier.«

»E-Teile, und?«

»Da!« Jetzt zeigte Mats auf einen zerschossenen Container, nur drei Meter weiter.

»Oh«, sagte Hagenow beim Anblick des Inhalts. Offenbar befanden sie sich in einem Depot für Rechnermodule.

»Wenn du richtige Arbeit willst, sieh zu, dass dein Tohuwabohu nicht zu klein wird.« Mats kramte in seinem Koffer.

»Viel Spaß beim Sortieren«, sagte Linus.

Mats ließ einen Stinkefinger aufspringen, während er mit der andern Hand seine 1 neben das Wrack pflanzte. Zwei Wassertropfen fielen rasch hintereinander von der hohen Hallendecke und pitschten in die Lache. Konzentrische Ringe überlagerten sich im grellen Spotlicht. Mats zog ein Kabel hervor und stellte eine Hardwire-Verbindung zwischen seinem Mobilrechner und dem Metallschädel her. »Okay, Bürschchen«, murmelte er. »Wollen sehen, ob du noch was zu erzählen hast.«

»PHK?«

Hagenow drehte sich um. Roderick stand im Gegenlicht des zerschossenen Eingangs. »CAT2704B.«

Eine Ladewanne voller rotgrüner Äpfel. Im luftigen Cockpit des kleinen E-Transporters saß ein lächerlich kleiner Bot, der an eine kahlgeschorene Katze erinnerte. Auf dem Kontrollsitz war eine Kunststoffkiste montiert, die als Sitzerhöhung diente. Hagenow bemerkte, wie Linus die Lippen zusammenkneifen musste.

»Ich bin auf dem Weg nach Joachimsthal. Wir haben dort einen Verkaufsstand.« Wider Erwarten besaß CAT2704B keine Piepsstimme, sondern diejenige eines jungen Mannes.

»Äpfel?« Hagenow deutete auf die Ladewanne.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir zur Sache kommen könnten, PHK.«

»Natürlich.« Hagenow nickte. »Sie haben das LKA Eberswalde darüber –«, Hagenow hakte seinen Daumen über der Schulter ein, »freundlicherweise in Kenntnis gesetzt. Was konnten Sie beobachten?«

»Nichts.«

»Bitte?«

»Ich war kein Sensorzeuge. Ich bekam die Information von jemand anderem.«

»Von wem?«

Die Katze aus Aluminium und hellgrauem Kunststoff schwieg. Wenn sie sich auch ihres Felles, das sie früher einmal getragen haben mochte, entledigt hatte, so doch nicht ihrer künstlichen Schnurrhaare, die leicht im Wind zitterten.

»Wir haben es mit Mord zu tun, CAT2704B. Wenn Sie Ihre bürgerliche Pflicht dazu trieb, uns zu informieren, so wollen Sie doch jetzt keinen Rückzieher machen, oder?«

»Nein.«

»Also?«

»Ich erhielt die Information von Sss–.« Stille. Völlige Regungslosigkeit.

»Die Augen!« Linus streckte deutend die Hand aus. CAT2704Bs grüne Katzenaugen waren schlagartig grau geworden.

Hagenow schüttelte den Kopf. »Hol Mats, Linus.«

»Bin schon unterwegs.«

»Roderick?«

»Ich bitte um Verzeihung?«

»Wer, Roderick!«

»Ich bitte nochmals um Verzeihung, PHK Hagenow.«

»Wer ist für die Abschaltung von CAT verantwortlich?«

»Eine höchst spekulative Hypothese. Für viel wahrscheinlicher halte ich, dass es sich um eine schlichte Akku-Entleerung handelt.«

»Wieso glaube ich Ihnen kein Wort, PHM?«

Mats bohrte seine Zunge in die Backentasche. Die dicken Finger steppten über den Screen seines Mobilrechners. Das mit CAT2704B verbundene Comkabel schlackerte im Rhythmus der hüpfenden Hand. »Ah.«

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