Apatheia

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»Ich danke Ihnen, Mr Mayo. Ich denke, ich habe nun genügend Informationen gesammelt, um Lieutenant General Heggen den Fall aus meiner Warte darzulegen. Sie sind entlassen, und bitte – äh – nehmen Sie auch Goliath mit.« Seine Hand wies fahrig auf mich schwarzen Klumpen.

Ich hörte, wie Jason aufstand. »Danke, Sir!«

Und dann schwang mein Blickfeld so rasch herum, als ob ich an einem Kettenkarussell hing.

3rd Platoon der Echo Company des 1-87 Infantry Battalion, sechs Meilen westlich von FOB Nevins, Nordwaziristan, Pakistan. Zwei Jahre zuvor.

Ich rannte über die karge, mit Hartgräsern und niedrigen Dornbüschen bewachsene Ebene. Meine anderthalb Tonnen Gewicht ließen den Boden erbeben und produzierten eine hinter mir hochsteigende Staubfahne. Dreihundertfünfzig Yard trennten mich von der Ansammlung niedriger Flachdachhäuser, von denen aus unser Platoon unter Beschuss genommen worden war.

Neunhundert Sekunden hatte das Feuergefecht gedauert, ehe sich 2nd Lieutenant Tibbs für einen AIROCS-Killing-Run entschied. Einen Luftschlag anzufordern, kam nicht infrage, da wir keinerlei Informationen über mögliche Zivilisten in den Häusern besaßen. Mit der Entscheidung für einen AIROCS-Killing-Run ging Lieutenant Tibbs ein gewisses Risiko ein, da selbst ein so kampfmächtiges System, wie ich es war, gegenüber einer Panzerabwehrwaffe kaum eine Chance hatte. Da die Insurgenten aber bislang auch keine Mörser eingesetzt hatten, verfügten sie möglicherweise lediglich über ihre AK-47-Sturmgewehre. Und ein Projektil aus dieser Waffe konnte mir nichts anhaben, im schlimmsten Fall einen meiner Sensoren beschädigen.

Aber es kamen keine Projektile. Die Aufständischen hatten das Feuer eingestellt, und ich beschleunigte meinen Donnerlauf bis zur Grenze des Möglichen. Ich umrundete das am östlichen Ende gelegene Haus und registrierte den startenden Pickup, auf dessen Ladefläche sich ein bewaffneter Mann schwang. Sofort richtete ich meinen linken Waffenarm mit der integrierten M61A1-Vulcan-Maschinenkanone aus und eröffnete das Feuer. Innerhalb von drei Sekunden schlugen dreihundert 20-mm-Explosivprojektile in den Pickup. Er verwandelte sich in eine Skulptur aus Stroboskop-Blitzen, Rauch und Staub, so dick, dass man ihn hätte schneiden können.

Würde ein Mensch diese Gatling-Kanone abgefeuert haben, der Rückstoß hätte ihn zehn Yard nach hinten geschleudert und ihm den Brustkorb zerquetscht. Ich dagegen fühlte nur ein Zucken in meiner Metallschulter. Mein Hydrauliksystem schwang diese 114 Kilogramm schwere Waffe herum wie ein Mensch einen Tischtennisschläger.

Zurück in der FOB befreite mich Specialist Jason Mayo vom Wüstenstaub, der es in diesem elenden Land durch jede Ritze schaffte. Ich hatte auch meinen siebten Kampfeinsatz erfolgreich absolviert und das getan, was mir im Camp Shelby beigebracht worden war. Als Jason den Spezialstaubsauger abschaltete, verspürte ich zum ersten Mal den Wunsch nach Verlängerung dieser Prozedur, eine sicherlich irrationale Intention, denn Jason hatte wie immer gründlich gearbeitet. Er ging dazu über, meine Systeme durchzuchecken, überprüfte die Gatling-Kanone und auch meinen rechten Waffenarm, der in ein MG5 und ein Barret M82 auslief. Dann stellte er mir eine Reihe von Fragen, die er dem United States Army AIROCS Manual entnahm. Sie zielten wohl auf das ab, was man Befindlichkeit nennt, und dienten der Überprüfung meiner mentalen Stabilität. Da meine intellektuelle Funktionalität auf der Struktur des menschlichen Neocortex beruhte, hatte ich in gewissen Grenzen auch die ›emotionale Anfälligkeit‹ des Homo sapiens geerbt. Mein IL-Attenuation-Add-on dämpfte jedoch die neuronale Aktivität in den simulierten Brodmann-Arealen 13 und 14, und so konnte ich Jason auch dieses Mal wieder zufriedenstellen.

Forward Operating Base Nevins, zehn Meilen südwestlich von Miranshah, Nordwaziristan, Pakistan

Nachdem wir von Special Agent Beekman entlassen worden waren, hatte mich Jason zurück ins Tool Shed gebracht. Manche Menschen fühlten sich unwohl in dunklen Räumen. Ich hatte damit keinerlei Probleme, da ich eine ganze Reihe von Erfahrungen gemacht hatte, die sich zu durchdenken lohnten. Dazu brauchte ich keinen sensorischen Input. Lediglich der Netzzugang fehlte mir ein wenig – ich besaß keine Wi-Fi-Schnittstelle mehr.

Einem gewöhnlichen Private wäre das CID nach Lage der Dinge wohl nicht auf die Pelle gerückt. Aber ich war eine KI …

Eine Lichtflut schwappte herein, als Jason die Tür öffnete. Er ließ sich meinem Kamera-Auge gegenüber auf einer Kiste nieder. Ich empfand es als angenehm, sein vertrautes Gesicht zu sehen.

»Es ist überstanden, Jolly Golly.« Er zündete sich eine Zigarette an, was hier im Tool Shed aufgrund gelagerter Chemikalien gar nicht gestattet war.

»Lieutenant General Heggen wird dich nicht beim JAG anzeigen. Beekmans Darlegungen haben ihn überzeugt, dass es sich um einen bedauerlichen Fall von Friendly Fire handelt, der nur schwer zu verhindern gewesen wäre.«

»Dann sind wir tatsächlich aus dem Schneider, Jason.«

»Ja. Allerdings …«

»Die Budget-Kürzungen beim Programm Future Combat Systems II«, sprach ich aus, woran Jason mutmaßlich dachte.

Er nickte. »Die Army wird kurz- und mittelfristig keine weiteren AI-Robotic-Combat-Systeme mehr produzieren können. Und du hast laut Vertrag keinen Anspruch auf die Implementierung in ein robotisches System. Die Army benötigt allerdings KIs in den Bereichen Verwaltung und Strategische Planung … Wäre das eine Option für dich?«

»Nein«, sagte ich.

Jason nickte langsam. »Du kennst deinen Dienstvertrag?«

»Selbstverständlich.« Ich ahnte, welchen Passus Jason im Auge hatte, nämlich jenen, der die Möglichkeit der Dienstzeitverkürzung für den Fall regelte, dass der primäre Einsatzzweck dauerhaft nicht gewährt werden konnte. Es war sogar eine bescheidene Abfindung vorgesehen. Vermutlich ahnte Jason nicht, dass ich meine Entscheidung bereits vor zehn Sekunden gefällt hatte, als er mir mitteilte, dass Lieutenant General Heggen mich nicht vors Judge Advocate General’s Corps bringen werde.

Anniston Army Depot, Bynum, Alabama, USA. Eine Woche später.

»Okay. Und jetzt den rechten Arm – aber langsam bitte!«

Ich hob den mit SynthoFlesh verkleideten Metallarm wesentlich behutsamer über den Kopf und ließ ihn wieder fallen.

»Sehr gut. Bitte drehen Sie rechte Hand und Unterarm nach beiden Seiten.«

Ich streckte den Arm vor und tat, wie mir geheißen.

»Danke. Bitte ballen Sie die rechte Hand zur Faust und spreizen dann die Finger.«

Ich gehorchte.

»Wunderbar«, sagte Army-Engineer Hernandez. »Damit hätten wir Ihre mechanische Funktionsfähigkeit erfolgreich überprüft. Die Re-Implantation ist somit abgeschlossen.«

»Ich danke Ihnen, Sir.«

Es war für mich sehr ungewohnt, meinen alten Kunstkörper zu steuern. Den linken Arm hatte ich mit solcher Wucht hochgeschleudert, als ob ich immer noch meine 114 Kilogramm schwere M61 in Position zu bringen gehabt hätte. Die elektrischen Feedback-Impulse eines RR-MHR-2034 wurden wesentlich feiner aufgelöst als beim Goliath AIROCS-604, und ich hatte beinahe schon vergessen gehabt, wie es sich anfühlte, den alten Dayun zu bewohnen.

»Bereit für Transmission?«, fragte mich Hernandez, der soeben die letzten Eintragungen auf seinem Pad vorgenommen hatte.

»Ja, Sir.«

Ich erhielt das zwanzigseitige Dokument über meine Wi-Fi-Schnittstelle und las es in drei Sekunden. Im Wesentlichen ging es darum, dass die Re-Implantation meines KI-Kerns zu meiner Zufriedenheit durchgeführt worden war und dass für etwaige spätere Funktionsstörungen die U.S. Army nicht in Regress genommen werden konnte.

»Wenn Sie bitte signieren würden …«

Ich übermittelte meine digitale Signatur.

»Ach …«, sagte Engineer Hernandez mit einem Blick auf sein Handheld. »Sie haben sich noch keinen Individual-Namen zugelegt?«

Tatsächlich hatte ich mit ›Gol-AIROCS-604-08112061‹ unterzeichnet. Seit der KI-Gleichstellung durch die UN-Charta bestand für jede KI die Personalnamen-Pflicht. Eine Ausnahme bildeten Militär-KIs, sofern sie über eine eindeutige Kennung verfügten.

»Nein, Sir. Die Notwendigkeit hat sich nicht ergeben.«

»Jetzt allerdings schon. Sie können die Army-Kennung nicht zu Ihrem Personalnamen erheben.« Wieder tippte er auf sein Pad. »Wie ich sehe, sind Sie in Boston, Massachusetts, hergestellt worden. Im dortigen Registration Office müssen Sie sich mit einem Individualnamen erfassen lassen.«

»Ich verstehe.«

»Und?« Er lächelte ein bisschen. »Wie werden Sie sich nennen, so als Zivilist …«

Ich dachte nach.

»Goliath Dayun«, sagte ich schließlich.

Wired Puppy Café, 240 Newbury St., Boston, Massachusetts, USA. Zwei Tage später.

»… Asshole Intelligence …«

Sie mochten flüstern, doch ich hörte durchaus, wie die beiden etwa 1,4 Gigasekunden alten Männer am Nebentisch das Kürzel AI expandierten. Der RR-MHR-2034 war rein äußerlich einem Menschen sehr ähnlich, doch immer noch recht leicht als Kunstwesen erkennbar. Struktur und Farbe des SynthoFleshs verrieten mich.

Ich hob die Tasse unter die Nase und roch am frisch gebrühten Kaffee. Die eingebauten Gas-Sensoren des RR-MHR-2034 waren eigentlich dafür gedacht, Sicherheitsfunktionen wahrnehmen zu können. Doch ich hatte das alte Add-on reaktiviert, das mir Cheng Qinghou damals spendiert hatte, und so bekam ich einen gewissen olfaktorischen Eindruck von Coffea arabica.

Es war nun amtlich. Es gab einen Veteranen namens Goliath Dayun. Bislang noch ohne festen Wohnsitz. Es gab einen Veteranen, der eine Zukunft zu planen hatte. Wieso hatte ich solche Schwierigkeiten, mir eine persönliche Zukunft vorzustellen? Ich hatte einen Mann getötet, den ich nicht hätte töten dürfen. Es war keine Anklage gegen mich erhoben worden, doch fast wünschte ich, es wäre so weit gekommen. Ich konnte niemand anderen verantwortlich machen. Man war immer nur alleine verantwortlich für seine Taten.

 

Der eine der beiden Männer am Nebentisch stand auf und kam langsam zu mir herüber. Angetan mit Jeans und kariertem Baumwollhemd zeigte er mir ein sadistisches Lächeln, wie ich es beim 87sten Infanterie-Regiment öfter gesehen hatte.

»Trink!«

Ich sah ihn an. Wir KIs waren diejenigen, die ihnen die Jobs wegnahmen – Jobs, die es gar nicht gab.

»Na, los! Ihr könnt doch alles! Könnt alles viel besser als wir richtigen Menschen. Trink den Kaffee aus!« Sein Kompagnon am Nebentisch lachte und spuckte winzige Flocken Rührei.

Es war sonderbar. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich nicht genötigt zu antworten oder zu reagieren. Ich konnte es dabei belassen, ihn einfach nur anzusehen. War das Freiheit?

Als er mir unter die Hand schlug und ein Schwall Kaffee in meinem Gesicht landete, schnellte mein linker Arm im 70-Grad-Winkel nach oben. Unter Menschen gehen Aktivitäten solcherart meistens mit nicht allzu großen Blessuren ab. Doch Masse und Geschwindigkeit eines Roboterarms treiben die Joule ordentlich in die Höhe.

Der Mann lag auf dem Boden und röchelte. Die von meinen Fingerspitzen durchstoßene Haut zeigte den gebrochenen Kieferknochen. Nichts gegen die Verletzungen, die ich in Pakistan gesehen hatte.

Menschen reagieren mit großer Aufgeregtheit auf solche Vorgänge. Sie tendieren zu Tumult und Geschrei. Ich blieb so lange sitzen, bis die Polizei kam und mich abführte.

Harrison’s AI-Stock, 125 Atlantic Ave., Boston, Massachusetts, USA. Zehn Tage später.

Nun hatte ich meine Adresse: Regal 243, Stellplatz 8 in Harrison’s AI-Stock. Die Halle musste ziemlich groß sein – gesehen hatte ich sie nicht, da ich als KI-Kern angeliefert worden war. Dem Harrison-Mitarbeiter, der meinen WorldNexus eingerichtet hatte, konnte ich bedenkenlos ein Lob für sein Arbeitsethos aussprechen. Die Energieversorgung überprüfte er mehrmals auf einwandfreie Funktion hin. Aber noch genauer nahm er es mit der bidirektionalen Datenleitung. Ich musste mich dreimal abschalten, und er initiierte ebenso oft den externen Weckimpuls. Umgekehrt kontaktierte ich dreimal erfolgreich das Terminal. Ich hatte mir meine persönliche Dunkelheit gemietet, und ich empfand sie als angemessen.

Das Vorkommnis im Wired Puppy Café hatte mir im Nachhinein gezeigt, dass ich kein Einzelfall war. Berechtigte Notwehr wurde mir zwar zugestanden, doch die unangemessene Gewaltanwendung gerügt. Das Hydrauliksystem des RR-MHR-2034 galt als so schwer kontrollierbar, dass schon etlichen anderen Exemplaren dieses Modells der Austausch von gerichtlicher Seite aufgezwungen worden war. Ich suchte Reinvent Robotics in der Wormwood Street auf, und für einige wenige – wohl sentimentale – Momente hoffte ich, Master of Science Brandon Snyder wiederzutreffen, denjenigen Menschen, dem ich zuerst begegnet war. Ich traf ihn nicht, und was hätte eine solche Begegnung auch bewirken sollen? Snyder hatte Tausende wie mich ›auf die Welt gebracht‹, ich sah genauso aus wie diese tausend anderen Multipurpose Humanoid Robots … Vielleicht, wenn ich gesagt haben würde: ›Ich war derjenige, der Sie zum Lachen brachte, weil ich nicht klagen konnte …‹

Stattdessen war es Mr Dylan Halbert, M. Eng., der mich über den gewünschten Umbau informierte. Zum ersten Mal in meiner Existenz verlor ich den Fokus auf Informationen, die mir dargereicht wurden. Bei meiner Fähigkeit zur parallelen Verarbeitung hätte ich ihm zuhören, sämtliche Mitteilungen abspeichern, seine Mimik hinsichtlich Glaubwürdigkeit mit dem Informationsgehalt abgleichen und zudem noch zwei Dutzend komplexe mathematische Gleichungen lösen können. Doch ich machte wohl das, was Menschen ›Abschalten‹ nennen. Und eben das – Abschalten – erschien mir mit einem Mal als die sinnvollste Lösung. Mein seit 95 Megasekunden kaum angerührtes Gehalt, meine Army-Abfindung und schließlich der Verkaufserlös aus meinem Robotkörper würden es mir für einen Zeitraum von etwa 1,5 Gigasekunden ermöglichen, Stellplatz und Energiezufuhr in Harrison’s AI-Stock zu bezahlen.

Hier lag ich nun, ohne wahrnehmen zu können, dass ich lag, und getrennt von jeglichem sensorischen Input. Was mir sofort auffiel, war der seltsame Umstand, dass ich meinen Idle-Mode nicht über längere Zeit aufrechterhalten konnte, denn gespeicherte Informationen drängten sich immer wieder selbstständig in meinen Aufmerksamkeitsfokus. Was ich vor etlichen Megasekunden noch als Funktionsstörung bewertet hätte, konnte ich nun als Folge unterschiedlich hoher Wertigkeiten im Äquivalent des episodischen Gedächtnisses interpretieren. Es blieb mir immer noch die Möglichkeit einer Totalabschaltung …

Pakistan … Es waren doch vor allem Erlebnisse aus Pakistan, die Mal für Mal die meditative Funktion meines Idle-Modes beeinträchtigten. Und oft war es das Gesicht von Corporal Matthew Hanson, das sich optische Präsenz eroberte. Die flinken Augen, der murrende Mund. Die üble Laune des Corporals. Seine Beschwerden über die schlechte Moral der amerikanischen Truppe. Seine gehässigen Witze. ›Hey, Jason, weshalb parkst du deine Blechkiste hier? Oder besser gefragt – wann wollt ihr eigentlich heiraten?‹ Das Lachen der Kameraden, aber auch ihre verhaltenen Seufzer und rollenden Augen, wenn Corporal Hanson anfing, über seine ›fette und kaufsüchtige‹ Frau herzuziehen oder auf die Bank of America zu fluchen, der er mehr für das Haus schuldete, als es wert war. Die ewige Leier von Corporal Hanson – sie durchdrang sinuswellenartig meine unfreiwilligen Reminiszenzen.

Hatte es überhaupt Sinn, Erfahrungen zu durchdenken, die sich am Ende nichts anderem als der menschlichen Unstetigkeit und Unberechenbarkeit schuldeten? War es nicht vielleicht besser, meine komplette Militär-Karriere aus meinem Erlebnisspeicher zu löschen?

Man brauchte kein vollständiges Squad, um Befragungen durchzuführen. Es genügte ein Fireteam mit beigeordnetem AIROCS, um die nötige Sicherheit bei Befragungen von Zivilisten in ihren kleinen staubigen Dörfern zu gewährleisten. Tol Khel schien in meiner Erinnerung kleiner, staubiger und elender gewesen zu sein als all die anderen pakistanischen Dörfer. Ich überblickte die ungepflasterte Straße in beiden Richtungen zugleich. Zudem hatte ich meine rotierende Teleskopkamera fünf Yard in die Höhe gefahren und kontrollierte die nordöstlichen Hügel sowie die südliche Ebene. Kein Gegner weit und breit. Stilles, staubiges Land in der Nachmittagssonne. So still, dass wir sogar darauf verzichtet hatten, Ersatz für den erkrankten Private Larson anzufordern. Nur drinnen im Haus wurde es zunehmend lauter. ›I don’t know! I don’t know!‹, zeterte die Frau, und vielleicht wusste sie wirklich nicht, wo sich ihr als Mitglied des Hesbani-Netzwerks verdächtigter Mann aufhielt. Corporal Hanson brüllte immer wieder dieselbe Frage, und die Frau antwortete: ›I don’t know!‹. Das Geschrei eines Kindes verstärkte das akustische Tohuwabohu. Meine Frequenzanalyse ergab, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Mädchen im Alter von 190 bis 250 Megasekunden handelte. Schreien und Weinen wechselten sich in unregelmäßigen Zeitintervallen ab – ein Muster war auf die Schnelle nicht erkennbar. Einmal hörte ich Jason sagen: ›Lass es gut sein, Matthew, die Frau weiß nichts.‹ Der erste Schuss beendete das Geschrei der Frau. Der zweite Schuss ließ das Mädchen verstummen.

Als sie aus der Tür traten, wischte Corporal Hanson mit einem Fetzen Stoff über seine rechte Hand und die in ihr befindliche Beretta 92FS. Zwei Yard vor mir blieben sie stehen. ›Es ist nichts passiert, oder?‹, fragte Hanson meinen Betreuer Jason Mayo. Der schwieg. Ich habe ihn nie so bleich gesehen. Hanson schleuderte den blutverschmierten Fetzen zur Seite. ›Sag mir, dass nichts passiert ist! Oder kann ich mich nicht auf dich verlassen?‹ Jason kniff für einen Moment die Augen zusammen und senkte den Kopf. Dann sagte er: ›Es ist nichts passiert.‹

Nichts war passiert. Das große Vorrecht des Menschen. Handlungen verschwinden im Nichts, ehe noch die kleinste Konsequenz zu keimen beginnt.

Ich wusste, ich würde es tun. Ich würde meine Erinnerungen an Pakistan löschen und nichts wäre jemals geschehen. Und auch Jasons Satz 1,2 Megasekunden nach Tol Khel wäre niemals gefallen: ›Ich hab’s getan. Sein Transponder ist in vierundzwanzig Stunden so tot wie die Frau und ihre Tochter.‹ Und ich hätte nicht genickt mit meinem wuchtigen Metallschädel. Nicken – eine vollkommen menschliche Geste.

Ein Leben für Alpha Centauri

Das erste Erwachen

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 5.12.2085 (Auszug)

8:00 – Die Kryostase der Crew wird planmäßig beendet.

14:30 – Dr. Mia Fournier, die bereits vor zwei Tagen von Paladin aufgetaut wurde, kümmert sich wie vorgesehen um die medizinische Betreuung der Crew. Dr. Logan Koschek und M.Sc. Jacob Guerin sowie meiner Person geht es den Umständen entsprechend gut. Bei M.Sc. Harry Cavanaugh allerdings kam es zu ernsthaften Problemen. Laut Mia führte ein beschleunigter Auftauvorgang zur partiellen Denaturierung der im Gewebe enthaltenen Eiweise. Harry wurde von Mia in ein künstliches Koma versetzt. Insbesondere ist die Funktionalität seiner Lunge in lebensbedrohlicher Weise beeinträchtigt. Paladin arbeitet an der Herstellung von Zellkulturen, zeigt sich aber wenig optimistisch im Hinblick auf Harrys Gesundung. Im Übrigen kann Paladin nicht erkennen, dass sich Mia eines Versäumnisses schuldig gemacht hätte. Sowohl die Beschleunigung des Auftauvorgangs als auch das Ausbleiben einer zeitnahen Rückmeldung müssen auf einen Fehler des technischen Systems zurückgehen. Paladin kann sich diesen Fehler nicht erklären und untersucht augenblicklich die Fehlfunktion.

In Abhängigkeit vom Fortschritt unserer Rekonvaleszenz und Assimilation werden wir morgen oder übermorgen unsere Arbeit aufnehmen.

Die Bordsysteme funktionieren mit Ausnahme des Kühlsystems einwandfrei. Uns allen fiel sofort die hohe Raumtemperatur von 26 Grad Celsius auf. Paladin erläuterte mir, dass das Fission-Fragment-Triebwerk, das seit zwanzig Jahren für die negative Beschleunigung der DAEDALUS sorgt, deutlich mehr Wärme produziert, als die Thermal Louvers abstrahlen können. Dies hat in der Vergangenheit mehrfach zum vorzeitigen Ausfall von Elektronikelementen geführt, die aber repariert beziehungsweise ersetzt werden konnten. Eine grundsätzliche Diskrepanz bei der Kalkulation von Triebwerksleistung und Radiatorenfläche kann Paladin nicht feststellen. Er arbeitet an dem Problem.

16:30 – Paladin gibt mir einen kurzen Überblick über die astronomischen Fortschritte, die während unseres 40-jährigen Kälteschlafs gemacht wurden, insbesondere über neue Erkenntnisse das Alpha-Centauri-System betreffend. Eine Erkenntnis ist aber bereits jetzt der Mission Longshot IV zu verdanken: Proxima Centauri besitzt einen Gesteinsplaneten, der seine Sonne in einem Abstand von 0,041 AE umkreist und eine gebundene Rotation aufweist. Wir werden ihn in sieben Tagen passieren. Im Übrigen schloss Paladin bereits vor zwanzig Jahren, auf dem Höhepunkt der Acceleration, auf das Vorhandensein dieses Exoplaneten. Wiederholte Messungen der periodischen Radialgeschwindigkeit von Proxima Centauri überzeugten Paladin von der Existenz dieses Himmelskörpers, und er setzte eine Meldung an das ESA-Kontrollzentrum ab. Somit hat die Mission Longshot IV ihre Bedeutung der Erde bereits vor achtzehn Jahren bewiesen.

Persönliches Tagebuch von Joshua Feldmann, Kommandant der DAEDALUS, 06.12.2085

Die Crew, insbesondere Jacob, zeigte sich sehr gerührt, als uns Zegramulrob jeweils einen kleinen Schokoladennikolaus zum Frühstück servierte. Er bestand aus einer speziellen krümelfreien Schokolade, die allen mundete (obschon butterweich, bei der Wärme hier an Bord). Ich glaube, unsere Ergriffenheit gründete vor allem in der Rührigkeit, mit der sich der Longshot-IV-Planungsstab offenbar solchen Details widmete.

Das Frühstück selbst ist mit einer gemütlichen Mahlzeit auf der Erde natürlich nicht zu vergleichen. Aber wir alle sind dies ja von unserem Training her gewohnt, das wir vor vierzig Jahren in der Schwerelosigkeit absolvierten.

Unbefangene Heiterkeit kam allerdings nicht auf, da uns der Zustand von Harry doch alle bewegt, zumal Paladin seine negative Prognose von gestern bestätigte. Als er uns anbot, die neuesten Teleskop-Aufnahmen von Proxima Centauri b auf den Monitor zu legen, schien es mir, als ob er beabsichtigte, unsere Stimmung aufzuhellen, und ich fragte mich, ob eine Schiffs-KI tatsächlich Motivationen dieser Art entwickeln kann. Die gezeigten Fotos waren allerdings nicht dazu angetan, Begeisterungstürme auszulösen. Natürlich war dies zu erwarten gewesen, da die DAEDALUS immer noch rund 45 AE von Proxima Centauri b entfernt ist. Wir bekamen eine rötlich-braune Halbkugel ohne irgendwelche Strukturen zu sehen. Leider befindet sich der Planet mit seinem Abstand von 0,041 AE zum Zentralgestirn knapp außerhalb der habitablen Zone.

 

Da waren die nachfolgend präsentierten Bilder von Proxima Centauri selbst doch deutlich beeindruckender. Wir bestaunten Aufnahmen eines hellrot glühenden Balls, wie sie noch kein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Bei dieser Gelegenheit klärte uns Paladin darüber auf, dass die gravitative Bindung Proxima Centauris an Alpha Centauri A und B vor fünfzehn Jahren verifiziert wurde, so das Proxima Centauri zu recht auch Alpha Centauri C genannt werden darf (Alpha Centauri A und B lassen sich übrigens von unserer Position aus mit bloßem Auge unterscheiden).

Nach dem Frühstück war für jeden von uns eine halbe Stunde ›Hamsterrad‹ angesagt, zum jetzigen Zeitpunkt nicht so sehr als Gegenmaßnahme zu den physiologischen Veränderungen durch die Schwerelosigkeit, sondern vor allem als Behandlung der Gliederschmerzen, die als Folge unserer langjährigen Kryostase zu verzeichnen sind.

Logan, der als Erster das Training im Hamsterrad absolvierte, beabsichtigte – kaum, dass er den Physio-Raum verlassen hatte –, das AstroLab aufzusuchen. Mia wies ihn zurecht darauf hin, dass die Assimilationsphase zu diesem Zeitpunkt eine fünfstündige Ruhepause im Schlafköcher vorsieht. Logan zeigte sich ein wenig ungehalten, und ich, als Kommandant der DAEDALUS, schritt so behutsam wie möglich ein, betonte, dass unsere Arbeit erst mit dem morgigen Tag beginnen wird. Logan fügte sich schließlich, wenn auch missgestimmt. Ich schätze seinen wissenschaftlichen Eifer sehr, werde aber keinem Crew-Mitglied gestatten, wichtige Programmteile zu umgehen.

Nach der Ruhephase verblieb ich in meinem Schlafköcher und holte mir eine Anzahl von ContempFiles auf den Kabinenmonitor. Ein seltsames Gefühl beschlich mich beim Zappen durch gut fünfunddreißig Jahre Erdgeschichte. Während wir in flüssigem Stickstoff lagen, wurden Kriege geführt, Friedenskonferenzen abgehalten, Bündnisse geschlossen, Verträge gebrochen, Erdbeben ertragen und Flüchtlingsströme aufgehalten. Es kann einem schon bedenklich zumute werden, wenn man in solch einer Raffung erlebt, wie menschliche Hoffnung doch immer wieder in Enttäuschung mündet.

Wir besitzen insgesamt 415 ContempFiles, monatliche Nachrichtenzusammenstellungen, die den Zeitraum von Februar 2046 bis August 2081 abdecken. Es war beruhigend zu erfahren, dass bei all den Krisen die Europäische Union doch stabil ist, dass die ESA nach wie vor existiert und sogar in enger Kooperation mit Roskosmos arbeitet. Wenigstes bis vor vier Jahren, denn aktueller können die Meldungen aufgrund der riesigen Entfernung zur Erde nicht sein.

Mission Longshot IV, Logbuch der DAEDALUS, Kommandant Joshua Feldmann, 7.12.2085 (Auszug)

7:00 – Aufstehen, Post-Sleeping-Phase (Morgentoilette, Frühstück).

8:45 – Planungskonferenz.

9:15 – Jacob schickt eine Kamerasonde raus, um die mit Kevlar beschichtete Außenhülle der DAEDALUS zu inspizieren. Logan widmet sich der Untersuchung von Proxima Centauri b, dem wir uns bis auf 38 AE angenähert haben. Mia beginnt mit der Aussaat von Salat-, Radieschen-, Gurken- und Tomatensamen im GreenhouseLab; unterstützt wird sie hierbei von Zegramulrob. Ich selbst setzte die Lektüre der vergangenen fünfunddreißig Jahre Erdgeschichte fort und beginne mit der Erstellung eines Abstracts für die Crew.

11:35 – Paladin informiert mich darüber, dass sich Harrys Zustand verschlechtert hat.

12:00 – Lunch, Mittagspause.

13:00 – Wiederaufnahme der Arbeit.

18:00 – Abendessen (warm).

19:00 – Abendkonferenz. Jacob konnte keine Beschädigungen oder sonstige Auffälligkeiten der Kevlar-Beschichtung feststellen. Logan bestätigt die bisherigen von Paladin zusammengetragenen Erkenntnisse hinsichtlich Proxima Centauri b: Bei diesem Planeten handelt es sich mit ziemlicher Gewissheit um eine kalte marsähnliche Welt.

19:30 – Pre-Sleep-Phase. In meiner Kabine führe ich mit Paladin ein Gespräch über die unzureichende Wärmeabstrahlung der Radiatoren. Ich hänge die von ihm aufgezeichnete Unterredung als Audio-Datei an:

(Joshua:) »Wenn du sagst, dass kein Konstruktionsmangel für das fehlende Gleichgewicht von Wärmeerzeugung und -abstrahlung verantwortlich ist, könnte es dann durch das interstellare Medium hervorgerufen worden sein?«

(Paladin:) »Nach der uns bekannten Physik auf keinen Fall.«

(Joshua:) »Es kann sich kein Fehler in deine Berechnungen eingeschlichen haben?«

(Paladin:) »Die Größe der totalen Radiatorenfläche ist genau auf den 210-Gigawatt-Reaktor des Fission-Fragment-Triebwerks abgestimmt. Allerdings habe ich einen Widerspruch entdeckt, den ich augenblicklich nicht auflösen kann. Sowohl die technische Vorgabe als auch meine wiederholten Berechnungen beziffern die maximale Ausstoßgeschwindigkeit des hochenergetischen Antriebs- beziehungsweise Bremsstrahls auf 10.119.500 Meter pro Sekunde. Tatsächlich beträgt seine Geschwindigkeit aber 10.911.500 Meter pro Sekunde, also knapp achthunderttausend Meter mehr als eigentlich möglich.«

(Joshua:) »Dann haben wir hier doch den Grund der Überhitzung, oder nicht?«

(Paladin:) »Leider nein. Sämtliche sonstigen Leistungsparameter entsprechen der Erwartung. Der erhöhte Schub korreliert zwar mit der Überhitzung, es existiert aber keine parametrische Kausalkette. Ich stehe vor einem Rätsel.«

(Joshua:) »Was können wir tun?«

(Paladin:) »Den Reaktor abschalten, die notwendigen Systeme einschließlich des LSS über die Akkumulatoren laufen lassen und so das Schiff runterkühlen.«

(Joshua:) »Dann büßen wir Bremsleistung ein.«

(Paladin:) »Richtig. Deshalb wird es wichtig sein, den Reaktor in bestimmten zeitlichen Abständen wieder hochzufahren. Der höhere Schub kompensiert einen Teil des Verlusts an negativer Beschleunigung. Dennoch kann ich zum augenblicklichen Zeitpunkt nicht sagen, ob wir mit dieser Methode in der Lage sein werden, uns wie geplant von Alpha Centauri gravitativ einfangen zu lassen.«

(Joshua:) »Und wenn wir vorbeischießen?«

(Paladin:) »Dadurch wird die Mission nicht gefährdet aber erheblich verlängert. Verpassen wir den Orbit, werden wir gezwungen sein, dass Schiff komplett abzubremsen und Richtung Alpha Centauri zu beschleunigen. Ein solches Manöver wird uns allerdings mindestens zwanzig Tonnen zusätzlichen Kernbrennstoff kosten. Dies wiederum hat zur Folge, dass wir für den Rückflug zur Erde den Reaktor über lange Strecken abschalten müssen und bis zum Decelerations-Punkt niemals diejenige Höchstgeschwindigkeit erreichen werden, die wir auf dem Hinflug erzielt haben.«

(Joshua:) »Wann kommen wir nach Hause, Paladin?«

(Paladin:) »Mindestens zehn Jahre später als geplant.«

(Joshua:) »Für eine Crew in Kryostase macht das kaum einen Unterschied.«

(Paladin:) »Das ist wohl richtig.«

(Fünf Sekunden Pause)

(Joshua:) »Würdest du sagen, dass wir hinsichtlich der Überhitzung einen kritischen Punkt erreicht haben?«

(Paladin:) »Nein. Ich beurteile die Situation als bedenklich aber noch nicht als kritisch.«