Buch lesen: «Blick nach Osten: Eine regionale Betrachtung»
Inhalt
BIG IDEAS
BLICK NACH OSTEN
EIN HOLPRIGER ÜBERGANG
ANFANG DER 1990ER-JAHRE: ERSTE DEMOKRATISCHE WAHLEN
DIE HERAUSFORDERUNGEN: INNOVATION, DEMOGRAFISCHE ENTWICKLUNG UND KLIMAWANDEL
DIE KOHÄSIONSPOLITIK IN MITTEL- UND OSTEUROPA: AUFGABEN UND ERFOLGE
REGIONALE ENTWICKLUNG: WIE GEHT ES WEITER?
DAS ENDE DER GESCHICHTE?
BIOGRAPHIE
Die Europäische Investitionsbank
Die Europäische Investitionsbank (EIB) ist der größte multilaterale Kreditgeber der Welt. Sie ist die einzige Bank, die den EU-Ländern gehört und deren Interessen vertritt. Die EIB fördert mit ihren Finanzierungen das Wirtschaftswachstum in Europa. Seit sechzig Jahren unterstützt sie Start-ups wie Skype und Großprojekte wie die Öresundbrücke, die Schweden und Dänemark verbindet. Zur in Luxemburg ansässigen EIB-Gruppe gehört auch der Europäische Investitionsfonds (EIF). Der EIF bietet Finanzierungen für kleine und mittlere Unternehmen an.
BLICK NACH OSTEN – EINE REGIONALE BETRACHTUNG
Grzegorz Gorzelak
Disclaimer: The views expressed in this publication are those of the authors and do not necessarily reflect the position of the EIB.
BIG IDEAS
Die Länder und Regionen Mittel- und Osteuropas mussten zahlreiche Heraus-forderungen bewältigen. Sie haben totalitäre und autoritäre kommunistische Regimes erlebt, Ende des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erlangt, wirtschaftliche und politische Umwälzungen gemeistert und schließlich mit der Aussicht auf gemeinsame Entwicklung den Weg nach Europa zurückgefunden.
Bei allen Unterschieden und trotz der neuen populistischen Bewegungen haben diese Länder viel gemeinsam. Regionalpolitik kann die Demokratie, den Zusammenhalt und lokale Wirtschaftssysteme in der Europäischen Union fördern und „vergessenen Orten“ helfen, ihr Potenzial zu erschließen.
Grzegorz Gorzelak ist Professor für Wirtschaftswissenschaften und auf regionale und lokale Entwicklungskonzepte und Strategieentwicklung spezialisiert. Er hat mit der Weltbank, der OECD, der GD Regio der Europäischen Kommission, verschiedenen polnischen und ukrainischen Regierungsstellen und mit regionalen und lokalen Behörden zusammengearbeitet.
Dies ist der vierzehnte Essay aus der Reihe Big Ideas der Europäischen Investitionsbank.
Auf Einladung der EIB schreiben internationale Vordenkerinnen und Vordenker und Fachleute über die drängendsten Themen unserer Zeit. Ihre Essays zeigen uns: Wir müssen umdenken, wenn wir die Umwelt schützen, die Chancengleichheit fördern und das Leben der Menschen weltweit verbessern wollen.
BLICK NACH OSTEN
Die Entwicklung der mittel- und osteuropäischen Länder und Regionen in den letzten hundert Jahren beweist: Nahezu alles ist möglich. In dieser relativ kurzen Zeitspanne haben die Länder ihre Unabhängigkeit wiedererlangt, sie haben im Zweiten Weltkrieg großes Leid erfahren, totalitäre und autoritäre kommunistische Regime kommen und gehen sehen und schließlich ihren Weg zurück nach Europa gefunden – von der zweiten in die „erste Peripherie“ der entwickelten Welt. Zu Beginn der EU-Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Länder schien die These vom „Ende der Geschichte“ plausibel zu sein. Diese Hoffnungen werden in jüngster Zeit jedoch durch unerwartete Phänomene infrage gestellt, die neue Herausforderungen für die neuen Mitgliedstaaten mit sich bringen.
Dabei ragen zwei Herausforderungen besonders heraus: eine politische und eine wirtschaftliche. Nach einer ersten Phase der institutionellen Annäherung breiten sich seit einigen Jahren neue rechtspopulistische Bewegungen in den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas aus – mit dem Ergebnis, dass die europäischen Werte der freiheitlichen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durch Zentralisierungsbestrebungen abgelöst, Verfassungsordnungen verletzt und gar Elemente autoritärer Herrschaft eingeführt werden. Die Migrationskrise von 2015–2016 hat diese Entwicklung verschärft: Alle mittel- und osteuropäischen Länder lehnen die Haltung der EU zu dieser Frage ab. Das Konzept der Osterweiterung wird zurzeit zwar noch nicht offen infrage gestellt, scheint jedoch geopolitisch weniger naheliegend zu sein als noch vor zehn Jahren.
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Die Coronapandemie schafft neue Herausforderungen für die Wirtschaft. Es sei daran erinnert, dass der wirtschaftliche Erfolg mittel- und osteuropäischer Länder weitgehend ihrer Eingliederung in globale Wertschöpfungsketten und der Verlagerung vieler Industriezweige von West- nach Osteuropa zu verdanken war. Ausländische Direktinvestitionen trugen maßgeblich zum Innovations- und Technologietransfer bei. Heute stehen die Versorgungsketten, von denen die mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften hochgradig abhängig sind, aufgrund der coronabedingten globalen Rezession enorm unter Druck. Auch der für Mittel- und Osteuropa bedeutsame Tourismussektor wird von der Pandemie stark gebeutelt.
Diese beiden Herausforderungen haben eine klare regionale Dimension. Die politischen Veränderungen gehen ganz eindeutig zulasten der lokalen und regionalen Regierungen, die in einigen Ländern Mittel- und Osteuropas bereits starken Einfluss im institutionellen Gefüge der öffentlichen Verwaltung erlangt hatten. Die Wirtschaftskrise kann die Ballungsräume treffen, die sich zum Motor der postsozialistischen Transformation entwickelt und ausländische Direktinvestitionen in moderne, wissensintensive Dienstleistungen angelockt haben. Die Umstellung auf Telearbeit kann die Beschäftigungssituation in den Metropolen verändern und dazu führen, dass in den größten Städten Mittel- und Osteuropas viele neue Bürogebäude und Wohnungen leer stehen und in Hotels und touristischen Einrichtungen die Gäste ausbleiben. Analog dazu kann die Schwächung industrieller Netzwerke die weitere Entwicklung von mittel- und osteuropäischen Industrieregionen gefährden, die den Strukturwandel bereits erfolgreich bewältigt haben – großteils mit Hilfe von westeuropäischem Kapital (heute unter dem protektionistischen Druck mehrerer EU-Regierungen).
Ist Pessimismus angebracht? Wahrscheinlich nicht, haben die mittel- und osteuropäischen Länder doch über die letzten hundert Jahre bewiesen, dass sie auch größten Schwierigkeiten gewachsen sind. Zudem können sie heute auf Ermutigung, Hilfe und Unterstützung seitens der Europäischen Union hoffen, die von den Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas sehr geschätzt wird – auch wenn die politischen Eliten teilweise europaskeptisch klingen (solange es nicht um Finanztransfers geht).