Geschichte der deutschen Literatur. Band 5

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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5
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3 Naturalismus und Symbolismus

Das französische Vorbild

Das poetologische Programm, das am Anfang des Wegs der deutschen Literatur in die Moderne steht, wird, wie wir gesehen haben, von einer neuen Generation von Autoren bereits mit großer Überzeugung verfochten, noch bevor sie Werke vorzuweisen haben, die als modern gelten könnten, die man jedenfalls aus heutiger Sicht modern nennen würde. Was sie mit solcher Entschiedenheit auf einen programmatischen Modernismus setzen ließ, war nicht nur das unabweisliche Gefühl, daß die alte Literatur, daß Realismus und Epigonendichtung abgewirtschaftet hätten und daß etwas Neues kommen müsse; es war auch der Blick über die Grenzen der deutschen Literatur hinaus, der Blick nach Frankreich, nach Paris. Denn da gab es bereits eine moderne Literatur, und es gab sie sogar schon in zwei Varianten, in Gestalt zweier Schulen, die jede auf ihre Weise einen programmatischen Modernismus praktizierten: der Schulen von Naturalismus und Symbolismus. Es waren sie, die den deutschen Autoren verbürgten, daß eine wahrhaft moderne Literatur möglich sei, und die ihnen eine Vorstellung davon vermittelten, wohin die Reise gehen würde.

Die Leitfigur des Naturalismus war Emile Zola (1840–1902). Zola war um 1880 mit einer Reihe von Programmschriften und Romanen hervorgetreten, mit denen er ebensowohl die theoretischen Grundlagen wie einige erste Beispiele für die Literatur der neuen Bewegung geschaffen hatte. Zugleich hatte er eine Reihe von jungen Autoren um sich geschart, die mit ihm für seine Ziele stritten. Diesem Kreis trat um 1885 ein zweiter an die Seite, dessen Mittelpunkt Stéphane Mallarmé (1842–1898) war. Hier setzte man vor allem auf die Ideen von Baudelaire, auf die Begriffe von moderner Kunst und die Formen von Symbolik, die dieser kultiviert hatte – die Schule des Symbolismus.

Die Aktivitäten der beiden Gruppierungen wurden in Deutschland von Anfang an aufmerksam verfolgt. Dabei begnügte man sich vielfach nicht mit der Lektüre der Schriften, die nach Deutschland gelangten; wer es genau wissen wollte, ging gleich selbst nach Paris, um die neue Kunst vor Ort zu studieren. So suchte etwa Michael Georg Conrad, den der Beruf des Journalisten 1878 nach Paris gebracht hatte, den Kontakt zu Zola und seinem Kreis. 1882 nach Deutschland zurückgekehrt, tat er dann alles, um seine Landsleute für die Ideen von Zola zu gewinnen, mit dem Ergebnis, daß sich bald schon ein erster Zirkel von deutschen Naturalisten um ihn bildete. Und so ging Stefan George 1889 nach Paris, um Mallarmé und seinen Kreis kennenzulernen. Und wie Conrad nicht nur die Konzepte des Naturalismus, sondern auch die Formen nach Deutschland mit zurückbrachte, in denen sich die neue Bewegung organisiert hatte, so brachte George ebensowohl die Ideen des Symbolismus wie das Modell des Mallarmé-Kreises mit nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis sich um ihn jene Gruppierung formiert hatte, die als „George-Kreis“ in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Wer nicht in Paris gewesen war, der tat wenigstens so, als unterhalte er enge Kontakte dorthin; so findet sich in „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891) von Arno Holz, einer vielberufenen Programmschrift des deutschen Naturalismus, ein langer, in französischer Sprache abgefaßter Offener Brief an Zola – eine Reaktion des Adressaten ist nicht bekannt.39

Paris als Zentrum der modernen Kunst

Paris wird nun überhaupt zum wichtigsten Ziel von Künstlern und Literaten, um es ein gutes halbes Jahrhundert zu bleiben. Es löst damit Rom ab, dessen Besuch bis dahin ein Muß für jeden werdenden Künstler war. In Rom konnte man dem Erbe der Antike unmittelbar begegnen, und das galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, bis zu den letzten Nachzüglern im „Epigonenschweif der Antike“, als unabdingbare Voraussetzung für jede wahre Kunstübung. Goethe selbst hatte dies mit seiner „Italienischen Reise“ (1816–1829) noch einmal eindrucksvoll bezeugt und damit sein Teil dazu beigetragen, daß das Institut der „Grand Tour“, der Bildungsreise nach Italien, im 19. Jahrhundert eine letzte Blüte erlebte. Wer es sich leisten konnte, legte sich wie der „Dichterfürst“ Paul Heyse gleich eine Villa auf Capri zu. Auch Michael Georg Conrad hatte, bevor er nach Paris ging, sechs Jahre in Neapel gelebt; das Italienerlebnis trat bei ihm allerdings bald völlig hinter den Pariser Eindrücken zurück. Der unglückliche Verlauf des „Römischen Aufenthalts“ von Gerhart Hauptmann läßt besonders deutlich erkennen, daß am Ende des 19. Jahrhunderts ganz andere Erfahrungen not taten als die einer traditionellen Italienreise, Erfahrungen, wie man sie nicht in dem gesellschaftlich und ökonomisch rückständigen Italien, wie man sie nur an einem Brennpunkt des modernen Lebens machen konnte.

Ein solcher Brennpunkt war die große Stadt Paris, und sie war es mehr als jeder andere Ort in Europa. Zwar waren die moderne Demokratie, die technisch-industrielle Produktionsweise und der moderne Kapitalismus von England ausgegangen, und London war und blieb die größere Großstadt – Paris hatte 1881 2,3 Millionen, London 3,8 Millionen Einwohner – doch hatten sich die Kämpfe zwischen den Kräften des Fortschritts und den Mächten der Beharrung in Frankreich mit seinen vielen Revolutionen und seinem wiederholten Wechsel des politischen Systems auf dramatischere Weise gestaltet als in jedem anderen Land, und das heißt: in Formen, durch die Kunst und Literatur stärker in diese Kämpfe mit einbezogen und intensiver von den Problemen der Modernisierung erfaßt und durchdrungen wurden. So wurde Paris, die „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), schließlich auch zum Schauplatz der Revolutionen, aus denen die moderne Kunst hervorging.

Das gilt für alle Künste, nicht nur für die Literatur, ganz besonders aber für die Bildende Kunst. Paris war der Ort, an dem 1874 mit einer spektakulären Ausstellung von Künstlern wie Edouard Manet (1832–1883), Paul Cézanne (1839–1906) und Claude Monet (1840–1926) der Siegeszug des Impressionismus begann, einer Schule der Malerei, die zur entscheidenden Station auf dem Weg der Kunst in die Moderne wurde. An ihrem Erfolg hatte übrigens auch Emile Zola, ein Schulfreund von Cézanne, seinen Anteil, hat er doch für die neue Malerei nicht weniger energisch gestritten als für die naturalistische Literatur. Und auch vieles von dem, was sich aus dem Impressionismus entwickelte, auch die Kunst des Fauvismus, Kubismus, Futurismus und Surrealismus verdankte sich wesentlich Entwicklungen in der Pariser Szene.

Einzig in der Musik war Paris nur ein Schauplatz neben anderen; hier war Wien als Standort der „Zweiten Wiener Schule“, der Schule von Arnold Schönberg (1874–1951), letztlich von größerer Bedeutung. Immerhin sah Paris mit der Uraufführung des „Sacre du Printemps“ (1913) von Igor Strawinsky (1882–1971) das Ereignis, das als der Durchbruch der Neuen Musik gilt. So mag Gertrude Stein Recht haben, wenn sie Paris zum „natürlichen Hintergrund der Kunst und Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts“ erklärt: „Paris was where the twentieth century was“.40

Faktoren der literarischen Entwicklung

Der Blick auf die französischen Wurzeln von Naturalismus und Symbolismus macht uns sogleich auf einige Momente aufmerksam, die für das Verständnis der Entwicklung von besonderer Bedeutung sind und die wir uns nicht entgehen lassen wollen. 1. Die moderne Literatur ist ein Kind der modernen Großstadt, ist eine Pflanze, die nur in dem Biotop der modernen großstädtischen Lebenswelt hat aufkommen und gedeihen können. 2. Sowohl ihre ersten Anfänge als auch viele weitere Entwicklungsschritte sind mit der Bildung kleiner und kleinster Zirkel von Gleichgesinnten verknüpft, die sich als Avantgarden, als Vorhut und Motor der Entwicklung verstehen und deren Mitglieder als Gruppe auftreten und in engstem Austausch zu Werke gehen. So überschaubar diese Gruppen auch sein und so elitär und esoterisch sie sich geben mögen – sie sind 3. von Anfang an über die Grenzen der Kulturräume hinweg vernetzt und verstehen sich 4. auf die Kunst, auf die Öffentlichkeit einzuwirken und ein breites Publikum zu beeindrucken und zu beschäftigen.

Und 5. zeigt der Blick nach Paris, daß der Aufbruch in die Moderne nicht das Werk einer einzigen, mehr oder weniger homogenen literarischen Bewegung ist, daß hier gleich zwei Gruppierungen am Start sind, zwei Schulen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und die sich in einem von Kontroversen geprägten Neben- und Gegeneinander entfalten. Der Schritt in die Moderne ist ein Schritt in den Pluralismus, in eine Diversität der Interessen und Formensprachen, die es nicht mehr erlaubt, von einem einheitlichen Epochenstil zu sprechen. Dem allem sei nun im einzelnen nachgegangen.

3.1 Literatur und Großstadt

Zentren der Moderne im deutschen Sprachraum

Wir sind aus Riesenstädten, in der City, nur in ihr, schwärmen und klagen die Musen. (GBP 465)

 

Die moderne Kunst ist die Kunst der modernen Großstadt. Wie sich ihre ersten Anfänge der urbanen Kultur der großen Stadt Paris verdanken, so hat sie sich von Metropole zu Metropole fortgepflanzt. Im deutschen Sprachraum sind es zunächst die großstädtischen Zentren Berlin, München und Wien, in denen sie Fuß faßt, später auch nicht ganz so große Großstädte wie Dresden, Düsseldorf und Köln, Frankfurt und Zürich. Die Zeit, in der Provinzstädte, kleine Residenzen und Universitätsstädte wie Weimar, Jena und Heidelberg den Ton in Sachen Literatur angeben konnten wie noch in der Goethezeit, scheint ein für allemal vorbei.

Es gibt allerdings eine Ausnahme: das Bauhaus,41 jenes Zwischending zwischen Kunstgewerbeschule und Kunstakademie, das so ungemein bedeutsam für die Bildende Kunst, insbesondere für die Architektur und das Design der Moderne geworden ist; es ist zunächst in Weimar, später in Dessau angesiedelt. Und natürlich werden kleine Landstädte wie Céret in Südfrankreich und Murnau in Bayern immer einmal wieder zum Schauplatz der Sommerfrische von Künstlern, und damit zeitweilig zu Zentren des künstlerischen Lebens, doch ist ihre Bedeutung nur selten über die einer Dependance bestimmter großstädtischer Avantgardezirkel hinausgewachsen.

Zur Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Großstadt

Nun sind Kunst und Literatur eigentlich immer schon in den großen Städten zuhause gewesen, schon in der Antike. Hier kommt am ehesten die kritische Masse von Wissen und Können zusammen, finden sich am ehesten die Talentschmieden, die Netzwerke, die Märkte und das Publikum, deren es bedarf, um eine Kunst von Rang entstehen zu lassen. So war die größte Stadt des antiken Griechenland, Athen, zugleich der wichtigste Standort seiner Kunst und Literatur. Ähnliches gilt von Alexandria und der Literatur des Hellenismus, von Rom und der Kunst der alten Römer und von dem „neuen Rom“ Konstantinopel und der byzantinischen Kunst. Überall hier war die größte Stadt zugleich der wichtigste Schauplatz des künstlerisch-literarischen Lebens.

Das änderte sich allerdings im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Denn im gesamten Mittelalter und bis weit in die Frühe Neuzeit hinein gab es im europäischen Kulturraum keine Stadt vom Format des antiken Rom mehr – Rom selbst war von einer Millionenstadt auf weniger als 50.000 Seelen geschrumpft – und so mußten nun die großen Fürstenhöfe, später auch die eine oder andere Universitätsstadt und mittelgroße Stadtrepublik der Kunst die Metropole als Standort und Lebensraum ersetzen. Als aber die Modernisierung die europäischen Städte wieder in die Dimension von „Riesenstädten“ hineinwachsen ließ, kehrten Kunst und Literatur mit aller Selbstverständlichkeit in sie zurück – eine Entwicklung, die nicht vor dem 18. Jahrhundert begann und die zunächst auch nur London und Paris betraf, die beiden Städte, die bis 1800 immerhin schon die Größe von 960.000 bzw. 650.000 Einwohnern erreichten.

Diese Rückkehr in die Großstadt ist freilich zunächst nur eine äußerliche, eine Rückkehr nur mit dem Körper des künstlerisch-literarischen Lebens, nicht auch mit dessen Seele. Denn mit der Seele suchten Kunst und Literatur im 18. Jahrhundert die Natur; nur da meinten sie noch des Wahren-Guten-Schönen habhaft werden zu können, wie es nach wie vor ihr oberstes Ziel war. In der großen Stadt erblickten sie einen Raum der Naturferne, ja den Ort, an dem sich der Mensch weiter von der Natur entfernt hätte als irgendwo sonst, einen Raum mehr oder weniger vollkommener Unnatur, und das hieß für sie: einen Ort, an dem sich Lüge, moralische Verkommenheit und Häßlichkeit breitmachen können. So schien sie durchaus kein guter Boden für eine Kunst des Wahren-Guten-Schönen zu sein, schien sie allenfalls als negatives Gegenbild zur „freien Natur“ zu taugen. Als typisch mag hier ein Autor des 18. Jahrhunderts wie Rousseau gelten. Zwar war es die urbane Literaturszene von Paris, in der er seine Karriere als Autor startete und von wo die Erfolgsgeschichte seiner Werke ausging, doch hat er in diesen Werken ein Bild von der großen Stadt Paris gezeichnet, in dem er sie zum Inbegriff unnatürlicher, „entfremdeter“ Verhältnisse, ja zu einem absoluten Tiefpunkt in der Geschichte der Zivilisation stilisierte.

Dieses Bild tat auch in Deutschland seine Wirkung, einem Land, das noch lange keine Metropole vom Format eines London oder Paris aufzuweisen hatte. Zumal die Romantik machte es sich zueigen, und sie schrieb es auf eine Weise fest, die ihm eine Wirkung durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sicherte. Die Deutschen hatten also bereits eine fertige Vorstellung von der modernen Großstadt, noch bevor es in Deutschland eine Stadt gab, die diesen Namen verdiente, bevor die großstädtische Lebenswelt für sie zu einer realen Erfahrung geworden war.

Das romantische Bild der Großstadt

Als Beispiel für das romantische Bild der Großstadt sei hier der Roman „Ahnung und Gegenwart“ (1815) von Joseph von Eichendorff angeführt. Da wird zweimal ein Blick auf eine große Stadt geworfen, nur ein Seitenblick zwar, aber einer, der es an Deutlichkeit nicht fehlen läßt. Die Stadt bleibt ohne Namen, wird nur „die Residenz“ genannt; Eichendorff mag dabei an das ihm wohlbekannte Wien gedacht haben, die Residenz zunächst der deutschen, dann der österreichischen Kaiser, die um 1815 gerade einmal 250.000 Einwohner hatte, also noch nicht von besonders furchteinflößender Größe war. Wir hören zunächst die Stimme des Helden Friedrich, der mit ansehen muß, wie sich die geliebte Rosa allein in die große Stadt aufmacht, und sodann die des Erzählers, der Friedrichs Sicht der Dinge nachdrücklich bestätigt und weiter ausführt.

„Siehst du dort“, sagte Friedrich, „die dunklen Türme der Residenz? Sie stehen wie Leichensteine des versunkenen Tages. Anders sind die Menschen dort, unter welche Rosa nun kommt; treue Sitte, Frömmigkeit und Einfalt gilt nicht unter ihnen. Ich möchte sie lieber tot, als so wiedersehn. Ist mir doch, als stiege sie, wie eine Todesbraut, in ein flimmernd aufgeschmücktes, großes Grab, und wir wendeten uns treulos von ihr und ließen sie gehen.“42

Wohl ist der Weltmarkt der großen Städte eine rechte Schule des Ernstes für bessere beschauliche Gemüter, als der getreueste Spiegel ihrer Zeit. Da haben sie den alten, gewaltigen Strom in ihre Maschinen und Räder aufgefangen, daß er nur immer schneller und schneller fließe, bis er gar abfließt, da breitet denn das arme Fabrikenleben in dem ausgetrockneten Bette seine hochmütigen Teppiche aus, deren inwendige Kehrseite ekle, kahle, farblose Fäden sind, verschämt hängen dazwischen wenige Bilder in uralter Schönheit verstaubt, die niemand betrachtet, das Gemeinste und das Größte(,) heftig aneinandergeworfen, wird hier zu Wort und Schlag, die Schwäche wird dreist durch den Haufen, das Hohe ficht allein. Friedrich sah zum ersten Male so recht in den großen Spiegel, da schnitt ihm ein unbeschreiblicher Jammer durch die Brust, und die Schönheit und Hoheit und das heilige Recht, daß sie so allein waren, und wie er sich selber in dem Spiegel so winzig und verloren in dem Ganzen erblickte, schien es ihm herrlich, sich selber vergessend, dem Ganzen treulich zu helfen mit Geist, Mund und Arm.43

Immerhin, schon hier wird der Großstadt zuerkannt, was ihre Bedeutung für die moderne Literatur begründen wird: daß sie „der getreueste Spiegel ihrer Zeit“ ist, doch geschieht dies ausschließlich insofern, als in ihr all das in geballter Form zu erfahren sein soll, was die neue Zeit an Negativem über die Menschen gebracht hat. Als Sitz des modernen Fabriken- und Maschinenwesens soll die Großstadt der Ort sein, wo dem Strom des Lebens das Leben und den Menschen der Schönheitssinn ausgetrieben wird, wo sich lebendige in mechanische Prozesse auflösen und man sich an das „Ekle“, „Kahle“ und „Farblose“ gewöhnt. Mit dem Schönheitssinn soll zugleich der Sinn für das Wahre und Gute ins Wanken geraten, sollen sich „Gemeinheit“ und „Schwäche“ breit machen und dank des großen „Haufens“ auf eine Weise die Oberhand gewinnen, die die wenigen, in denen noch die „Hoheit“ und das „heilige Recht“ leben, zu einem Leben in Einsamkeit verdammt. In der großen Stadt ist für den Romantiker Eichendorff alle „Poesie des Herzens“ am Ende, dominiert „Prosa“ die Verhältnisse, und so entfernt er sie so rasch wie möglich wieder aus dem Fokus der Darstellung. Ihre Bedeutung erschöpft sich bei ihm darin, eine äußerste Herausforderung des „wahren poetischen Sinnes“ zu sein.

3.1.1 Großstadtdichtung bei Baudelaire

Die Großstadt als Schauplatz einer neuen Schönheit

Das genaue Gegenstück zu dieser Sicht der großen Stadt findet sich ein knappes halbes Jahrhundert später bei Charles Baudelaire,44 dem Vater der modernen Großstadtdichtung. Nicht daß er die Vorstellung von dem ästhetisch und moralisch zweifelhaften Charakter des Großstadtlebens widerrufen würde – im Gegenteil: es ist auch für ihn ein Ort, „wo jede Scheußlichkeit wie eine Blume blüht“ (où toute énormité fleurit comme une fleur). Aber diese „Scheußlichkeiten“ werden für ihn nun eben zu „Blumen“, begründen eine eigene, neue Form von Schönheit, die auch sie zu einer Quelle der Kunst, ja zu dem einzig lohnenden Objekt einer wahrhaft modernen Dichtung macht.

Es ist die Schönheit einer „ungeheuren“, „feilen“ „Dirne“, der „infernalische Charme“ (charme infernal) der Hure Babylon, also eine Schönheit, die nichts mehr mit dem Wahren und Guten zu tun hat, die jenseits der klassischen Begriffe von Kalokagathie, „jenseits von Gut und Böse“ angesiedelt ist. Aber auch so, ja gerade so wird sie für Baudelaire zu einem wahren Lebenselixier und damit zur Quelle einer „Kunst, die Leben hat“ (Georg Büchner), scheint der „infernalische Charme“ der Hure Babylon doch auf nichts anderes zu zielen als darauf, „daß jung ich immer bliebe“. Für Baudelaire ist die große Stadt mithin durchaus nicht mehr das „flimmernd aufgeschmückte große Grab“, von dem Eichendorff gehandelt hat, ist sie keine Ansammlung von „Leichensteinen“ mehr, sondern der Schauplatz eines besonders intensiven, lebendigen Lebens, ein unversieglicher Quell der „Lebenssteigerung“.

Der Epilog der „Blumen des Bösen“

So ist es in einem Gedicht zu lesen, das Baudelaire 1861 als Epilog für eine neue Auflage seines lyrischen Hauptwerks „Les Fleurs du Mal“ (Die Blumen des Bösen, 1857) konzipierte. Wie bei Eichendorff wird der Leser auf einen erhöhten Punkt über der Stadt geführt, von wo aus er sie als Ganze vor sich hat und sich zu ihr als Ganzer ins Verhältnis setzen kann. Das erinnert an jene Szene der Bibel, in der der Teufel Jesus auf einen hohen Berg führt und ihm die „Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“ zu Füßen legt (Matth. 3, 8–11). Anders als der biblische Jesus und als Eichendorffs Friedrich widersteht Baudelaires lyrisches Ich nicht der Versuchung, ja gibt es sich ihr in vollen Zügen hin.

Ausklang
 
Das Herz zufrieden, stieg ich auf des Hügels Schwelle
Von wo im weiten Raum die Stadt man liegen sieht,
Spital, Fegfeuer, Hölle, Zuchthaus und Bordelle,
 
 
Wo jede Scheußlichkeit wie eine Blume blüht.
Du weißt, o Satan, Schutzherr meiner Unglückstriebe,
Nicht hab ich eitle Tränen dort des Wegs versprüht.
 
 
Doch wie ein alter Lustbock einer alten Liebe,
Wollt ich der ungeheuren Dirne trunken sein,
Die, höllisch-reizend, will, daß jung ich immer bliebe.
 
 
Ob Schlaf dich wiegt noch in des Morgens Kissen ein,
Schwer, dunkel, frostig, ob du stolz dich in den Fahnen
Des Abends brüstest mit der goldnen Borten Schein,
 
 
Ich lieb dich, feile Metropole! Kurtisanen
Und Räuber, oft bereit, mir Freuden zu verleihn,
Die nicht begreifen die gewöhnlichen Profanen.45
 

Die „Metropole“ ist für Baudelaire geradezu ein Gegenstand der „Liebe“, ein Gegenüber, das seinem „Herzen“ auf die gleiche Weise zu tun gibt wie die Liebe zu einer Frau, die es bald „zufrieden“ sein läßt, ihm bald „Tränen“ abnötigt und bald „Freuden“ bereitet, die sich bis zur „Trunkenheit“ zu steigern vermögen. Sie ist für ihn mithin ein Objekt jener äußersten Form lebendiger Anteilnahme, die eine unabdingbare Voraussetzung für die künstlerische Gestaltung von Erleben ist. Und so wird sie für ihn zum idealen Bezugsfeld für eine Dichtung, die, wie er an anderer Stelle erklärt, aus dem „Abscheu vor der Langeweile“ und dem „unsterblichen Verlangen“ erwächst, „sich leben zu fühlen“ (le désir immortel de se sentir vivre).46 Vor diesem „Verlangen“ schwinden alle ästhetischen und moralischen Bedenken dahin: „Was macht es schon, wie die Wirklichkeit außer mir aussieht, wenn sie mir nur geholfen hat zu leben, zu fühlen, daß ich bin und was ich bin“ (si elle m’a aidé à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis)47 – ein Gedanke, der recht eigentlich das Herzstück des modernen Vitalismus bezeichnet und der zuvor etwa schon von Heinrich Heine, zum Beispiel in dessen Reisebild „Ideen. Das Buch Le Grand“ (1827) erprobt worden ist.

 
Dichtung und Flanerie

Baudelaire geht aber noch einen Schritt weiter. Er will in der modernen „Riesenstadt“ nicht nur jene Intensität des Erlebens gefunden haben, deren der Dichter bedarf, um produktiv zu werden – er schreibt ihr auch eine besondere, nur ihr eigene Form des Erlebens zu, durch die dem Geschäft des Dichters immer schon vorgearbeitet wäre und das insofern selbst bereits Poesie wäre: das Erlebnis des Aufgehens in der Menge, wie es einem „Flaneur“, einem Menschen zuteil wird, der sich ziellos durch die Straßen treiben läßt.48 Das Spezifische des „Lebens in den Riesenstädten“ ist für Baudelaire „das Durcheinander ihrer zahllosen Beziehungen“ (le croisement de leurs innombrables rapports).49 Dieses „Durcheinander“ wird für den, der sie in der Haltung des Flaneurs durchmißt, auf eine handgreifliche, sinnliche Weise erfahrbar. Dabei kommt er jeder Form von Menschentum und Menschenschicksal nahe, wird ihm jene empathische „Verbundenheit mit dem Allgemeinen“ (communion universelle) zuteil, die für Baudelaire das letzte Ziel von Dichtung ist. Es ist eine Allverbundenheit, die vor allem auch das mit einbegreift, was die „gewöhnlichen Profanen“ nach Kräften von sich fernhalten: das „Unbekannte“ und „Unverhoffte“.

Es ist nicht jedem gegeben, im Meer der großen Masse ein Bad zu nehmen: Sich der Menge genießend zu erfreuen, ist eine Kunst; und der allein kann, auf Kosten der Menschheit, in Lebenskraft schwelgen, dem eine Fee, in seiner Wiege, die Lust zur Verkleidung und zur Maske, den Haß des Zuhause und die Leidenschaft des Reisens eingeblasen hat.

Masse, Einsamkeit: gleichwertige Ausdrücke, die der tätige und fruchtbare Dichter miteinander vertauschen kann. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern versteht, versteht auch nicht allein zu sein in einer geschäftigen Menge.

Der Dichter genießt das unvergleichliche Vorrecht, nach seinem Belieben er selbst und ein anderer sein zu können. Wie jene irrenden Seelen, die sich einen Körper suchen, geht er, wenn er nur will, in das Wesen jedes Menschen ein. Ihm allein steht alles offen; und wenn manche Plätze ihm verschlossen zu sein scheinen, so nur deshalb, weil sie ihm einen Besuch nicht zu lohnen scheinen.

Der einsame und nachdenkliche Wanderer schöpft einen einzigartigen Rausch aus solcher Verbundenheit mit dem Allgemeinen. Der Mensch, der leicht in der Menge aufgeht, kennt Fieberschauer von Genüssen, um die der selbstsüchtige Ichmensch, verschlossen wie ein Schrein, und der Träge, eingekapselt wie ein Muscheltier, ewig betrogen sind. Er macht sich alle Berufe, als wären es die seinigen, zu eigen, alle Freuden und alles Elend; wie die Umstände es ihm bieten.

Das, was die Menschen Liebe nennen, ist sehr gering, sehr beschränkt und sehr schwach, verglichen mit jenem unsagbaren Rausch, jener heiligen Preisgabe der Seele, die sich ganz und ungeteilt, als Dichtung und barmherzige Liebe, dem Unverhofften, das sich darbietet, dem Unbekannten, das vorübergeht, verschenkt.50

Das sind Passagen aus „Der Spleen von Paris“ (Le Spleen de Paris, 1869), einer Sammlung von Prosagedichten (poèmes en prose), die Baudelaire als sein zweites poetisches Hauptwerk neben den „Blumen des Bösen“ ansah. Das Prosagedicht51 ist eine Form, die er sich, wie er in der Widmungsvorrede erklärt, eigens zur „Beschreibung des modernen Lebens“ hat einfallen lassen. In ihm versucht er sich an der Gestaltung einer Prosa, die auch „ohne Rhythmus und ohne Reim“ den „lyrischen Regungen der Seele“ Ausdruck zu verleihen vermöchte.52 Im Grunde handelt es sich dabei um den Versuch, die journalistische Textsorte des Feuilletons poetisch zu adeln, ein Unternehmen, an dem sich vor Baudelaire bereits Heine in den „Reisebildern“ auf seine Weise versucht hat. So sind denn die meisten Prosagedichte des „Spleen von Paris“ auch zunächst in diversen Tageszeitungen erschienen.

Der Dichter als Straßenköter

Das Schlußstück ist ein Prosagedicht, in dem Baudelaire die Dichtung dadurch auf die großstädtische Lebenswelt und das Großstadterlebnis einzuschwören sucht, daß er den Straßenköter, den „chien flâneur“, den Hund, der „einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirrt“, zum Modell eines wahrhaft modernen Dichtertums stilisiert; es ist überschrieben „Die braven Hunde“ (Les bons chiens). Der Vergleich mit dem Straßenköter erlaubt es ihm, die Erlebnisform der Flanerie noch etwas grundsätzlicher zu fassen, ihr über die ästhetische Bedeutung hinaus eine existentielle Dimension zu geben.

Daß es sich um einen poetologischen Text handelt, zeigt sich zunächst darin, daß er anders als die übrigen Kapitel des „Spleen von Paris“ mit einer Anrufung der Musen beginnt, genauer gesagt: mit der Absage an die „akademische Muse“ und der Hinwendung zur „alltäglichen, städtischen, lebendigen Muse“ (la muse familière, citadine, vivante). Wie Homer und Vergil die Musen des Götterhimmels der Antike anriefen, damit sie ihnen hälfen, die Geschichten vom Untergang Trojas und von der Gründung Roms zu besingen, so wendet er sich an diese seine Muse, um sich ihres Beistands beim Besingen der Straßenköter zu versichern. Das ist natürlich nur eine poetische façon de parler, ein rhetorischer Kniff; in Wahrheit geht es darum, der „akademischen Muse“ und mit ihr dem „Epigonenschweif der Antike“ den Garaus zu machen und einer am urbanen Leben der Gegenwart orientierten Dichtung zum Durchbruch zu verhelfen. Die poetologische Dimension des Texts gewinnt weiter an Profil, wo der Straßenköter mit „Seiltänzern“ (saltimbanques) und fahrenden Komödianten (histrions) verglichen wird, und er wird vollends offenbar, wo es heißt, daß der Dichter den Straßenköter „brüderlichen Auges betrachte“. Ein Dichter, wie Baudelaire ihn versteht, wird sich mit dem „chien flâneur“ identifizieren, wird in ihm sich selbst und sein Schicksal wiedererkennen, und darauf kommt es bei der Schilderung der „braven Hunde“ vor allem an.

Wie die „großstädtische Muse“ der „akademischen Muse“ gegenübergestellt wird, so der Straßenköter dem Salon- und Schoßhund, der „chien flâneur“ dem „chien bellâtre“: hier der Dichter als armer Hund, und dort der Dichter als Schoßhund der Gesellschaft. In den Salons der Gesellschaft ist der Dichter zwar frei von „Not“, ist er vor Schmutz und Elend sicher, doch nur um den Preis einer Existenz, die irgendwo zwischen denen des „Kinds“, des „galanten Dämchens“ und des „Dienstboten“ angesiedelt ist, um den Preis einer Abhängigkeit, die er nur auf sich nehmen wird, wenn die Eitelkeit in ihm stärker ist als jede andere Regung, und die ihn letztlich ebensowohl seinen „Instinkt“, seine empathischen Talente, wie seinen „Verstand“ kostet, die beiden Vermögen, ohne die man eigentlich nicht Dichter sein kann.

Dem stellt Baudelaire nun eben den Straßenköter als Gegenmodell gegenüber. Es ist das Modell einer Existenz, in der die Mobilität der Moderne geradezu die Form der „Unbehaustheit“ angenommen hat, einer vollkommen ungesicherten Existenz, so wie man es auch beim fahrenden Volk, bei Pennern und „Zigeunern“, Schaustellern, Straßenmusikanten und anderem Jahrmarktsgelichter antreffen mag. Die Schule des Straßenköters ist nicht die „Akademie“ mit ihren nach allen Regeln der Kunst durchgekauten Bildungsschätzen, sondern die Straße, und damit das Leben selbst, ist die Notdurft (nécessité), der Kampf ums Dasein, und eine bessere Schule kann es für die beiden Grundtugenden des Dichters, für „Instinkt“ oder „Witterung“ und „Verstand“ nicht geben.

Weg mit der akademischen Muse! Mit dieser alten Betschwester habe ich nichts zu tun. Ich rufe die alltägliche, die städtische, die lebendige Muse an, damit sie mir helfe(,) die braven Hunde, die armen Hunde, die mit Kot bespritzten Hunde zu besingen, die Hunde, die jeder von sich fern hält, weil sie verpestet und verlaust sind, nur nicht der Arme, dessen Genossen sie sind, und der Dichter, der sie brüderlichen Auges betrachtet.

Pfui über den geleckten Hund, diesen vierfüßigen Gecken, Dänen, King Charles, Mops oder Wachtelhund, so entzückt von sich selbst, daß er höchst zudringlich zwischen die Beine oder auf die Knie des Besuchers springt, wie wenn er sicher wäre(,) ihm Freude zu machen; ausgelassen wie ein Kind, einfältig wie ein galantes Dämchen, manchmal mürrisch und unverschämt wie ein Dienstbote! Pfui über diese vierpfotigen Schlangen, fröstelnd und faul, die man Windhunde nennt und die in ihren spitzen Schnauzen nicht einmal genug Witterung haben, um der Spur eines Freundes zu folgen, noch in ihrem platten Kopf genug Verstand, um Domino zu spielen.

In die Hütte mit all diesen lästigen Schmarotzern! Zurück mit ihnen in ihr seidengefütterte(s) (Körbchen)! Ich singe den kotbespritzten Hund, den armen Hund, den Hund ohne Behausung, den streunenden Hund, den Seiltänzerhund, den Hund, dessen Instinkt, wie der des Armen, des Zigeuners und des Komödianten wunderbar geschärft ist durch die Not, die so gute Mutter, die wahre Schutzgöttin der gescheiten Leute! Ich singe die armseligen Hunde, die einsam in den gewundenen Schluchten der unermeßlichen Städte umherirren, und sie, die dem verlassenen Menschen mit geistvoll blinzelnden Augen sagten: „Nimm mich zu dir, und aus dem Elend von uns beiden machen wir dann vielleicht so etwas wie Glück!“53

39Rolf Sältzer: Entwicklungslinien der deutschen Zola-Rezeption von den Anfängen bis zum Tod des Autors. Bern u. a. 1989.
40Stein: Paris (Anm. 32), S. 11.
41Magdalena Droste: Bauhaus 1919–1933. Köln 1990.
42Joseph von Eichendorff: Ahnung und Gegenwart. Hrsg. v. Clemens Rauschenberg. München 1982, S. 58–59.
43Ebenda, S. 157–158.
44Bettina Full: Karikatur und Poiesis. Die Ästhetik Charles Baudelaires. Heidelberg 2005.
45Charles Baudelaire: Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Zürich 1977, S. 216.
46Ebenda, S. 152.
47Ebenda, S. 176.
48Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und „Kleine Form“. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs von 1830 bis 1933. Berlin 1988.
49Baudelaire (Anm. 45), S. 66.
50Ebenda, S. 91–92.
51Johannes Hauck: Typen des französischen Prosagedichts. Tübingen 1994. – Ulrich Fülleborn: Das deutsche Prosagedicht. München 1970.
52Baudelaire (Anm. 45), S. 66.
53Ebenda, S. 210–212.
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