Geschichte der deutschen Literatur. Band 1

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2.2.1 Die Spaltung der Christenheit

Ein Moment, durch das die Reformation die Rahmenbedingungen der literarischen Entwicklung besonders nachhaltig bestimmte, war die Teilung Deutschlands in Kulturräume unterschiedlicher konfessioneller Prägung; von ihr war bereits zu handeln, als es um die Reichweite von Opitz’ Literaturreform ging. Damit ist ein Moment berührt, das überhaupt von größter Bedeutung für den Weg Europas in die Moderne war: die Reformation spaltete die Christenheit. Durch diese Spaltung wurden gesellschaftliche Fliehkräfte von einer explosiven Gewalt freigesetzt, die auf die Dauer nur auf der Basis völlig neuer, zuvor noch nie erprobter Konzepte wie denen der pluralistischen Gesellschaft und des säkularen, weltanschaulich neutralen Institutionenstaats zu bändigen waren – ein Prozeß, der nach zaghaften Anfängen im 16. und 17. Jahrhundert vor allem im 18. Jahrhundert dank der Aufklärung und ihrer Toleranz- und Verfassungsdiskurse Fahrt aufnahm und erst im 20. Jahrhundert an ein vorläufiges Ende kam. Dieser Prozeß wiederum erlaubte es Kunst und Literatur, sich weitere Spielräume zu erobern, ja ihre Stellung in der Gesellschaft überhaupt neu zu definieren. Denn in ihm erst eröffnete sich ihnen die Möglichkeit, auf institutionelle und weltanschauliche Autonomie auszugehen, und in diesen erblickten sie nun mehr und mehr die unabdingbare Voraussetzung wahrer Kunst.

Eine Spaltung wider Willen

Das alles geschah freilich ohne Absicht und Willen der Reformatoren. Sie zielten mit ihren Bestrebungen auf die Christenheit als ganze, wollten durch die Erneuerung und Vertiefung der religiösen Grund­lagen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens den christlichen Charakter dieser Christenheit intensivieren und damit ihre Einheit stärken. Nur weil die Reformation an einer Linie steckenblieb, die

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quer durch das christliche Abendland und quer durch Deutschland führte; nur weil sich die alte Papstkirche seit dem Tridentinum auf sich selbst besann, neu formierte und zu einer Gegenoffensive ansetzte, kam es zur Spaltung der Christenheit, zur Ausbildung verschiedener Konfessionen und zur Konfessionalisierung der Kultur, zur Formation von Kulturräumen unterschiedlicher konfessioneller Prägung.

Damit aber ging ein zentrales Moment dessen verloren, was das Christentum im Mittelalter ausmachte: die Einheit der Christenheit, wie sie von der „einen heiligen christlichen Kirche“ als Grundlage des gesellschaftlichen Lebens garantiert wurde, eine Einheit, die ihren sichtbaren Ausdruck in der Doppelspitze von Kaiser und Papst fand. Im Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, der zugleich deutscher König war, kulminierte die Pyramide der weltlichen, im Papst die der geistlichen Stände, wobei die beiden Hierarchien aufs engste miteinander verflochten und wechselseitig aufeinander angewiesen waren. Eben deshalb hat Karl V. (1500 –1558), der Kaiser der Reformationszeit, der Enkel und Nachfolger von Maximilian I., die Reformation bekämpft; er sah mit der Einheit der Christenheit die Grundlage seines Kaisertums gefährdet.

Christenheit und Türkenkriege

Die Einheit der Christenheit war bald schon im 16. Jahrhundert nur dann noch zu erleben, wenn es gegen die Ungläubigen, nämlich gegen die Türken ging, und selbst dabei bewährte sie sich nur noch in Grenzen. Denn die frühe Neuzeit war eine Zeit ständig neu aufflammender Türkenkriege.51 Das Reich der Türken, das Osmanische Reich, stand damals auf dem Höhepunkt seiner Macht und suchte sich in immer neuen Wellen über den Balkan und Ungarn nach Mittel­europa hin auszudehnen; 1526 standen die Türken zum ersten Mal, 1683 ein letztes Mal vor Wien, der Residenz der römisch-deutschen Kaiser. Auch im Mittelmeerraum machten sich die Türken zu schaffen und störten die christliche Seefahrt. Ein markantes Datum ist hier die Seeschlacht bei Lepanto von 1571. An dieser Schlacht hat übrigens ­Cervantes, der Autor des „Don Quixote“, teilgenommen; dabei büßte er seine linke Hand ein, einer der Gründe dafür, warum er sich dann

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auf die Literatur warf. Also die Vorstöße der Türken galt es abzuwehren; das geschah vor allem so, daß die Völker Europas zu Kreuzzügen, zu „Heiligen Kriegen“ gegen die Ungläubigen aufgerufen wurden, womit auf ein Instrument mittelalterlicher Politik zurückgegriffen wurde, das in besonderem Maße auf die Einheit der Christenheit setzte.

Die türkische Expansion in Richtung Europa begann 1453 mit der Eroberung von Byzanz, dem alten Konstantinopel und heutigen Istanbul, mit der Zerstörung des byzantinischen Reichs – ein wichtiges Datum auch für die Geschichte des Humanismus. Das byzantinische Kaiserreich war der letzte Rest des alten Römischen Reichs, genauer: des Oströmischen Reichs, also des Teilreichs, in dem Griechisch gesprochen wurde. Es war der einzige Ort, an dem sich dessen Institutionen, Traditionen und Lebensformen kontinuierlich – ohne jene Brüche, die die Entwicklung im Westen prägen – erhalten hatten, so daß hier mehr von der Kultur der griechisch-römischen Antike übriggeblieben war als irgendwo sonst. Der Fall von Konstantinopel brachte nun viele byzantinische Gelehrte als Flüchtlinge nach Europa, und mit ihnen ihr Griechisch, ihre Buchschätze und ihr Wissen. So brachte er sie etwa nach Florenz, dem wichtigsten Zentrum der Renaissance in Italien, so daß sich den Florentiner Humanisten ungeahnte neue Möglichkeiten für ihre Studien eröffneten. Dank der geflohenen Byzantiner lernten sie zum Beispiel Platon und dessen Philosophie des Schönen kennen, eine Bekanntschaft, die sich nachhaltig auf die Kunst der italienischen Renaissance auswirkte.

In der Geschichte der frühen Neuzeit trifft man immer wieder auf die Türken. So sind sie indirekt auch für die großen Entdeckungen und die Anfänge des europäischen Kolonialismus verantwortlich. Sie beherrschten nämlich das östliche Mittelmeer von der Türkei bis nach Nordafrika; ihr Reich bildete eine Art Sperriegel für den gesamten Handel zwischen Zentraleuropa und dem Fernen Osten, für den Austausch mit Arabien, wo der Weihrauch herkommt, ohne den es im christlichen Abendland keinen anständigen Gottesdienst gibt, mit Ostindien, wo der Pfeffer wächst und all die anderen Gewürze, ohne die auch dem Europäer seine Speisen nicht schmecken, und mit China, von wo die kostbare Seide stammt. Um diesen türkischen Sperriegel zu umgehen, suchte man nach anderen Wegen in den Fernen Osten. ­Columbus machte mit der neuen Erkenntnis ernst, daß die Erde eine Kugel

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sei, und suchte im Dienst der Spanier einen solchen Weg im Westen Europas. Dabei entdeckte er 1492 Amerika, und da fanden die Spanier zwar keine Gewürze, aber Gold und Silber, fanden sie „El Dorado“, das Land des Goldes, und das Gold, das sie von hier mit nach Hause brachten, trug nicht unwesentlich dazu bei, dem spanischen König eine machtvolle Position in den innereuropäischen Auseinandersetzungen zu verschaffen. Die Portugiesen fanden dank Vasco da Gama 1497 –1499 im Süden, an den Küsten Afrikas entlang, einen Seeweg nach Indien und legten als Zwischenstationen für die lange Passage und als Handelsposten erste Kolonien in Afrika und Indien an. Ihnen folgten bald auch die Engländer, die Niederländer und die Franzosen.

Der Konflikt zwischen Habsburg und Frankreich

Das christliche Abendland war in der frühen Neuzeit allenfalls dann noch als Einheit zu erleben, wenn es in Gestalt eines Kreuzzugs gegen die Türken ging, und selbst dabei nur noch mit Abstrichen. So war etwa der französische König durchaus nicht unglücklich darüber, daß dem deutschen Kaiser zu Wien die Türken im Nacken saßen. Wiewohl er sich mit dem Ehrentitel eines „Rex christianissimus“, eines superchristlichen Königs, schmückte, scheute er nicht davor zurück, diplomatische Beziehungen zum muslimischen Sultan der Türken anzuspinnen, die auf eine Entente gegen den Kaiser hinausliefen, und manche deutsche Fürsten protestantischer Konfession standen nicht an, sich ihrerseits in der Auseinandersetzung mit ihrem katholischen Kaiser an den katholischen König von Frankreich anzulehnen, der mit den Türken in Verbindung gebracht wurde. Es gab eben auch in einer Epoche, die so sehr von religiösen Fragen beherrscht war wie die frühe Neuzeit, noch andere als religiöse Konflikte; wir finden hier letztlich die gleiche Palette von politischen, ökonomischen und anderen sozialen Interessenkonflikten, die seit jeher und bis heute den Gang der Geschichte bestimmen – und wie sollte es anders sein!

Die wichtigste machtpolitische Konfliktlinie war seinerzeit der Gegensatz zwischen dem deutschen Kaiser, genauer: dem Hause Habsburg, dem die deutschen Kaiser angehörten, und dem französischen König 52 – eine weitere fixe Größe im politischen Leben des 16. und

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17. Jahrhundert neben dem Dauerkonflikt der katholischen und protestantischen Stände und der permanenten Bedrohung durch die Türken. Die Habsburger waren das mächtigste Fürstenhaus in Europa; sie stellten nicht nur die römisch-deutschen Kaiser, sondern herrschten dank diverser Erbschaften seit Maximilian I. außer in Österreich und in einigen Regionen im Südwesten Deutschlands auch in den Niederlanden, in Burgund und Oberitalien, und seit Karl V. sogar in Spanien, Süditalien, Ungarn und Böhmen. Frankreich war also von Habsburgischen Landen umgeben, war von Habsburg eingekreist und suchte die Umklammerung mit allen Mitteln zu sprengen.

Im 16. Jahrhundert rangen die beiden katholischen Monarchien vor allem um die Vorherrschaft in dem ökonomisch und kulturell führenden Italien und um den Einfluß auf die Papstkirche zu Rom, im 17. Jahrhundert dann zunehmend auch um die Vorherrschaft in Deutschland. Es waren nicht zuletzt protestantische Fürsten, die Frankreich das Entree ins Reich verschafften. So schlugen sich im Dreißigjährigen Krieg schließlich auch französische und spanische Truppen in Deutschland, wie man bei Grimmelshausen nachlesen kann. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts suchte der franzö­sische König Ludwig XIV. die Grenze seines Reichs vollends bis an den Rhein vorzuschieben und deutsche Fürsten in einem Rheinbund um sich zu scharen, um sie dem Kaiser zu entfremden – alles Ausdruck jener machtpolitischen Grundkonstellation, die durch den Gegensatz zwischen Habsburg und Frankreich und das Lavieren der deutschen und italienischen Fürsten einschließlich des Papstes und seines Kirchen­staats zwischen den beiden Großmächten gekennzeichnet war.

 

Der Preis des Konfessionsstreits

Es war also nicht nur der Streit der Konfessionen, was die Einheit der Christenheit in der frühen Neuzeit in Frage stellte; es waren auch die üblichen machtpolitischen und ökonomischen Interessenkonflikte. Und dennoch hat nichts der Einheit der Christenheit mehr zugesetzt als der Konfessionsstreit. Denn wenn sich einer dieser Interessenkonflikte erst einmal mit ihm verbunden hatte – und da die Religion die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Lebens war, wurde jeder Konflikt früher oder später von ihm ereilt – dann gewann er eine ganz andere Sprengkraft; dann drohte er ebenso unlösbar zu werden wie die Kontroversen der Theologen, die sich bekanntlich bis heute nicht

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haben einigen können. Und das galt für den Handel und Wandel der kleinen Leute nicht weniger als für die große Politik, betraf nicht nur Fragen wie die der Reichsverfassung und der Beziehungen zwischen den Staaten, sondern auch Alltagsfragen des Zusammenlebens; so war zum Beispiel die Liebe zwischen Menschen verschiedener Konfession im allgemeinen ein aussichtsloses Unterfangen, da „Mischehen“ von allen Konfessionen grundsätzlich ausgeschlossen wurden.

Damit aber wurden Reformation und Gegenreformation, wie angedeutet, zum Ausgangspunkt einer Entwicklung, die scheinbar unaufhaltsam auf eine pluralistische Gesellschaft mit einem weltanschaulich neutralen, säkularen Institutionenstaat zuführte, also zu Verhältnissen hin, unter denen weltanschaulich-religiöse Fragen nurmehr noch Privat­sache, nurmehr eine persönliche Angelegenheit des Individuums sind. Denn wenn sich Religiosität und ein von religiösen Vorstellungen geprägtes Leben nur noch in unterschiedlichen konfessionellen Formen realisieren ließen, dann konnte die Plattform, auf der sich Menschen unterschiedlicher konfessioneller Prägung im Leben begegnen und in Handel und Wandel austauschen, keine religiöse mehr sein; dann mußte sie eine säkulare, weltliche werden.

2.2.2 Christentum und Kunst

Die Dominanz der Religion in der frühen Neuzeit

Die Vorkämpfer von Reformation und Gegenreformation strebten eine Erneuerung und Vertiefung des religiösen Lebens an, eine konsequentere, intensivere Durchdringung der gesamten Kultur mit christlicher Religiosität. Und sie hatten damit zunächst durchaus Erfolg, wenn auch nur in den unterschiedlichen Formen der verschiedenen Konfessionen. So war die Präsenz der Religion in der frühen Neuzeit in vielen Bereichen des Lebens womöglich noch größer als im Mittelalter, erscheint die frühe Neuzeit in diesem Sinne manchmal mittelalterlicher als das Mittelalter. Das gilt gerade auch für Kunst und Literatur. Vieles von dem, was ihnen im Spätmittelalter bzw. in der Frührenaissance noch möglich gewesen war, ließen ihnen die kirch­lichen und weltlichen Autoritäten mit ihrer durch die reformatorische und gegenreformatorische Theologie neu gestählten Frömmigkeit nun nicht mehr durchgehen. Wo immer es ihnen geboten schien, zogen sie erneut die Zügel an.

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Das Bildnis- und Gleichnisverbot der Bibel

Ein erstes Menetekel für das, was mit der Reformation auf die Künste zukam, waren die Ikonoklasmen (Bilderstürme) von 1522: von der reformatorischen Predigt aufgewühlte Menschenmassen drangen in die Kirchen ein, um alle bildlichen Darstellungen aus ihnen zu entfernen und zu vernichten. Auf solche Weise suchten sie mit dem Zweiten Gebot des Alten Testaments neuerlich ernst zu machen, das in Luthers Übersetzung lautet: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend­ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden“ (2. Mos. 20,4). Nimmt man dieses Gebot beim Wort – und die Reformatoren wollten ja die Bibel wieder beim Wort nehmen – dann ist in der christlichen Welt kein Platz für „Bildnisse“ und „Gleichnisse“, für Bildende Kunst und Poesie. Dementsprechend kam es nun erneut zu Bilderstürmen, wie sie seit jeher zur Geschichte des Christentums gehörten. Denn schon in den Zeiten, in denen die christliche Religion ihren Siegeszug durch die antike Welt antrat, kam es immer wieder zu Ikonoklasmen; fanatisierte Mönchshorden zogen durch die Städte, um alles kurz und klein zu schlagen, was ihnen an Kunstwerken in die Hände fiel. Es sagt viel über die Einstellung der frühen Christen zur Kunst, daß sich kaum etwas von der hoch entwickelten Bronzekunst der Antike erhalten hat; man schmolz die Plastiken ein, um aus der so gewonnenen Bronze Glocken zu gießen.53

Das reiche Erbe an christlicher Kunst, an eindrucksvollen Kirchen- und Klosterbauten mit üppiger plastischer und bildlicher Ausstattung, an Kirchenmusik und geistlicher Dichtung läßt uns gerne vergessen, daß zu den Traditionen des Christentums als einer Geistreligion mit einer Tendenz zu asketischen Lebensformen auch eine radikale Kritik an der Kunst gehört. Wo man es mit dem „Leben im Geiste“ ernst meinte, da hat man nur selten gezögert, die Künste wegen ihres intensiven Bezugs zur Sinnenwelt und der selbstgenügsam verspielten Art, mit der sie das Sinnliche kultivieren, als verderblich einzustufen und aus dem Horizont des Christenmenschen zu verbannen – eine Haltung, die sich eben auch auf das Zweite Gebot der Bibel berufen konnte und die von den ersten Theologen, von Kirchenvätern wie

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Tertullian (ca. 160 – ca. 220), Laktanz (ca. 250 – ca. 317) und ­Augustinus (354 –430) mit großer Konsequenz vertreten und systematisch ausgearbeitet worden ist.

Die Kirchenväter hatten freilich zu ihrer Zeit eine Kunst vor Augen, die aufs engste mit der Religion der Griechen und Römer verbunden war, mit dem, was wir heute, nachdem ihm das christliche Abendland den Status der Religion aberkannt hat, Mythos nennen, also mit einer aus christlicher Sicht falschen, im Namen des neuen Glaubens zu überwindenden Religion. In der Kunst und Literatur der Antike werden ja überwiegend die Götter und Heroen des Mythos dargestellt – kein Wunder, wenn frühe Christen den Eindruck gewannen, die Künste seien überhaupt ein Teil dieser anderen Religion, und sie als heidnischen Götzendienst verwarfen. Die theologischen Argumente zur Bekämpfung und Vernichtung von Kunst lagen also seit den Zeiten der Patristik bereit und waren dort, wo man mit dem Christentum neuerlich ernst zu machen versuchte, jederzeit wieder abrufbar.

Kunst als religiöse Didaxe

Was trotz des Zweiten Gebots der Bibel und der Ausarbeitung seines Bilder- und Gleichnisverbots durch die Patristik auf die Dauer dennoch eine christliche Kunst hat entstehen und die Dimensionen und Formen hat annehmen lassen, die wir heute vor uns sehen, war die Einsicht, daß die christliche Lehre der Vermittlung bedurfte, um zu den Menschen zu gelangen, und daß die Künste, daß Bildende Kunst, Musik und Dichtung für dieses Vermittlungsgeschäft besonders geeignet waren. Man hatte zur Kenntnis zu nehmen, wie die Menschen wirklich waren: mit allen Fasern in das sinnliche Treiben der Welt verstrickt und nur wenig zu einem Leben im Geiste aufgelegt; man hatte sich auf die sündige Natur des Menschen einzustellen. Die Künste verfügten aber offensichtlich über die Potentiale, die es erlaubten, den Menschen die christliche Lehre auf eine ihnen gemäße Weise nahezubringen, sie nämlich bei ihrer sinnlichen Seite zu packen und auf eine werbende, gewinnende, den Sinnen schmeichelnde, fesselnde und überwältigende Weise zu einem Leben im Geiste anzuleiten. Und so hat sich die christliche Welt dann in der Tat eine Kunst im Dienst des Glaubenslebens, eine didaktische, „ana­gogische“ Kunst herangezogen; „anagogisch“ meint eben: zum Glauben hinführend. Dabei hat sie freilich stets – wenn auch mit wechselnder Strenge – darüber gewacht, daß sich deren sinnliche Potentiale nicht

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verselbständigten und die Transparenz auf die Dogmen und Normen der Religion gewährleistet war.54

Kunst als „medicina mentis“

Und noch ein zweiter Gedanke konnte aus christlicher Sicht für die Kunst sprechen, einer, der ihr in der christlichen Welt immer wieder einen besonders weiten Spielraum verschaffte: die Vorstellung von der Kunst als „medicina mentis“, als Medizin für den Geist. Auch der strengste Theologe mußte zur Kenntnis nehmen, daß der Mensch in seiner Schwachheit nicht ausschließlich und ununterbrochen dem Glauben leben könne, daß dazu allenfalls ein Heiliger in der Lage sei, den Gott eigens dazu ausersehen habe, und daß sich jeder andere gelegentlich von den idealen Forderungen der Religion und den entsprechenden Glaubensübungen erholen müsse, wenn er nicht an Leib und Seele krank werden solle, selbst der Geistliche, selbst der Mönch und die Nonne. Ja gerade sie, die sich in besonderem Maße einem asketischen Leben verschrieben hatten, mußten immer wieder schmerzliche Erfahrungen mit den physiologischen und psycho­logischen Grenzen der Menschennatur machen. Da konnte die Kunst Abhilfe schaffen, konnte es etwa eine heilsame Wirkung haben, wenn die Anspannung der Glaubensübungen gelegentlich durch die Lektüre „lust- und lehrreicher Geschichten“ oder – noch effektiver – reiner Unterhaltungsliteratur unterbrochen wurde. Der Geist konnte sich über solcher Abwechslung erholen und anschließend mit neuer Energie an die heiligen Werke gehen.55

Christliche Kunstpolitik

Damit sind die drei wichtigsten Aspekte benannt, die von der Spätantike bis weit in die Neuzeit hinein das Verhältnis des Christentums zur Kunst bestimmt haben: das Bildnis- und Gleichnisverbot der Bibel, die Indienstname der Kunst für anagogisch-didaktische Aufgaben und der Gedanke der Kunst als medicina mentis. Es sind drei durchaus unterschiedliche, ja widersprüchliche Aspekte. Während bei dem ersten das Insistieren auf der reinen Lehre den Blick auf die Kunst bestimmt, ist es bei den beiden anderen die Einsicht

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in die Notwendigkeit pragmatischer Konzessionen an die Natur des Menschen, an sein Angewiesensein auf die Mittlerschaft der Sinne und das vitale Bedürfnis seines psychologisch-mentalen Apparats nach Abwechslung.

So definieren sie ein Spannungsfeld, dessen Kräfte von den kirch­lichen Autoritäten immer wieder neu auszutarieren waren. Auch eine anagogische Kunst übertrat natürlich das Bildnis- und Gleichnisverbot der Bibel. Mochte sich dies bei ihr noch mit dem Hinweis auf ihre didaktische Effizienz rechtfertigen lassen, so ließ sich eine reine Unterhaltungskunst trotz des Gedankens der medicina ­mentis kaum mit überzeugenden Argumenten aus der theologischen Schmuddel­ecke herausholen. Um so mehr war darauf zu achten, daß gerade sie nicht ins Kraut schoß; am besten war es, wenn auch sie sich noch irgendwie an die Sphäre der reinen Lehre anschließen ließ. Wo das nicht gelang, konnte das Zweite Gebot erneut in sein Recht treten; von ihm aus ließ sich eine Kunst, die der Verselbständigung der sinnlichen Seite der Welt Vorschub leistete, jederzeit wieder zur Ordnung zu rufen.

Restriktive Impulse der Reformation

Eben dies haben die Verfechter der Reformation zunächst mit großem Nachdruck versucht. Sie sahen in jener Kultur der Konzessionen an die menschliche Schwachheit, die sich in der alten Kirche während des Mittelalters entwickelt hatte und die die Grundlage ihrer Kunst war, eine Abweichung vom rechten Weg und suchten der reinen Lehre zu neuerlicher Geltung zu verhelfen, indem sie das Bildnis- und Gleichnisverbot der Bibel wieder zum Nennwert nahmen; daher die Bilderstürme. Besonders konsequent waren hier die Calvinisten; ihre Kirchen blieben auf Dauer von jedem bildnerischen Schmuck frei, und auch außerhalb der Kirchen wachten sie streng über die Bildkultur. Man würde vielleicht meinen, daß sie allenfalls Bilder mit religiösen Sujets, etwa mit Szenen aus der biblischen Geschichte zugelassen hätten, aber gerade solche Bilder waren bei ihnen verpönt, wie Bilder mit historischen Sujets überhaupt. Das religiös und historisch Bedeutsame war für sie der Kunst verschlossen, konnte durch diese nur entstellt und verfälscht werden.56

 

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Das hat auf die Dauer höchst eigentümliche Folgen gezeitigt, die in der Geschichte der Bildenden Kunst tiefe Spuren hinterlassen haben. Es hat zum Beispiel dazu geführt, daß sich die Malerei in den calvinistischen Regionen der Niederlande bestimmten Bereichen der Realität zuwandte, die zuvor immer hinter religiösen, historischen und politischen Sujets hatten zurückstehen müssen und die nun, da der Malerei diese Sujets verschlossen waren, erstmals bildwürdig wurden: der Landschaft, den unscheinbaren Dingen des Alltags und dem Leben der kleinen Leute. So entstanden die neuen Gattungen der Landschafts-, Stilleben- und Genremalerei, wie sie bald zu einer Plattform wurden, von der aus sich die Kunst neuartige Formen des Realismus erobern konnte – auch dies ein Weg in die Moderne, der durch die Reformation eröffnet wurde, ohne von ihr gewollt zu sein.

Besonders schwer hatte es bei den Reformierten das Theater. So gelang es zum Beispiel den Puritanern oder Presbyterianern, einer religiösen Bewegung, die sich unter dem Eindruck der Reformation Calvins in England gebildet hatte, hier 1642 ein allgemeines Verbot des Theaters durchzusetzen – ausgerechnet in England, wo es seit den Zeiten Shakespeares ein besonders reiches, wohlorganisiertes Theaterleben gegeben hatte. Die Argumente waren weithin die gleichen wie schon bei Tertullian; für die Puritaner war das Theater reines Teufelswerk. Damals verließen die letzten Schauspieler England, um sich jenen Wanderbühnen anzuschließen, die seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert die englische Bühnenkunst nach Kontinentaleuropa und insbesondere nach Deutschland getragen hatten und hier an den Fürstenhöfen und auf Jahrmärkten und Messen ihr Publikum suchten. Diese Wanderbühnen, die man zu ihrer Zeit die „englischen Komö­dianten“ nannte, stellen übrigens so etwas wie das popularliterarische Gegenstück zu dem neulateinischen Jesuitentheater dar und haben wie dieses ihr Teil zur Ausbildung des Barockdramas beigetragen.57

Daß sich die Calvinisten bei dem Versuch, das Bildnis- und Gleichnisverbot der Bibel gegenüber den Künsten zu neuerlicher Geltung

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zu bringen, besonders hervorgetan haben, bedeutet freilich nicht, daß ihnen die Lutheraner weniger kritisch gegenüberstanden. Das gilt vor allem auch für Luther selbst.

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