Buch lesen: «Ursula»
Gottfried Keller
Ursula
Impressum
Texte: © Copyright by Gottfried Keller
Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke
Illustrator: © Copyrigh by Walter Brendel
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
gunter.50@gmx.net
Inhalt
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Nachbetrachtung des Herausgebers
1. Kapitel
Wenn die Religionen sich wenden, so ist es, wie wenn die Berge sich auftun; zwischen den großen Zauberschlangen, Golddrachen und Kristallgeistern des menschlichen Gemütes, die ans Licht steigen, fahren alle hässlichen Tazzelwürmer und das Heer der Ratten und Mäuse hervor. So war es zur ersten Reformationszeit auch in den nordöstlichen Teilen der Schweiz und sonderlich in der Gegend des zürcherischen Oberlandes, als ein dort angesessener Mann, der Hansli Gyr genannt, aus dem Kriege heimkehrte.
In den Anfangstagen des Jahres 1523 zog nämlich das kleine Zürcherheer über die Alpen zurück, das wunderlicherweise dem Papsttum Land und Leute gegen Frankreich geschützt hatte, während in der Heimat schon das Evangelium gepredigt wurde. Diese Zürcher hatten Parma, Piacenza und andere Städte genommen, nach dem Tode Leos X. den vatikanischen Palast verwahrt, bis Hadrian VI. gewählt war, und bei alledem den Zusammenstoß mit den übrigen Eidgenossen vermieden, die mit dem Franzosen im Bündnis und in dessen Heeren standen. Als sie schließlich sahen, dass sie von den Römern allerdings und trotz der Glaubensbewegung beschmeichelt und gehätschelt, aber zugleich gehänselt und die schuldigen Gelder nicht bezahlt wurden, zogen sie endlich, vom Rate abberufen, heimwärts, und die Hauptleute kamen gerade noch zeitig genug in Zürich an, um dem ersten Religionsgespräche vom 29. Januar auf dem dortigen Rathause beizuwohnen und mitzurichten über das päpstliche Rom.
Es mochte wiederum einen seltsamen Anblick gewähren, diese schwertgewohnten, mit goldenen Ketten geschmückten und schwer befiederten Männer, die vom jahrelangen Aufenthalt in dem Italien des sechzehnten Jahrhunderts herkamen, teilnehmen zu sehen an dem lediglich auf das geistige Wort gestützten logischen Fortgang von Disputationen, Abstimmungen und Beschlüssen, an der Reinigung von Glauben, Sitte und Staat, die sich im Widerstand gegen eine Welt vollzog und deren unfertig gebliebene Ausbreitung nur eine Folge begangener Fehler sein sollte.
Als der gedachte Heerzug, der nicht viel über fünfundzwanzighundert Mann stark sein mochte, mit Zeug und Tross vom Walensee hermarschierend am linken Ufer des Zürichersees, der Stadt Rapperswyl gegenüber, anlangte, schwenkte Hansli Gyr mit Urlaub von der Heersäule ab und wandte sich der Rapperswyler Brücke zu, um seine am Berge Bachtel im jenseitigen Lande gelegene Hofstatt frühzeitiger zu erreichen. Der Name Hansli bedeutete nicht etwa eine kleine Gestalt; denn es war ein ziemlich hochgewachsener Mann und kräftiger Rottmeister, obgleich noch jung an Jahren. Vielmehr drückte sich darin eine gewisse vertrauliche Beliebtheit und der Ruf der Zuverlässigkeit aus, in welchem der Träger unter seinen Genossen stand; wie denn in den Mannschaftsrödeln oder den Verzeichnissen der Jahrzeitbücher solche oft vorkommende Koseformen für die Namen längst heimgegangener, sonst gänzlich unbekannter Kriegsleute den Eindruck machen, dass diese mehr als andere wert und lieb gewesen seien, vielleicht wegen ihres einfacheren, treuherzigeren Wesens oder wegen heitern Gleichmutes und gutartiger Laune oder irgend anderer guten Eigenschaften.
Den ledernen Reisesack leicht über die Achsel geworfen, schritt der Mann auf der gegen fünftausend Schuh langen geländerlosen Holzbrücke rüstig dahin, dass die Bretter klapperten und der gefrorene Schnee darauf knarrte. Stattlich gekleidet und gewaffnet zeigte er gleichwohl nichts von dem übermütigen Pompe der Kriegsknechte jener Zeit; sein Kleid in den weiß und blauen Landesfarben war von starkem Wolltuch und nur mäßig zerschnitten, etwa wie auch heutzutage der Bescheidenste den Schneider nicht hindern kann, diese oder jene Mode an seiner Leibeshülle anzudeuten. Allerdings waren Harnisch, Eisenhut und Helbarte von guter mailändischer Arbeit, der Harnisch sogar von den schlanken Hüften gegen die breiten Schultern hin fächerförmig und fein kanneliert, und von eigentlichem Luxus konnten allenfalls die hohen Lederhandschuhe zeugen, die er trug; denn ohne solche ließ sich damals kein schweizerischer Soldat sehen, der etwas auf sich hielt, wie es auch in einem Liede deutscher Landsknechte heißt:
Das Geld woll'n wir verschlemmen,
Das der Schweizer um Handschuh' gibt.
Sonst aber bestand der größte Staat, in welchem der Mann glänzte, aus dem blitzenden Scheine der Wintersonne, die weithin sichtbar sich in seiner silberblanken Rüstung spiegelte, also dass, solang er auf der Brücke ging, im See unter ihm ein zweiter Abglanz mit hinüberwandelte und erst verschwand, als Hansli in das dunkle Hafentor des Städtleins Rapperswyl getreten war.
Da er noch gegen drei Stunden Weges zurückzulegen hatte und überdies nicht sicher war, an seinem verlassenen Heimatherde heute noch etwas Nahrung zu finden, ging er in eine Taverne hinein und ließ sich warmes Essen, sowie eine Kanne Wein geben. Die Stube war mit Schiffern, Krämersleuten und Bauern angefüllt, mit gut katholischem Volke aus der schwyzerischen March und dem Gasterland, und obgleich Hansli Gyr schon manches von den heimischen Vorgängen vernommen, hatte er doch keine Vorstellung besessen von der bereits tiefgehenden Leidenschaft und Gereiztheit, welche jetzt in den Gesprächen der zechenden Leute zutage trat. Verwundert hörte er die über die Zürcher schon im Schwange gehenden Spottnamen und Scheltworte, wie sie in solchen Zeiten immer die ersten Waffen der unwilligen Beschränktheit gegen die Neuerer bilden. Ein alter Söldner, den er wiedererkannte und um die Bedeutung der Worte fragte, erklärte ihm, dieselben missbilligend, Herkunft und Sinn der hässlichen Schmachrufe, brach aber gleich selber in bitteren Tadel aus.
»Deine Herren von Zürich«, rief er, »wollen die Pfaffen kuranzen und lassen sich von der neuen Art selbst Zaunpfähle auf ihren Köpfen spitzen! Predigen lassen sie gegen uns arme Kriegsleute, dass es ein Elend und eine Schande ist! Sie wollen uns verbieten, unser Leben zu gewinnen, wo wir es finden, und mit Ehren einen blutigen Pfennig zu suchen oder einen goldenen Kronenzinken herunterzuschlagen! Stubenhocker und Duckmäuser sollen wir werden, die der Mutter am Fürtuch bangen, und doch haben wir Land und Freiheit nicht mit Bücherlesen und Schwätzen, sondern mit guten Spießen und langen Degen erhalten! Mögen sie es so treiben, sie werden am Ende geschickte Schulmeister und Disputierer sein, aber sicherlich im offenen Feld keinen Streit mehr bestehen und kaum ihre Stadtmauer schirmen!«
Hansli Gyr wurde von dieser Rede nicht stark betroffen; er war, ob noch jung an Jahren, des Krieges müde und sehnte sich nach Ruhe und friedlicher Arbeit. Auch schien ihm der alte Kriegsmann, wenn er ihn genauer betrachtete, nicht viel Ursache zu haben, sich seiner vergangenen Tage zu freuen. Denn er war offenbar von Mühseligkeiten und wildem Leben gebrochen, von der Gicht geplagt und vor der Zeit alt geworden; sein abgeschossenes seidenes Wams ließ unter den Spuren von Schweiß, Staub und Eisenrost kaum noch eine Farbe erkennen; die dazugehörige gebauschte Prachthose war längst verschwunden und mit einem bescheidenen Kleidungsstück von Ziegenfell vertauscht. Zwischen Wams und Hosen hing noch das Hemd heraus, aber nicht mehr als Schmuck und Fahne des Übermutes, sondern als ein grauer und gröblicher Sack der Armut. Den Kopf deckte lediglich ein Käpplein von verblichenem rotem Sammet, das er einst unter dem Federhut getragen und jetzt unablässig über die Ohren zog, die ihn schmerzten, und statt des Schwertes trug er eine Krücke. Begierig nahm er den Krug an, welchen Hansli frisch füllen ließ, und wickelte etwas übriggebliebenes Brot und Käse sorgfältig in ein Tüchlein.
Nichtsdestoweniger fuhr er grollend fort: »Deine Herren haben sich aber die Rute schon selbst gebunden! Das gemeine Volk überbietet sie in der Torheit, wie der Aff den Narren, und die Bauern wollen zu einem andern Loch hinaus als die Herren! Geh nur heim auf deinen Berg, der wimmelt, wie ein Hund voll Flöhe, von Schwärmern und Propheten, die in den Wäldern predigen, tanzen und Unzucht treiben, und die Weiber sind toller denn die Männer!«
Erschreckt horchte der jüngere Kriegsmann auf und verlangte näheren Bericht über diese abenteuerlichen Dinge, worauf der Alte ihm in seiner Weise erzählte, was er von dem wiedertäuferischen Treiben wusste, das insbesondere im Grüninger Amte und in der Gegend des Bachtelberges sich ausgebreitet hatte. Er schloß die Erzählung, zu seiner eigenen Narrheit zurückkehrend, mit der Ermahnung, der Junge solle nicht in dieses heimische Wirrsal hinein, sondern wieder fort und zu den Kriegsscharen des Königs Franziskus gehen, wo es Scharten auszuwetzen und neues Glück zu erjagen gelte.
Mit blinzelndem Auge sah der Alte unter den weißen Buschbrauen hervor und schaute träumerisch im Geiste die stürmenden Schlachthaufen, die fliegenden Fahnen, niedergeworfenen Feinde, die brennenden Gehöfte, üppigen Quartiere, fremdländischen Frauen und den silbergefüllten Beutel.
Als er wieder erwachte von den schönen Träumen, fand er den Kameraden nicht mehr neben sich, weil der von Neugierde und Sorge getrieben schon die Stadt verlassen hatte und mit starken Schritten der Heimat entgegeneilte.
Dort waren ihm in den letzten Jahren, während er zu Felde lag, kurz nacheinander Vater und Mutter gestorben, der kleine Bauernhof aber und die Güter inzwischen von einem Nachbarn besorgt worden, dessen Behausung ein paar hundert Schritte entfernt auf der gleichen ansteigenden Höhe des Bergfußes stand. Nicht sowohl die Sorge für sein Eigentum beschleunigte seinen Gang, als die Furcht, die Dinge sonst nicht mehr zu finden, wie er sie einst verlassen. Mitten in der italienischen Pracht und Herrlichkeit und beim Anblick der römischen Weiber hatte er stets nur an die junge Ursula, die Nachbarstochter, gedacht, mit der er aufgewachsen war. Ihr stilles, schlichtes Wesen, ohne allen Schein, weder schön noch hässlich, gut, wie das tägliche Brot, frisch, wie das Quellwasser, und rein, wie die Luft vom Berge, besiegte vor seinen Sinnen jeden fremden und gewaltsamen Glanz, und das Zusammenwohnen mit ihr dünkte ihm so unentbehrlich wie die Heimaterde selbst, welche den Menschen mit ihren treuen Maßliebaugen anschaut.
Halb vertraut war er von der nicht völlig Erwachsenen geschieden; nun nahm es ihn wunder, wie Ursula aussehen möge, und konnte doch keine andere Vorstellung gewinnen, als diejenige des halben Kindes. Umso hastiger eilte er vorwärtszukommen, von den Reden des Soldaten verwirrt, und hielt sich bei bekannten Leuten, denen er auf seinem Wege begegnete, nur kurz auf. Trotzdem glaubte er zu bemerken, dass die einen Gesichter machten, als ob sie sagen wollten: »Du wirst dich wundern, wenn du heimkommst!« und dass andere ihn prüfend beäugelten, wie wenn sie seine Gesinnung ausforschten. Endlich sah er sein Haus auf der Höhe unter den zwei großen Nussbäumen stehen, die es im Sommer beschatteten und jetzt ihre mächtigen Äste auslegten, dunkel und bemoost, wie das Strohdach unter ihnen, und von dem über Tag geschmolzenen Schnee triefend. Aber nicht nur diese fallenden Tropfen, sondern auch die kleinen Fensterscheiben, die er hinter den Läden verschlossen wähnte, funkelten wie frisch gewaschen in der sinkenden Abendsonne; aus dem Dache stieg ein wirtlicher Rauch empor, die Türe öffnete sich und eine nicht unreine weibliche Gestalt trat heraus, mehr wie eine Bürgersfrau als wie eine Bäuerin damaliger Zeit gekleidet. Ein langes dunkles Gewand umhüllte einen schlanken Leib bis zum Halse, dicht unter der Brust gegürtet, und ließ am Oberarme die schmal gefalteten Ärmel eines weißen Hemdes hervorgehen; ein halbdurchsichtiges Häubchen bedeckte die Stirn bis nahe zu den großen dunkeln Augen; überdies war ein feines weißes Tuch mehrmals um Kopf, Nacken und Kinn gewunden, so dass nichts von dem Haupthaare sichtbar und das Gesicht vollkommen eingefasst wurde.
Hansli Gyr hatte soeben nur an Ursula gedacht und erkannte sie vielleicht gerade deswegen nicht sogleich, als die gereifte weibliche Gestalt ihm entgegenkam, die Arme öffnete und ihm um den Hals fiel. Erst als ihre weiche Brust auf seinem fühllosen Harnisch lag, erkannte er sie an dem Schnitt ihres ernsten Mundes, den sie ihm zum Kusse bot, und erst nachdem er sie unbewusst umschlossen und geküsst hatte, wurde er des unerwarteten Glücksfalles inne, den er sich nicht so nahe gedacht. Er hielt sie verwirrt und ungewiss in den Armen, ließ diese allmählich locker, da er unrecht zu tun glaubte, zog die liebe Gestalt aber gleich wieder fester an sich, bis er sie endlich entschieden von sich abhielt und, sie betrachtend, ausrief: »Bist du denn eigentlich die Ursula? Und so groß und schön geworden?«
»Wollte Gott, ich wäre schön!« sagte sie mit liebevollem Blicke, »ich möcht' es dir herzlich gönnen! Wie lange hab' ich auf dich gewartet! Wir wussten aber, dass ihr heute kommt, wir haben eure Wehre glänzen sehen in der weiten Ferne und durch die stille Luft sogar die Trommeln zu hören geglaubt. Da bin ich hierhergekommen und habe dein Haus gelüftet und gewärmt und das Feuer auf dem Herd entfacht. Deine Tiere stehen in unseren Ställen, morgen kann man sie herüberführen, dann ist alles fertig. Nun komm herein!«
Sie führte den überraschten Mann in das Haus, half ihm dort sich seiner Kriegsrüstung zu entledigen, brachte warmes Wasser, dass er nach dem langen und beschwerlichen Marsche die Füße baden konnte, und pflegte ihn auf jede Weise. Dann deckte sie den Tisch und trug das Essen auf, das sie bereitet hatte, worauf sie sich neben ihn setzte auf die Bank am Fenster, wie wohl junge Eheleute tun, ehe sich ein Hausgesinde gesammelt und Mann und Frau mehr auseinander gerückt hat.
Es verspürte aber keines von beiden großen Esslust, weil die Freude über das Wiedersehen sich mit einer verwunderlichen Aufregung vermischte, welche aus dem ungewöhnlichen Tun der Frauensperson entstand. Hansli Gyr betrachtete die Jugendgenossin mit wachsendem Wohlgefallen, aber auch mit neuem Erstaunen und ungewissem Sinn, und er wollte sie eben befragen, wie es denn komme, dass sie die Kopftracht, Tuch und Haube einer verheirateten Frau trage, als sie mit zärtlichem Lächeln auf eine Weinkanne, Weißbrot und Gewürzschachtel wies, die auf einem Gesimse standen, und errötend sagte, dass hier schon das Zeug zu einer guten Weinsuppe für den kommenden Morgen bereit sei. Es war damals üblich, dass die Frau eines Kriegsläufers, wenn er aus dem Felde nach langer Abwesenheit zurückkehrte, ihm am Morgen nach der ersten Nacht, die er wieder an seinem Herde zugebracht, zum Zeichen ihrer Freude einen heißen Würzwein mit gerösteten Brotschnitten kochte, so gut sie es imstande war.
Noch ungewisser und erstaunter sagte er: »Aber wir sind ja noch gar nicht getraut und nichts ist beredet und vorbereitet!«
»Warum hast du mich denn geküsst, wenn du mich nicht willst?« antwortete Ursula, die jetzt plötzlich blasse Wangen bekam.
»Ei, wer sagt denn, dass ich dich nicht wolle?« rief Hansli, indem er das junge Weib näher an sich zog; »wenn du mich willst, so will ich auch dich! Aber damit sind wir ja erst Brautleute, sofern die Deinigen auch ihre Einwilligung geben.«
»Weißt du denn noch nicht, dass wir hier zu den Heiligen und Sündenlosen des neuen Glaubens gehören, die keiner weltlichen noch geistlichen Obrigkeit mehr untertan sind? In uns ist der Geist Gottes, wir sind sein Leib, und wir tun nichts, als allein seinen Willen! So sagen unsere Propheten, und du sollst und wirst auch in unsere Gemeinschaft treten, und so nehmen wir uns zu Mann und Frau vermöge des Heiligen Geistes und Willens, der in uns waltet!«
Diese Rede hielt Ursula mit hastigen Worten, und jetzt erblasste Hansli ein weniges, als er sie noch fester umfing und ihr prüfend in die Augen blickte; denn er hatte sie nie so viel auf einmal reden hören. Wie sie nun, an seinem Halse hangend, die Augen zu ihm aufschlug, sah er darin ein sanftes, sinnliches Feuer glühen, aber zugleich auch die Flamme des Irrlichts, welche die Bescheidenheit dieser Seele versengt hatte, und er merkte, dass sie von der Wahnkrankheit befallen war, wie eine süße Traube vom Rost.
Ungern und langsam löste er sich aus der Umarmung und von der Brust, die ihm so willkommene Ruhe bot, und suchte sanft die Hände, die sich immer wieder verschränkten, von seinem Halse wegzubringen, bis er endlich mit einem festen Ruck sich befreite und hochaufgerichtet vor ihr stand.
»Auf die Art kann es nicht gehen,« sagte er ernsthaft, »ich will nach Recht und Bräuchen zur Ehe schreiten und festhalten, was mein ist! Komm, liebe Ursel, ich will dich in dein Haus zurückführen und mit den Deinigen sprechen, so gerät alles in der Ordnung und wir kommen umso fröhlicher zusammen! Von deinen Heiligen und Propheten höre ich nichts Gutes und kenne sie nicht, meine auch nicht, mit ihnen vertraut zu werden!«
Ursula gab ihm aber keine Antwort; sie ließ die Arme schlaff niederhängen und blickte verstört vor sich hin. Beschämung und Unwillen hatten sie gleich einer Verschmähten, die sich selbst angetragen, überwältigt, und jetzt wusste sie keinen Rat, da der Liebste wie eine Art Richter vor ihr stand. Jene Beredsamkeit war von ihr gewichen, ohne dass die alte bescheidene Gemütsruhe zurückkehrte, und im wunderlichen Wechsel des Lebens traf es sich, dass der in allen Irrsalen herumgetriebene Reisläufer mit gesunden Sinnen dastand, während das Unheil das stille Weib in der entlegenen Bergeinsamkeit aufgefunden hatte.
Hansli band sein Seitengewehr wieder um den Leib; dann reichte er der Verstummten die Hand, und als sie sich nicht regte, hob er sie gemächlich empor und sagte: »Komm, Ursel, wir wollen's bald in Ordnung bringen!« Sie ließ sich willenlos gegen die Türe führen; dort klammerte sie sich aber an den Türpfosten und rief flehend: »O lass mich hier! Lass mich hier!« Jedoch er machte sie wiederum los, worauf sie plötzlich rasch entschlossen voranging und in die Nacht hinaus lief, ohne auf ihn zu warten. Er holte sie indessen mit wenigen Schritten ein; sie gingen ohne zu sprechen nebeneinander hin und sahen bald die großen Ahornbäume in den Nachthimmel ragen, bei welchen der Hof des Enoch Schnurrenberger lag, des Vaters der Ursula.
Dieser Geschlechtsname rührt von einer weiter nördlich gelegenen erhöhten Lokalität her, Schnurrenberg genannt, was ehemals, zur Zeit der Landteilung, Berg des Snurro, des Schnurranten, Possenreißers, bedeutete. Wenn nun Vater Enoch auch schwerlich von jenen alten Snurringen abstammte, so war er doch in seiner Art ein grimmiger Possenreißer, der sich für den durchtriebensten Gesellen des Landesgegend hielt; das wollte aber viel sagen, weil es in diesem Oberlande an aufgeweckten und findigen Köpfen nicht fehlte, unter welchen bei jeder Gelegenheit auch alsobald Propheten und Fanatiker, Maulwerker und Spekulanten aller Art aufstanden.
Im Hause Enochs saß nächtlicherweile grad eine Anzahl solcher Propheten beisammen, wenn auch untergeordneter Art und keiner von den großen Predigern darunter, die geheim oder offen das Land durchstreiften. Es waren vielmehr allerlei Mittelsmänner, welche den allgemeinen Wahn noch im besonderen missverstanden, mystische Überlieferungen hineinmengten und, von alten Leiden des Volkes bewegt, die wachsende Gärung ausbreiteten und auf derselben schwammen.
Vier oder fünf solcher von der Wärme der Zeit ausgebrüteter Winkelseher hielten bei dem Schnurrenberger eine erbauliche Sprachversammlung. Damit sie jedoch Licht und Raum nicht umsonst gebrauchten, hatte ihnen der schlaue Wirt einen Haufen zum Dörren bestimmter Äpfel aufgeschüttet, welche die Propheten zerstückeln mussten, während sie ihre Gesichte und Gedanken austauschten. Da sie aber so fleißiger Arbeit nicht eigentlich günstig waren und zudem von der Wirtin fortwährend ermahnt wurden, die Apfelbutzen reinlicher auszustechen, so saßen sie ziemlich verdrossen um den Tisch herum und der Geist wollte nicht über sie kommen. Sie fühlten sich daher angenehm erleichtert, als Hansli Gyr gemessenen Schrittes in die Stube trat, sich umsah und grüßend auf den Vater Enoch zuging, der ihn mit seltsam glitzernden Augen anstarrte und zu durchbohren suchte. Sofort taten die anderen Propheten das gleiche, indem sie die Äpfel ruhen ließen und mit den müßigen Äugelein, je nach den verschiedenen Leibeskräften, blinzelnd oder funkelnd den unbefangenen Soldaten von allen Seiten bestrichen. Sie hielten sich sämtlich für sogenannte Durchschauer und frönten der schlechten Gewohnheit solchen Anblinzelns, welches immer entweder einen Schelmen oder einen eingebildeten Narren verrät, ehrlichen und anständigen Menschen aber unverständlich und widerwärtig ist und ihnen das Gefühl erweckt, als wenn sie von Ungeziefer bekrochen würden.
Wie sie nun so taten, als ob der Eingetretene von Glas wäre und sie ihn durch und durch schauen könnten, hielt Hansli auf seiner kurzen Wanderung durch die geräumige Stube unversehens still und sah die Männer, einen nach dem andern, mit Erstaunen an. Er besann sich, dass dieses wahrscheinlich von den neuen Heiligen seien, die ihm das Liebchen verdorben; wenn er also mit der neugierigen Betrachtung des letzten fertig war, so begann er wieder bei dem ersten, mit arglos ruhigen Augen, und ließ sich alle Zeit dazu. Sie fingen daher mit ihren Augendeckeln immer unruhiger an zu zwinkere und wollten doch im Durchschauungswerk nicht dahinten bleiben, so dass ihnen das Ding unbequem wurde und der Schnurrenberger das Wort nahm und sagte:
»Was kommt uns da für ein Schwertträger und Kriegsheld? Wen will er befehden?«
»Nur ich bin's!« antwortete Hansli, »guten Abend, Vater Enoch und alle miteinander!«
Zugleich schaute er sich nach der Ursula um, welche ihm schon vor dem Hause abhandengekommen und verschwunden war. Man wusste hier recht gut, dass sie gegangen war, den heimkehrenden Soldaten zu empfangen; man kannte auch ihre Neigung und setzte ihren Plänen keine Hindernisse entgegen; dennoch stellte sich der schnurrige Mann, als ob er von nichts wüsste, fragte nicht, wo Hansli das Mädchen gelassen habe, und wies ihm eine Schabelle zum Sitzen an, indem er fortfuhr:
»Ei seht da! Das ist ja unser Freund und Nachbarsmann und fast nicht mehr zu erkennen, wahrlich noch gewachsen, so ein großer Hans ist er.«
Kaum hatte Hansli aber Platz genommen, so begann jener mit volksmäßiger Ungeduld und Streitlust zu schelten:
»Was soll der Degen und das Kriegskleid noch? Weiß man noch nicht, dass das tausendjährige Reich kommt und unsere Wehrleute die Engel im Himmel sind mit glastigen Schwertern und Demantschilden? Aber freilich, ihr kommt vom Papst und geht zum Papst oder Päpstlein in Zürich, was solltet ihr da vom tausendjährigen Reich und vom Geiste wissen, ihr Eisenfresser und Großhanse? Ihr haltet euch wohl für groß und wichtig mit euren Trommeln und Fahnen? Ach was für ein hinfälliges, wässerig-feuchtes Wesen ist doch der Mensch! Wenn man ihn nur ein wenig ansticht, so läuft er gleich aus, und nimmst du den stärksten Kriegsgesellen, der wie aus Marbel gehauen scheint in seinen Gliedmaßen, und lässest ein Felsstück auf ihn fallen nur so groß wie ein Kamel, so ist's, wie wenn man eine elende Spinne platt getreten hätte; ein schmutzigfeuchter Fleck auf der Erde ist alles, was übrigbleibt.«
Auf diese unfreundlich gemeinte Demütigung erwiderte Hansli mit gutmütigem Lachen: »Und was bleibt denn übrig, wenn das Kamelstück auf einen Heiligen und Propheten fällt?«
Das gefiel aber dem Enoch keineswegs; denn statt darauf zu antworten, rief er: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen! Willst du Ei auch schon klüger sein, als die Henne? Und hast du noch keinen von den gelehrten Herrenpfaffen gesehen und ihren Hauptmann, den verkehrten Zwingli, noch nicht einmal predigen gehört?«
»Freilich hab' ich ihn schon gesehen und gehört,« sagte Hansli, »aber es ist lang her und ich hatte noch nicht viel Verstand. Das ist vor acht Jahren gewesen, als ich, ein sechzehnjähriger Bub, mit nach der Lampartei gelaufen bin, zur Zeit des Unglücks von Marignan, da wir die Schlacht verloren. Da hat der Zwingli uns im Felde gepredigt, ein lieblicher und mutiger Mann, der hatte Augen wie ein Hirsch so schön, ich weiß deutlich noch, dass ich ehrfürchtig hinsah! Freilich will ich den nun predigen hören! Denn man sagt, er baue und stütze sich ganz allein auf das göttliche Wort, wie es in der Schrift stehe!«
»Schrift, Schrift! Was weißt du von der Schrift, und was weiß jener Tropf und Afterlehrer davon?« Diese letzten Worte stieß plötzlich einer der prophetischen Beisitzer mit kreischender Stimme hervor, ein länglicher dünner Mann, welcher der kalte Wirtz von Goßau hieß, weil er immer feuchte kalte Hände hatte. Er war mit einem engen grauen Rock wie mit einem Sacke bekleidet, völlig bartlos, und nur die falben Augbrauen stiegen wie ein paar Spitzbogen in die schmale Stirne hinauf.
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