Kontakt und Widerstand

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Goldsteins hierarchisches Modell

Der Beitrag des Neurologen Kurt Goldstein war eine letzte Erweiterung des Gestaltmodells im Sinne der Entwicklung zu einer Persönlichkeits- und Psychotherapietheorie (Goldsteins Assistent war für kurze Zeit der Psychiater Friederich [später Fritz] Perls, dessen eigenen Beitrag ich im zweiten Kapitel erörtern werde). Goldstein war wie Lewin und Perls im Ersten Weltkrieg an der deutschen Front, und viel von der nachfolgenden Forschung wurde an hirnverletzten Veteranen und anderen Kriegsgeschädigten durchgeführt. Viele dieser »Stirnlappen«-Fälle, wie Goldstein sie später beschrieb, hatten nicht das Problem der Fähigkeit oder Unfähigkeit, auf diesen oder jenen Reiz nach der Art des Assoziationsmodells zu reagieren, sondern in vielen Fällen bestand ihr Problem in der Unfähigkeit, nicht auf bestimmte Reize zu reagieren (wie z.B. eine Metapher, eine offensichtliche Lüge oder eine sarkastische Bemerkung), die eine normale Person uminterpretieren oder zurückweisen oder einfach ignorieren würde (s.a. Sachs 1986). Das heißt, die hirngeschädigten Fälle, jedenfalls einige von ihnen, waren reizgebunden – genau wie man es, behauptete Goldstein, für Versuchspersonen nach dem alten Assoziations- oder Reaktionsmodell angenommen hatte. Sie konnten ihre eigenen Reaktionen nicht verlässlich auf bedeutungsvolle, zweckvolle, interaktive Weise im Feld organisieren. Das führte Goldstein zu seiner bemerkenswerten Formulierung, dass Verhalten bei normalen Personen immer organisiert ist und immer den ganzen Organismus einbezieht. Diese vorherrschenden Verhaltensmerkmale tauchen, wie Goldstein sie sah, nicht sehr deutlich in Experimenten an Gewebeproben oder bei anästhesierten Labortieren auf oder bei solchen, an denen eine Lobotomie durchgeführt wurde, und auch nicht bei statischen Wahrnehmungsexperimenten an Gestalt- oder bei Stirnlappen-Patienten. Bei tatsächlichen Lebensprozessen (und einer charakteristischen Gestaltformulierung zufolge) ist es nichtsdestoweniger die Organisation des Verhaltens, die die Teile steuert, und nicht andersherum (1939; 1940).

Goldstein verwendete die gleiche Argumentation und die gleiche Forschung, um dann alle Trieb- oder Spannungsreduktionstheorien besonders zu kritisieren, die nur diese »Teile« des Verhaltens isoliert betrachteten, ohne den ganzen Organismus, die organisierte Sequenz auf immer höheren Ebenen, dem die »einzelnen Verhaltensweisen« untergeordnet sind, einzubeziehen. Allgemein gesagt heißt das, wenn ein gegebenes Verhalten ausgesetzt, neu organisiert oder anderweitig im Dienst der Organisation für ein größeres Ziel untergeordnet werden kann, dann ergibt es keinen Sinn, von einem »Trieb« oder »Instinkt« für dieses Verhalten zu sprechen – zumindest nicht im üblichen Sinn eines Verhaltensmusters, das einem besonderen inneren oder äußeren Schlüssel folgt sowie immer die gleiche Reihenfolge bei der Präsentation dieser Schlüssel aufweist (s.a. Hilgard & Bower, 1966, bezüglich einer verwandten Kritik der »Instinkttheorie« für das menschliche Verhalten). Spannungsreduktion selbst ist auch, so argumentierte Goldstein, überhaupt kein sinnvoller »Trieb« und auch kein Ziel des Organismus, außer in Zuständen der Deprivation, die selbst pathologisch sind. Der einzige »Trieb« oder Instinkt, von dem man sinnvoller Weise im menschlichen Verhalten sprechen kann, ist der Trieb, mit der Umgebung selbst zu interagieren, die Fähigkeiten des subjektiven Systems einzusetzen – und diese Interaktion in Mustern zu ordnen, wobei eine Verhaltenssequenz von einer anderen abhängt (man vergleiche hier Winnicotts Behauptung, der einzige Instinkt sei derjenige nach sozialem Kontakt; zitiert bei Guntrip 1971).

Diesen Trieb nannte Goldstein den Trieb zur »Selbstaktualisierung«, wobei alle anderen Pseudo-Triebe und Verhaltensweisen des Organismus diesem in einer interaktiven und hierarchischen Weise bei- oder untergeordnet werden (1939, 197 ff.). Maslow übernahm dieses Modell später direkt und ausdrücklich von Goldstein (Maslow 1954), zusammen mit Goldsteins ergänzender Kategorisierung der Motivation in »Defizit-Bedürfnisse« und »Wachstums-Bedürfnisse«. Sowohl die psychodynamischen als auch die assoziationistischen Modelle waren Goldstein zufolge entstanden, indem man lediglich von den »Defizit-Bedürfnissen« oder deprivierten, reflexhaften Zuständen des Organismus ausgehend generalisierte, ohne die übergreifende, organisierende Funktion des Organismus als Ganzes oder das »Selbst« in Rechnung zu stellen, das für Goldstein die bedeutungsvolle »Gestalt« oder der organisierte Grund des Verhaltens war (1939, 369 ff.). Beide Modelle vernachlässigen also vor allem den Aspekt der Organisation, der das Verhalten im Normalfall steuert, sofern es sich nicht um extreme Zustände der Deprivation handelt.

Gestalt-Persönlichkeitstheorie

Mit den Arbeiten von Lewin und Goldstein sind wir nun zu einer kohärenten, anspruchsvollen, allgemeinen »Feld-Theorie« der Persönlichkeit gelangt, die zumindest für kognitive, affektive, beziehungsmäßige – und psychotherapeutische – Bereiche klare Konsequenzen hat. Dies ist nicht etwa deshalb einer besonderen Hervorhebung wert, weil das spätere Modell der Gestalttherapie sich direkt auf diese Persönlichkeitstheorie bezog, sondern weil es das seltsamerweise nicht tat. Überdies gibt es einige spätere Autoren, die behaupten, es sei Fritz Perls gewesen, der das ursprüngliche Wahrnehmungsmodell der Gestalt von der Figur-Grund-Auflösung zum ersten Mal auf affektive Bereiche, die Persönlichkeitstheorie und sogar die Psychotherapie erweitert habe (vgl. z.B. Fantz 1975 und Barlow 1981); und auch Perls selbst vermittelt seinen Lesern zumindest diesen Eindruck (1969b; 1973). Dies trifft jedoch keinesfalls zu. Eine rasche Überprüfung der Titel der Arbeiten sollte genügen, um das zu veranschaulichen: so zum Beispiel Köhlers The Place of Value in a World of Facts, 1938; Koffkas Kapitel über »Ich, Emotion, Gedächtnis und Wille«, 1935; Lewins Dynamic Theory of Personality, 1935; Goldsteins Human Nature in the Light of Psychopathology, 1940; und sogar Wertheimers Some Problems in the Theory of Ethics, 1935; oder besonders Goldsteins The Organismic Approach to Psychotherapy, 1974.

Jedes System hat, wie Erikson bemerkte, seine Utopie; in gleicher Weise hat jede Persönlichkeitstheorie ihr Ideal und ihre Kriterien für Gesundheit oder Dysfunktion. Diese Kriterien dienen dazu, einen psychotherapeutischen Ansatz, der auf diesem Modell gründet, abzuleiten. Dieser Ansatz kann immer noch Raum für die Erfindung von Methoden lassen, die der Theorie angemessen sind; aber selbst hierbei ist die Wahl der Methodologie zumindest beträchtlich eingeschränkt durch die theoretischen Annahmen über Gesundheit und Dysfunktion. Die folgenden Kapitel werden zeigen, dass das gestalttherapeutische Goodman/Perls-Modell seine eigene theoretische Grundlage und Entwicklung in unnötiger Weise verkürzte, indem es einige Teile des späteren Gestaltmodells der Persönlichkeit verzerrte und andere ignorierte – mit vorhersehbaren Ergebnissen in Form einiger der charakteristischen Auswüchse, die mit dieser therapeutischen Schule verknüpft werden. Die Anwendungen der Modelle von Lewin und Goldstein werden zusammen mit den späteren Revisionen, die insbesondere im Bereich der Theorie über den Widerstand folgten, als Korrektiv für einige dieser Probleme angeboten.

Ein Gestaltmodell der Veränderung

Schließlich gibt es im Gestaltmodell, besonders in dessen Erweiterungen durch Lewin und Goldstein, eine implizite, wenn auch nicht richtig ausformulierte Theorie der Veränderung und des Auslösens von Veränderung, die gleichermaßen ein Potential in ihrer Anwendung auf Psychotherapie und auf andere veränderungsorientierte Interventionsabsichten birgt. Dies rührt von der Gestalt-Ansicht über das Handeln selbst und über die Beziehung des Handelns zur Kognition und zum Affekt, einem Problem, das die frühe Gestalt-Schule, insbesondere Wertheimer, sehr beschäftigte (siehe die Erörterung in Koffka, 1935, besonders die Kapitel VIII und IX). Das Problem hat, wie Wertheimer es anging, mit der Körper-Geist-Dichotomie zu tun, die einen philosophischen Ursprung hat, der zumindest bis zu Platon zurückreicht. Das heißt entweder »Geist« und »Körper« (oder die materielle Welt) sind irgendwie vom gleichen »Stoff« – oder sie sind es nicht. Wenn sie es nicht sind, wie kommt es dann, dass sie aufeinander »einwirken«, und zwar in beiden Richtungen, wobei der »Geist« scheinbar Entscheidungen fällt, die zu physischen Handlungen führen, und entsprechend die physische Welt einen Einfluss auf geistige Zustände, Haltungen, Gefühle, Entscheidungen usw. hat? Wenn sie andererseits vom gleichen »Stoff« sind, welches ist dann diese gemeinsame oder sich entsprechende Substanz oder Energie? Wo finden wir diese, und welches sind ihre Eigenschaften, vor allem ihre offensichtliche Fähigkeit, so verschiedene Erscheinungsformen wie »Körper« und »Geist« überhaupt anzunehmen? Wegen seiner Versuche, die Gestalt-Eigenschaften in der Natur zu quantifizieren, kam Wertheimer leider ebenso wie andere vor ihm mit diesem Problem nicht sehr weit. Das gilt auch für Köhlers Annahme von einem »Isomorphismus« zwischen »Geist« (und Gehirn) und »Natur«, was letztlich nicht mehr ist als eine erweiterte Fragestellung, da die einfache Behauptung einer strukturellen Parallele zwischen den beiden getrennten Bereichen, die schon für sich genommen fragwürdig ist, deren Interaktion auch nicht erklären könnte (vgl. Koffka 1935; Petermann 1932, Kap. III).

Trotzdem wirft das Gestaltmodell ein brauchbares neues Licht auf das Kognition/Aktion-Problem, ohne die jahrhundertealte Debatte zu lösen, und es beantwortete im Laufe der Zeit einige Fragen, die vom psychodynamischen Modell übrig blieben und die zu beantworten der psychoanalytischen Theorie manche Schwierigkeiten bereitete. Nehmen wir Lewins »Feld«, wobei ein sich bewegendes Subjekt die verschiedenen wahrgenommenen Hindernisse und Möglichkeiten auf seinem Weg zu irgendeinem subjektiven Ziel mit Hilfe einer Gestalt-»Landkarte« in Beziehung setzt und das die bestmögliche Annahme einer optimalen Auflösung der zwei Bereiche – der »inneren« Welt der Bedürfnisse (und Möglichkeiten) und der »äußeren« Welt der Möglichkeiten (und Anforderungen) darstellt. Dieser interaktiven Sichtweise zufolge ist jede Handlung des Subjekts zumindest teilweise eine Reaktion auf wahrgenommene Bedingungen im Feld, die im Licht der eigenen Einschätzung dieser Merkmale in Beziehung zu den eigenen Zielen gesehen wird. Ein Zugang, eine Vermeidung, eine Transaktion, ein Widerstand, ein Versuch der Beeinflussung oder eine Modifikation des Umfeldes – jede einzelne mögliche Handlung ist eine Anpassung des Subjekts in Beziehung zu seinen eigenen wahrgenommenen Bedürfnissen und Zielen und zu der »Landkarte«, die es konstruiert hat und ständig weiter konstruiert. Wenn man diese Landkarte irgendwie verändert, erhält man ganz eindeutig eine entsprechend andere Anpassung, einen anderen Handlungsverlauf seitens des Subjekts. Das heißt, vom Modell her gesehen ist der wirkungsvollste Punkt für Verhaltensbeeinflussung die Karte selbst. Verhalten – sei es durch Zwang oder etwas sanftere Manipulation – zu beeinflussen zu versuchen, würde bedeuten, dass man eine Menge mehr Widerstand auf seiten des Subjekts hervorbringt, das natürlicherweise nicht auf irgendwelche wahrgenommenen Landminen treten oder irgendwelche lohnenswerte Stationen auf dem Wege, die auch auf dieser Landkarte (richtigerweise oder nicht) auftreten, überspringen möchte. Und je bedeutsamer das entsprechende Verhalten ist, desto mehr Widerstand können wir vom Subjekt erwarten. Wir könnten also ganz entsprechend der Kritik Goldsteins an den frühen Arbeiten über Reflex und Wahrnehmung im Labor erwarten, dass ein »rein verhaltensmäßiger« Ansatz, Veränderung auszulösen, positive und nachhaltige Ergebnisse zeigt – da in gewisser Weise im Labor nichts auf dem Spiel steht. Aber unter komplexeren und herausfordernderen, vielleicht sogar bedrohlichen Bedingungen des »realen Lebens« würden diese Konditionierungseffekte wahrscheinlich missachtet werden, wenn man nicht die Risiken, Einsätze und Belohnungen auf der topologischen Karte des Subjekts selbst berücksichtigte, das heißt sein eigenes Verständnis des Feldes, wie es wahrgenommen und eingeschätzt wird und in welchem das konditionierte Verhalten angenommenerweise gezeigt werden sollte. Wenn Goldstein also richtig liegt, dann müsste die Organisation des Verhaltens der Person und ihrer Welt wenigstens in vielen Fällen die Trainingseffekte eines rein behavioristischen Ansatzes überlagern. (Natürlich gibt es so etwas wie einen »rein verhaltenstheoretischen Ansatz« nicht, wie die Gestalttheorie selbst nachweisen kann. Das heißt, es gibt keine Möglichkeit sicherzugehen, dass die Person im Prozess der »direkten« Beeinflussung durch zufällige Verstärkung nicht auch gleichzeitig ihre eigene »Landkarte« im Licht dieser neuen Erfahrungen neu organisiert. Im Gegenteil, dieser Ansicht nach muss genau dies geschehen.)

 

Wenn wir die gleiche Angelegenheit in einer nicht an Lewin orientierten Sprache (aber immer noch in Gestaltbegriffen) formulieren, könnten wir sagen: Die Person tendiert per Definition immer zu einem optimalen dynamischen Gleichgewicht im Umfeld (ganz gleich, ob dies Spannungsreduktion oder Spannungsanstieg bedeutet). Das ist nur eine andere Art und Weise zu sagen, dass sie dazu neigt, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Dieses Gleichgewicht, das das »bestmögliche unter vorherrschenden Bedingungen« ist, hängt ab von der dynamischen Beziehung (oder der Wahrnehmung der Person von dieser dynamischen Beziehung) zwischen den eigenen Bedürfnissen und ihrer Auflösung des Feldes durch die Wahrnehmung – das heißt ihrer »Gestalt«. Diese »Gestalt« ist wiederum eine »organisierte Konfiguration der Bewusstheit« (Koffka 1935). Handlung im Feld ist also, wie oben dargestellt, eine Reaktion oder eine Anpassungsleistung zur Korrektur eines Ungleichgewichts zwischen den wahrgenommenen Bedürfnissen und den wahrgenommenen Bedingungen im Feld/der Gestalt/der strukturierten Bewusstheit. Versucht man also, diese Bewusstheit zu verändern, dann verändert man die daraus folgende Handlung, da die Handlung letztlich eine Reaktion auf diese Bewusstheit ist. Der effektivste »Druckpunkt« für die Einleitung von Veränderung in der Psychotherapie oder sonstwo scheint also nicht die Handlung, nicht das betreffende Verhalten selbst, sondern die Bewusstheit zu sein. (Selbst »strukturelle« oder direktive Therapien erkennen diesen entscheidenden Punkt an, da ihre Intention darin besteht, dass das angeleitete neue Verhalten den wahrgenommenen Wert oder die erwarteten Konsequenzen solchen Verhaltens ändern sollte – und das heißt, man ändert den Grund oder die »Landkarte der Bewusstheit«. Offensichtlich wäre eine Verhaltensänderung, die diesen Effekt auf die Organisation oder die »Verkartung« nicht hat, eine einmalige Angelegenheit.

Bewusstheit ist geradezu per Definition niemals vollständig; in gewisser Hinsicht ist es das, worum sich das Gestaltmodell dreht. Zunächst einmal hat eine Selektion stattgefunden, wobei mögliche wichtige Elemente oder Merkmale des Feldes ausgelassen oder nicht in den Vordergrund gebracht wurden. Zweitens hat der Prozess oder Akt der Organisation durch die Per son selbst die relativen »Werte« verschiedener Merkmale verändert – auch derjenigen, die bewusst wahrgenommen wurden. Diese »Elemente« zu verändern, indem man die Aufmerksamkeit auf vernachlässigte Bereiche lenkt, neue Informationen zum Tragen bringt, die »Valenz« verschiedener Elemente des Bildes neu einschätzt oder die Beziehungen zueinander verändert, bedeutet, dass man die Bewusstheit, die konfigurale Auflösung selbst verändert und dabei wiederum die Möglichkeit eines veränderten Verhaltens in Anpassung zu dieser veränderten subjektiven Realität eröffnet.

Einiges des oben Gesagten mag selbstverständlich erscheinen, aber trotzdem ist es weit entfernt von den verschiedenen gewaltsamen, ermahnenden oder vorschreibenden Ansätzen, die wahrscheinlich die meisten Anstrengungen für die Einleitung von Veränderungen während unserer gesamten Geschichte kennzeichnen – und damit zweifellos auch weit entfernt von großen Bereichen der psychoanalytischen Praxis, wenn nicht sogar der Theorie während ihrer gesamten historischen Entwicklung (vgl. Bergler 1956, der repräsentative Beispiele für das Konzept der »Interpretation als stumpfes Instrument« bringt, das zumindest in einigen psychoanalytischen Zentren zur Zeit von Goodman und Perls weit verbreitet war). Bei der Erörterung einiger Auslassungen und Verzerrungen im von Goodman und Perls 1951 ausformulierten Modell in den folgenden Kapiteln muss man sich des psychotherapeutischen Klimas, auf das sie dabei reagierten, bewusst sein.

Gleichzeitig trägt dieses »vernünftige« Modell einiges dazu bei, die Psychoanalyse für sich selbst und auch für uns zu erklären. Das heißt, Freuds Methodologie der Psychotherapie gründet sehr stark auf Interpretationen, also auf der Reorganisation der festen Strukturen des Denkens und Fühlens in der Person und der Kontaktaufnahme mit andere Menschen (und keineswegs auf der Assoziationspsychologie, wie Perls später behauptete. Perls missverstand offensichtlich den Begriff »freie Assoziation«, der natürlich im Freudschen Modell überhaupt nicht als frei verstanden wird, sondern als dynamisch, nicht nur assoziativ verbunden mit den fraglichen Problemstrukturen, den »zu rigiden« Gestalten des geistigen Lebens des Patienten). Aber die Freudianer hatten selbst einige Schwierigkeiten, genau zu erklären, wie sich Interpretationen auf das Leben eines Patienten auswirkten. Die Gestaltantwort lautet: Jede Wahrnehmung, jede »Sicht der Dinge«, ist eine Interpretation des Feldes mit verschiedenen, begleitenden Anpassungen (Handlungen), die der subjektiven Logik dieser Interpretation folgen. Die Interpretation des Therapeuten (oder, genauer gesagt, die Neuinterpretation) organisiert das Feld neu – oder »zerstört« (in Gestaltbegriffen) zumindest das bestehende Bild, sofern die Interpretation vom Patienten mitgetragen wird, und macht eine Neuentscheidung und neue daraus folgende Handlungen sowohl möglich als auch notwendig. So können beispielsweise Situationen, die vorher vom Patienten als bedrohlich angesehen wurden, jetzt als möglicherweise neutral oder sogar anziehend eingeschätzt werden, was in den Begriffen Lewins einer Neuorganisation der Valenzen mit offensichtlichen Konsequenzen für die Handlung entspricht. Und dies gilt auch für andere, ähnliche Beispiele, die alle sowohl in der Psychotherapie als auch im täglichen Leben ganz übliche Phänomene darstellen.

Aber das Modell der Veränderung, das wir hier aus dem Wahrnehmungsmodell der Gestalt beziehen, kann noch weiter reichen. Da es zur eigentlichen Natur des wahrnehmenden Organismus gehört zu interpretieren – das heißt Teile zusammenzufügen, Teile im Feld in ein organisiertes Ganzes aufzulösen –, ist die Versorgung mit fertigen Interpretationen durch den Therapeuten (oder andere Lehrer) vielleicht gar nicht nötig bzw. sie könnte sogar kontraproduktiv sein, je nachdem welche Art von Wandel angestrebt wird. Bloße Konzentration der Aufmerksamkeit der Person, besonders auf einige Teile des Feldes, die typischerweise außerhalb der Bewusstheit blieben, erzeugt per Definition eine Neuorganisation des Feldes und zumindest das Potential für entsprechende Verhaltensänderungen der einen oder anderen Art. Der letzte Satz ist bedeutsam, denn es scheint wahrscheinlicher, dass Verhaltensänderung, die auf diese Weise zustande kommt, stärker vom Klienten gesteuert wird als bei einigen anderen, präskriptiveren Methoden; aus der Sichtweise des Therapeuten ist das Veränderungsmodell der Gestalt weniger normativ. Im Gegensatz dazu kann die Steuerung der Person bei einem in direkterer Weise überzeugenden oder handlungsorientierten Ansatz sich erwartungsgemäß mehr auf den Widerstand gegenüber den besonderen gewünschten Veränderungen richten, besonders gegenüber dem Therapeuten oder gegenüber dem gesamten Prozess. Natürlich kann der Therapeut bei einem »Bewusstheitskonzept« die Richtung oder die Thematik des Wandels immer noch auf verschiedene Weise beeinflussen (vor allem, indem er die besonderen unbewussten Gebiete bestimmt oder mitbestimmt, auf die die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll). Dennoch können wir erwarten, dass die daraus folgenden Verhaltensreaktionen aber nicht notwendig in größerem Maß als bei den anderen Modellen unvorhersehbar sind.

Dieser Ansatz für das Auslösen von Veränderungen wurde – immer noch ohne Anerkennung seiner theoretischen Wurzeln besonders im Modell von Lewin – etwas unangemessen bekannt als die »paradoxe Theorie der Veränderung« (Beisser 1970). Unlogisch auch, weil es hier wirklich kein Paradox gibt wie zum Beispiel bei der »paradoxen Intervention«, die in der Familientherapie genutzt wird, wobei man darauf hofft, dass die Person das genaue Gegenteil von dem tun wird, was der Therapeut ausdrücklich anordnet. Bei unserem Modell hier ist bei in der Konzentration auf die Bewusstheit selbst kein Paradox als Methode der Handlungsbeeinflussung beteiligt, denn man geht davon aus, dass die Handlung aus der Bewusstheit entspringt und daher am unmittelbarsten durch die Bewusstheit beeinflusst werden kann. Trotzdem sind die Konsequenzen für die psychotherapeutische Praxis offensichtlich und weitreichend. Die Rolle der Bewusstheit per se wird nicht nur erhöht und die der Interpretation entsprechend verringert, sondern der spezielle Prozess, auf den sich die Aufmerksamkeit und Analyse konzentriert, unterscheidet sich von denjenigen, die man mit traditionellen psychotherapeutischen Modellen assoziiert. Wenn es also die Natur des Organismus ist, seine Bedürfnisse dadurch zu befriedigen und zu koordinieren, dass er bedeutungsvolle Konfigurationen, Gestalten im Feld, auflöst, dann erzeugt jede Dysfunktion in diesem Prozess eindeutig andere Dysfunktionen in anderen Lebensprozessen. Der Psychotherapeut richtet seine Aufmerksamkeit also auf die Struktur der Erfahrung (um Goodmans Begriff aus dem Jahr 1951 zu verwenden) als Schlüssel zur Gesundheit und zur Dysfunktion – und damit zur Heilung.

Wieder wird es im allgemeinen Perls zugeschrieben (und er schreibt es sich selbst ebenfalls zu; 1969b), diese Anwendung des Gestaltmodells, diesen Ansatz für den psychotherapeutischen Prozess entwickelt zu haben. Die Quellen stimmen jedoch darin überein (From 1978; Davidove 1985; Glasgow 1971), dass diese Anwendung zumindest zum großen Teil der Beitrag von Paul Goodman war, dessen Arbeit ich im einzelnen im dritten Kapitel untersuchen werde. Perls’ Interessen und seine Bewusstheit waren tatsächlich auf etwas ganz anderes gerichtet. Diesen Interessen, die besonders in dem einzigen längeren theoretischen Text ausgedrückt sind, den Perls zu seinen Lebzeiten geschrieben hat, wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit zu.

 
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