DIE SCHATTENBITTE

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DIE SCHATTENBITTE
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Gloria Fröhlich

DIE SCHATTENBITTE

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Kapitel

2.Kapitel

3.Kapitel

4.Kapitel

5.Kapitel

6.Kapitel

7.Kapitel

Impressum neobooks

1.Kapitel

GLORIA FRÖHLICH

DIE SCHATTENBITTE

Ihr seid mir die Liebsten, flüsterte Anna-Hedwig und strich mit der Hand zärtlich über die pastellfarbigen Blüten, die vor Kraft strotzten. Die tiefgrünen, buschigen Pflanzen hatten sich nach der Gewalt des gestrigen Unwetters, wieder zu ganzer Größe aufgerichtet. Vorsichtig sammelte sie die Löwenmäulchen ein, die dem Sturm und Regen doch zum Opfer gefallen waren und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, auf der nassen Erde lagen. „Es tut mir so weh, dass ich euch nicht beschützen konnte. Hätte ich für euch ein Glashaus, wäret ihr jetzt noch bei den anderen“, flüsterte sie. Anna-Hedwig verbrachte gern viel Zeit in ihrem verwilderten Garten, kümmerte sich um die unzähligen Blumen und sprach in einschmeichelndem Ton mit ihnen, wie eine liebende Mutter mit ihren Kindern. Sie erfreuten ihr Herz, wenn sie mit einer bunten Farbenpracht prahlten, und sie nannte sie ein Wunder vollkommener Schönheit. Und Anna-Hedwig sorgte sich, wenn sie vor sich hinkümmerten und sie herausfinden musste, woran es ihnen wohl mangelte. Lasst Blumen sprechen. Die rote Rose ist das Symbol für die Liebe. Die gelbe Rose bekommt die Schwiegermutter, die weiße Lilie symbolisiert Reinheit, und das Veilchen verkörpert Bescheidenheit. So sagen es Menschen durch die Blumen. Sprechen Blumen für sich selbst, sieht es anders aus. Mit hängenden Köpfen tun sie unmissverständlich kund, wenn sie durstig sind und wenn ihnen Staunässe zu schaffen macht. Und sie zeigen ihre Wunden, wenn sie von saugenden Blattläusen befallen sind und von anderen Fressfeinden bedroht wurden. Blumen sprechen auch, indem sie sich weigern, zu blühen, und sie bekommen Krankheiten. Zum Beispiel dunkle Rostflecken und Mehltau, der sich wie ein weißer Schleier auf ihre Blätter legt. Wehmütig hielt Anna-Hedwig die aufgelesenen Löwenmäulchen auf ihrer Handfläche, wie auf einer Bahre, um sie zu Grabe zu tragen. Sie brachte es jedoch nicht übers Herz, welke Blüten auf den Kompost zu werfen, sondern hatte eine alte Kristallschale bereitgestellt, in der bereits verblühte Stiefmütterchen und Rosen eng beieinander lagen, in der ihre Farben verschwammen, und der Verfall wie ein malender Künstler mit weich fließenden Konturen die Endlichkeit skizzierte. Anna-Hedwig stand bewegungslos da und genoss die Stille dieses Sonntags in der neuen Umgebung, die aus allen Richtungen fiel. Wenig später lauschte sie auf den monotonen Ruf der Kirchenglocken in der Ferne, der von dem leichten Wind immer wieder für einen kurzen Augenblick verschluckt wurde. Sie war dem fordernden Ruf dieser Kirche erst ein Mal gefolgt und hatte dann versucht, wenigstens ein wenig zu glauben, was sie glaubte, schuldig zu sein, wenn sie sie schon für ihr Bedürfnis betrat. In allen Kirchen brach sie immer ein wenig weg, um dann leise und auf Zehenspitzen wieder zu wachsen, wenn sie verhalten in einer der dunklen oder hellgrau gestrichenen Bänke einen Platz fand und dann, die Hände im Schoß, in die meistens weiß gekalkte Höhe sah und sich so winzig und erwartungsvoll unwohl fühlte. Dann nahm sie sich vor, diesen Ort, der ihr nicht gut tat, in Zukunft zu meiden. Aber seit sie hierher gezogen war, drängte sie es eines Tages doch wieder, es war an einem Montag, die erwartete Ehrfurcht des Gewölbes und die klamme Kühle der Kirche aufzusuchen, um sich andächtig und dankbar zu geben und um vielleicht doch das zu finden, was sie glaubte, zu suchen. Es geschah selten, dass sie mit dem blutigen Leid des Gekreuzigten allein war, aber es schien tatsächlich so zu sein, denn sie hatte die zusammengesunkene Gestalt in der Bank nicht bemerkt, an der sie vorbeigegangen war, um in der ersten Reihe zu sitzen, als wäre die Nähe zu Jesus am Kreuz wichtig, als eine krächzende Stimme sie mit Hilfe der hervorragenden Akustik bis ins Mark erschreckte. „Du widerliche Schlampe, du dreckige Hure, du hässliches Miststück“. Anna-Hedwig hatte vor Entsetzen, dass die Beschimpfungen eindeutig ihr galten, kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen können. Sie hatte den Kopf in die Richtung gedreht, aus der die Schimpftirade gekommen war und dann das knallrote Kleid und den kleinen schwarzen Sonnenhut entdeckt, der tief in ein blasses Gesicht gezogen war, das sich ihr jedoch nicht zuwandte. Sie war langsam und verunsichert weiter gegangen, war unfähig gewesen, etwas zu erwidern, hatte tief ein und aus geatmet, war am Taufbecken vorbeigegangen und vor der dicken, roten Kordel, der Absperrung zum Altar, stehen geblieben. „Du Drecksau, du ekelhaftes Monster“, hatte es abermals hinter ihr gekrächzt. Ein sonderbares Gefühl hatte Anna-Hedwig beschlichen. Es war eine Mischung aus staunender Empörung und einer unglaublichen Unfassbarkeit darüber, was ihr gerade widerfuhr. Ausgerechnet hier, an diesem Ort, an dem sie sich in einem fragilen Zustand befand und sich sicher aufgehoben fühlen wollte, tat ihr jemand verbale und somit auch psychische Gewalt an. Das war mehr als skurril. Anna-Hedwigs Augen hatten beinahe blind das großformatige Abendmahlsgemälde überflogen, die Gesichter der Jünger und das von Jesus gestreift, und sie hatte währenddessen absolut nichts denken können. Sie fühlte sich miserabel und empfand zum ersten Mal, wie verletzlich und hilflos sie gerade auch an diesem Ort war, weil er ihr tatsächlich keinerlei Schutz bot. Sie hatte sich umgedreht, den Blick zu dem knallroten Kleid unter dem schwarzen Sonnenhut vermieden und war eilig durch das Kirchenschiff, dem dämmrigen Ausgang entgegen gestrebt. Und wieder wurde sie von einem ordinären Wortschwall verfolgt. Endlich hatte sie mit jetzt heftig aufsteigender Wut, die schwere Doppeltür erreicht. Dabei nahm sie aus den Augenwinkeln einen großen, reglosen Schatten wahr. Schon hatte sie den hoch angebrachten, klobigen Türdrücker kalt in ihrer Hand gespürt, ihn kräftig nach unten gedrückt und die Tür langsam aufgeschoben. Dann war sie hindurchgeschlüpft, mit einem Schritt auf der ersten, ausgetretenen Steinstufe und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Erleichtert hatte sie aufgeatmet. Das gleißende Sonnenlicht blendete. Niemand war zu sehen. Ein geradezu himmlischer Friede waberte träge in den Tag, als wäre nichts geschehen. „Gotteshaus, verdammt noch mal, das ist ein Gotteshaus“, hatte sie geflüstert und noch hämisch hinzugefügt: „Kaum zu glauben, das ist wirklich verrückt“. Anna-Hedwig hatte kaum Zeit, sich zu besinnen, als die Kirchentür hinter ihr geöffnet wurde und sie auf weitere Beschimpfungen gefasst war. Ihr Herz hatte wie wild gepoltert, und sie überlegte, was sie tun würde, sollte die Fremde es noch einmal wagen! „Tourette, sie hat das Tourette-Syndrom, machen sie sich nichts draus“. Die sonore Stimme neben ihr klang, als spräche sie zu einem verstörten Kind. Anna-Hedwig sah den dunkel gekleideten Mann überrascht an. „Eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. Sie leidet unter dem Zwang, obszöne und aggressive Ausdrücke herausschreien zu müssen. Andere kneifen ständig die Augen zusammen, rümpfen die Nase, schneiden Grimassen oder machen merkwürdige Geräusche. Das haben sie doch bestimmt schon gesehen und davon gehört. Es gibt noch andere Tics, wie man diese Auffälligkeiten auch nennt. Heilbar ist das nicht“. Der Gesichtsausdruck der jungen Frau schien den Mann zu locken. Das ist der große Schatten aus der Kirche, ging es Anna-Hedwig durch den Kopf. Sie schaute dem Fremden ins Gesicht und erwiderte: „Nein, das kenne ich nicht. Und was macht sie so sicher, dass die Person nicht einfach nur ihren Frust raus pöbelt? Da kann ja jeder seine Mitmenschen beschimpfen und das mit dieser Krankheit rechtfertigen“. Sie schüttelte den Kopf und fügte noch hinzu: „Und wissen sie, in einer Kirche ist das besonders schlimm, das ist einfach unerträglich. Bei wem könnte ich mich beschweren?“ Der Mann war wesentlich älter als Anna-Hedwig. Seine schlanken Hände zwirbelten das Ende seines Vollbartes. Graumelierte Locken lagen auf seinen Schultern. Er schaute Anna-Hedwig aus sanften, braunen Augen an und sagte: „Das weiß ich nicht. Eventuell fühlt sich der Pastor nur dafür verantwortlich, was in seiner Kirche während seiner Anwesenheit vor sich geht. Sie empfinden absolut richtig. Aber ich kenne die Frau, sie leidet wirklich unter dem Tourette-Syndrom. Meistens besucht sie die Kirche am Montag, wie auch heute. Wer sie kennt, bleibt in den hinteren Bänken“. Nun lächelte auch Anna-Hedwig und antwortete: „Meinen sie, es tut ihr Leid, mich beschimpft zu haben?“ Sie wartete seine Antwort nicht ab. „Ich stelle mir gerade vor, dass dann wirklich Tür und Tor für diese Unverfrorenheit geöffnet sind. Mir ist nämlich häufig mal danach zumute, meinen ganzen Frust und Ärger brüllend in die Freiheit zu entlassen. Und wenn ich mich dort aufhalten würde, wo mich niemand kennt, könnte ich mal so richtig vom Leder ziehen, und das dann mit der Entschuldigung, ich hätte das Tourette-Syndrom. Ich bekäme Toleranz und tiefes Mitgefühl. Die Beschimpften könnten Empathie zeigen und sich dabei gut fühlen, und ich wäre meine Wut auf legale Art und Weise los. Und wenn schon, denn schon. Wie ich mich kenne, würde ich dann garantiert nicht in einer leeren Kirche sitzen, wo mich niemand hört, sondern ganz bestimmt in einem rappelvollen Linienbus oder auf einer Rolltreppe in einem gut besuchten Kaufhaus beinahe bewegungslos vorankommen. Niemand könnte sich so einfach meinen Beschimpfungen entziehen. Jeder müsste sie aushalten und für einige Minuten zu sich selbst finden und sich wieder einmal so richtig spüren. Und ich hätte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, denn ich würde niemanden persönlich angreifen. Jeder könnte sich angesprochen fühlen oder auch nicht, verstehen sie? Aber wenn sie tatsächlich krank ist, beruhige ich mich und verzeihe selbstverständlich, dass es die Krankheit war, die sich so schlecht benommen hat und nicht diejenige, die darunter leidet“. Mit sichtbarem Vergnügen schaute der Bärtige auf die Frau, die ihm gegenüberstand und sagte: „Das ist eben der Unterschied zwischen einer Krankheit und reiner Boshaftigkeit. Und sie wären bösartig. Ich bin übrigens Aron“, sagte Aron. Dabei beugte er sich geringfügig vor und versteckte sogleich die Hände hinter dem Rücken. Er will mir nicht die Hand geben, dachte Anna-Hedwig. Sie zögerte einen Moment und verriet dann lächelnd, dass sie von vorn und hinten gleich heißt. Aron nickte verhalten und sagte: „Das ist doch mal was. Und möchten sie mir verraten, wie sie heißen?“ Anna-Hedwig nickte und schaute an ihm vorbei, als sie mit ernstem Gesicht erklärte: „In meinem Ausweis steht Anna-Hedwig, aber mein Rufname ist Anna“. Aron musterte sie neugierig. „Aber vorn und hinten gleich, also auch mit Nachnamen, wie ist das zu verstehen?“ „Nein, nicht beide Namen. Aber Anna spricht und liest sich von vorn und von hinten gleich, das ist doch richtig, nicht wahr?“ Und während sie Aron nun sehr aufmerksam ansah sagte sie: „Aron ist nur von vorn gelesen ein Aron, von hinten gelesen, eine Nora. Würdest Du Otto heißen, wäre es bei dir wie bei mir“. Aron schlug belustigt die Hände vors Gesicht, weil er begriffen hatte. Seine Augen blitzten auf, und er wurde sehr heiter. „Sie duzen mich?“ Anna-Hedwig nickte und freute sich im Stillen, weil sie zu erkennen glaubte, dass Arons Interesse an ihr zunahm. Er schaute sie eine Weile nachdenklich an und wagte zögerlich zu fragen: „Magst du Schattenmorellen?“ Für Anna-Hedwig kam die Frage sehr überraschend, und sie reagierte zunächst mit sekundenlanger Sprachlosigkeit. Dann wiederholte sie: „Schattenmorellen? Das sind doch Sauerkirschen, wenn ich mich nicht irre, und wie kommst du jetzt darauf?“ Aron trat von einem Bein aufs andere und erwiderte: „Deine Antwort ist richtig, es sind Sauerkirschen, und die sind in etwa drei Wochen reif. Ich will, dass du nach dem Schreck in der Kirche in drei Wochen mit der roten Süße deine Hände, und wenn du außerdem noch Lust hast, auch deinen Magen füllst. Was hältst du davon?“ In Anna-Hedwigs Kopf wirbelten krause Gedanken, und sie zwitscherte: „Die Hände, den Magen und vielleicht noch ein Kirschenpaar über jedes Ohr?“ Aron kniff die Lippen zusammen und zwirbelte nervös das Ende seines Vollbartes. Dann nickte er zustimmend. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg. Und dann schaute er sie für wenige Augenblicke so hypnotisch an, als würde er sie zwingen wollen, zuzustimmen. Das verwirrte Anna-Hedwig. Die Frau in der Kirche hatte eine unheilbare Nervenkrankheit, und dieser Mann hatte gerade eine sehr merkwürdige Frage gestellt. Gehörten die vielleicht zusammen und lauerten arglosen Kirchgängern auf? Aber was könnten sie von ihr wollen? Anna-Hedwig wurde sehr misstrauisch. Sie wusste, mit solchen Menschen war manchmal „nicht gut Kirschen essen“. Wie lustig das gerade passte, dachte sie und hatte das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen, um nicht in eine Falle zu geraten. Sie lächelte Aron an, tat belustigt und sagte: „Dazu müsste ich erst einmal eine Kirsche probieren, denn du sprichst von Süße und gleichzeitig von sauer, da gibt es vielleicht ein Problem. Außerdem kann ich meine Hände mit einem Trick zu einer ziemlich großen Schüssel formen. Und manchmal bin ich unersättlich. Bist du sicher, dass du so viele Kirschen hast? Außerdem kenne ich dich doch überhaupt nicht“. Aron schien amüsiert zu sein und beklopfte mit den Händen die aufgesetzten Taschen seiner schwarzen Jacke, um zu demonstrieren, dass er keine Kirschen bei sich hatte und sagte: „Dann erkläre ich es dir. Es gibt eine Menge Kirschbäume, eine richtige Plantage unter grünen Netzen, die zentnerweise Früchte tragen. Es werden dringend Erntehelfer, und das können auch Frauen sein, gesucht. Vielleicht brauchst du einen Job. Ich denke du hast keinen, weil du Zeit hast, wochentags in die Kirche zu gehen, während andere Menschen arbeiten. Und ich habe dich beobachtet. Du bist fest entschlossen bis ganz nach vorne an den Altar gegangen, als hattest du etwas Wichtiges vor. Vielleicht hast du darum gebetet, etwas zu bekommen, das ich dir geben kann. Wir beide sind sozusagen zur rechten Zeit am rechten Ort. Also, was meinst du?“ Anna-Hedwig war ein wenig verwirrt und antwortete belustigt: „Du glaubst tatsächlich, ich hätte um eine handvoll Schattenmorellen gebetet, zu der mir ein Job verhelfen könnte, den du zu vergeben oder zu vermitteln hast?“ Aron nickte freundlich und Anna-Hedwig war erleichtert, dass er anscheinend keine schlechten Absichten hatte, als die Kirchentür erneut knarrte und gleich darauf der schwarze Sonnenhut über dem roten Kleid erschien. Sie unterbrachen ihr Gespräch und warteten auf das, was jetzt wahrscheinlich kommen würde. Aber die Frau mit dem Tourette-Syndrom, die Anna-Hedwig auf Ende Dreißig schätzte, schien sie nicht zu bemerken und in Eile zu sein, murmelte Unverständliches und lief hektisch an ihnen vorbei und dann über das Kopfsteinpflaster, das weiter hinten von grauen Gehwegplatten abgelöst wurde. Doch während sie sich mehr und mehr entfernte, gewann das Tourette-Syndrom erneut die Oberhand, und sie brüllte etwas in den Tag, das nicht mehr zu verstehen und schließlich auch nicht mehr zu hören war. Anna-Hedwig und Aron schauten sich an und lächelten ein großzügiges Verzeihen. „Wo waren wir stehen geblieben“, fragte Aron. Anna-Hedwig schaute auf ihre Füße, dann in sein Gesicht und sagte: „Du möchtest, dass ich bei der Kirschenernte helfe. Und darum nehme jetzt mal an, dass du heute nicht wegen deines Seelenheils hier bist, sondern um weltliche Dinge gebetet hast, wie zum Beispiel um eine arbeitswillige Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht, als Schattenmorellen zu pflücken. Habe ich Recht? Ist das dein Job?“ Aron wiegte sich auf seinen Beinen, schaute erst zur einen, dann zur anderen Seite und sagte sehr zögerlich: „Das ist vielleicht meine Aufgabe. Und wirst du kommen?“ Anna-Hedwig kniff die Lippen zusammen, überlegte eine Weile, dann nickte sie. Über Arons Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Dann wirkte er unruhig, als er sagte: „Mein Fahrrad steht um die Ecke. Der Obsthof liegt einige Kilometer weit weg in Richtung Moor. Am Straßenrand steht ein großes Schild mit dem Hinweis auf einen Hofladen. Wenige Meter weiter siehst du auf dem Dach des großen Bauernhauses ein Storchennest. Du fährst durch das große Tor mit der Reetdachmütze. Es ist der größte Hof hier in der Gegend. Du wirst ihn finden. Gewiss wirst du ihn finden und noch etwas. Komme heute auf den Tag genau in drei Wochen, pünktlich um acht Uhr. Das ist sehr wichtig. Du wirst ihn finden, ganz sicher“, flüsterte er noch einmal kaum hörbar. Anna-Hedwig fragte sich, wieso er voraussetzte, dass sie sich hier nicht auskannte? Sie hatte ihm nicht erzählt, dass sie erst kurze Zeit hier wohnte. Ihr Radius war zwar noch begrenzt, aber sie würde die Umgebung noch erkunden und stimmte zu, indem sie sagte: „Ich finde bestimmt dort hin“. Aron nickte versonnen. Anna-Hedwig hatte das Gefühl, dass er abwesend war. Er wirkte plötzlich sehr ernst und schaute durch sie hindurch, kratzte sich durch die Haare am Kopf und sagte sehr leise: „Gut, ich habe noch etwas zu erledigen da drinnen“. Er wies mit dem Kopf zur Kirchentür. „Wir sehen uns dann in genau drei Wochen?“ Anna-Hedwig nickte. Aron drehte sich um und verschwand hinter der Kirchentür, die diesmal zu ihrer Verwunderung nicht das geringste Geräusch machte. Er hat mehr Kraft als ich, dachte sie, stand ein wenig verloren da und überlegte, ob sie auf ihn warten sollte. Den Abschied fand sie etwas abrupt und ziemlich unbefriedigend. Sie hatten sich nicht einmal die Hand gereicht. Eine sehr seltsame Begegnung, dachte sie und ging langsam einmal um die Kirche herum. Sie hatte das Gefühl, sein Fahrrad sehen zu wollen, aber es war keins da. Anna-Hedwig machte sich auf den langen Heimweg. Dabei ging ihr der Mann, der Anfang Vierzig sein mochte, nicht aus dem Kopf. Ihr war aufgefallen, wie blass er war, und dass er trotz seiner Größe und Konstitution ziemlich zerbrechlich wirkte. Vergeblich schaute sie sich noch einmal um, ob er aus der Kirche käme und sie sich ganz gewiss noch einmal zuwinken würden, als wären sie Vertraute. Sie war ein wenig enttäuscht, dass sie ihn nicht noch einmal gesehen hatte und dann allein auf der Landstraße. Die alten Lindenbäume am Straßenrand warfen kühle Schatten und Anna, ich lasse Hedwig ab jetzt der Einfachheit halber weg, schaute über die Weiden bis zum Horizont. Durch die Bekanntschaft mit Aron noch durchsonnt, lauschte sie auf die Feldlerche, die im Azur des Himmels jubilierte. Was für ein großartiger Tag. Anna konnte es noch gar nicht glauben, aber sie hatte tatsächlich wieder einen Job. Wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, aber immerhin. Endlich wieder Geld zu verdienen, würde ihr gut tun. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie Aron nicht nach dem Lohn gefragt hatte.

 

2.Kapitel

Sie konnte es kaum erwarten, Henry damit zu überraschen, dass sie demnächst endlich wieder arbeiten gehen würde. Henry war ihr Freund. Sie kannten sich schon lange, aber erst vor einigen Monaten hatten sie nach mehreren gescheiterten Versuchen als Paar zueinander gefunden. Es war jedoch mehr Henrys als Annas Sehnsucht nach gerade dieser Zweisamkeit. Aber Henry hatte so fest daran geglaubt, dass sie zusammen gehörten, dass Anna seine Beharrlichkeit mit grenzenloser Liebe zu erklären, nur allzu bereit war und schließlich zugestimmt hatte. Henry liebte Anna auf seine Weise und mit viel Vernunft. Er war acht Jahre älter als sie und genoss ihre Unerfahrenheit und ihre Hilflosigkeit in so vielen Dingen, und griff dann umgehend verantwortungsvoll ein. Außerdem gefiel es ihm, dass sie ihn auch finanziell brauchte, da sie nur über wenig Geld verfügte. Und er sparte nicht mit großzügiger Fürsorge nach seiner Vorstellung. Anna war so dankbar, wie es ihr nur möglich war, weil sie glaubte, das sei anständig. Da sie ein paar Kilometer voneinander trennten, suchte Henry nach einer Lösung, um das zu ändern. Durch eine glückliche Fügung fand er ein Haus, das nicht sehr weit weg, mit dem gesamten Inventar zum Verkauf stand. Er verfügte über genügend finanzielle Mittel und sah in der Immobilie auch eine Geldanlage. Ein weiterer, triftiger Grund, das Haus zu kaufen, war für ihn auch die versteckte Absicht, Anna dadurch fester an sich zu binden, wenn er sie darin kostenlos wohnen ließ. Wenn Anna sich in Henrys Anwesenheit vertrauensvoll gab, weil sie sich geborgen fühlte, zögerte er nicht und entzog ihr die Sicherheit, als lässt eine Mutter die Hand ihres Kindes los, damit es alleine läuft. Er entfernte sich mutwillig, wenn sie signalisierte, ihn zu brauchen. Vielleicht wollte er sie spüren lassen, dass sie ohne ihn hilflos war. Da es sich in solchen Momenten auch so verhielt und er für sie nicht da war, ging ihm etwas Entscheidendes verloren. Er schwächte Annas Gefühl für ihn, bis sie ihn emotional ziemlich auf Abstand hielt. Henry war viel zu prosaisch, um Anna über die Schwelle des erworbenen Hauses tragen zu wollen. Er übergab ihr die Hausschlüssel und die Adresse eines Abends in seiner Wohnung bei einem Glas Sekt mit den Worten: „Hier, für dein Schloss. Da bist du jetzt die Königin, ich denke, du kommst zurecht“. Auch damit gab er ihr wieder einmal das Gefühl, ihn nicht brauchen zu dürfen, auch wenn sie es sich wünschte. Er tat, was für ihn gut war. Das Haus war groß genug, und deshalb hatte Henry im Stillen gehofft, mit ihr zusammen dort wohnen zu können und diesen Wunsch ziemlich plump durchblicken lassen. Aber Anna war vorsichtig geworden und hatte dann auch kein Hehl daraus gemacht, dass sie Henry nicht so sehr liebte, wie die Distanz zu ihm und war allein mit Sack und Pack, aber noch ohne Möbel und Umzugskartons in das Reich eines verstorbenen Künstlers eingedrungen, der ohne Angehörige gewesen sein musste, denn niemand schien sich für seinen Nachlass interessiert zu haben, wie sie von Henry erfahren hatte. Als sie das Haus betrat, hatte sie einen seltsamen Geruch wahrgenommen. Das war nicht die abgestandene Luft, die in den Ecken festsaß, wie in über lange Zeit ungelüfteten Räumen. Es war nicht dieser muffige Geruch alter Gebäude mit feuchten und schimmligen Wänden. Vielleicht war es der Geruch der vielen Jahre, die hier gelebt worden waren, und der vielleicht typisch war, wenn er sich mit dem der Menschen vermischte. Dufteten gute Jahre besser, als schlechte Jahre? Oder war es der Geruch des Todes, der sich hier über einen längeren Zeitraum eingeschlichen hatte, um zur vorgesehenen Zeit und mit Hilfe des Schicksals zuzupacken? Henry hatte erfahren, dass das Haus seit einem Jahr nicht mehr bewohnt worden war. Anna hatte sich eher erwartungsvoll als neugierig in den hellen Räumen umgeschaut, nachdem sie die Fenster weit geöffnet hatte und erinnerte sich plötzlich an einen Traum. Sie war auf einem verstaubten, mit Spinnweben verhangenen Dachboden, auf dem die Zeit schon ewig still gestanden hatte. Durch zwei blinde Dachluken hatte sich ein milchiges Licht gedrängt und einige alte Möbel, Weidenkörbe, Kisten und Schachteln zu erkennen gegeben. Und Anna hatte auf verborgene Schätze und Geheimnisse zu hoffen gewagt, war dann aber aufgewacht. Auf den Dachboden dieses Hauses war sie ebenso gespannt, wie auf den Keller, dessen Tür noch fest verschlossen, und der Schlüssel bisher nicht gefunden worden war. Sie hatte zunächst jedes der geräumigen Zimmer betreten, in denen sie nun leben würde. Nur Bad und Schlafzimmer hatten Türen. Die beiden anderen großen Räume gingen ineinander über. Der größere Teil schien ein Atelier gewesen zu sein und endete dort, wo halbfertige und noch eine ganze Menge unterschiedlich große, unbemalte Leinwände wie ein Raumteiler hintereinander an der Wand standen. Ein großes, dunkelbraunes, rissiges Ledersofa und der niedrige Tisch davor, ließen darauf schließen, dass dort eine Art Aufenthaltsraum oder ein spartanisches Wohnzimmer begann. Anna schaute seltsam berührt auf eine Schale mit einigen, schon unansehnlichen Fruchtgummis, die auf dem niedrigen, rechteckigen Tisch vor dem Sofa stand. Sie registrierte schnell, dass es sich um die Süßigkeit handelte, der auch sie verfallen war und sich kein einziges grünes Fruchtgummi zwischen den anderen befand. Der Künstler hatte sie den anderen entweder wegen der Farbe oder des Geschmacks vorgezogen. Diese Erkenntnis sorgte bei ihr für eine angenehme Vertrautheit. Denn auch sie liebte gerade die grünen. Annas Blicke flogen durch die beiden Räume. Es gab eine enorme Ansammlung von Dingen, die verlassen worden waren, weil ein Leben geendet hatte. Sie wurden vielleicht sehr geliebt, waren wichtig gewesen, um sich wohl zu fühlen oder hatten eine andere, wichtige Bedeutung gehabt. Sie verharrten nun in der Stille, ausgeliefert den Launen anderer Menschen, was mit ihnen geschehen würde. Nichts von den Dingen schien überflüssig gewesen zu sein und stand am richtigen Platz. Unverrückbar gehörte jedes dort hin. Anna näherte sich diesen ganz privaten Kleinoden mit großem Respekt. Eine markante Persönlichkeit hatte hier gelebt. Ein Mensch mit einem ganz besonderen Leben, wie Anna schnell feststellte, als sie sehr vorsichtig Schränke und Schubladen öffnete, als würde sie ein Fenster zu seiner Seele öffnen. In einem Drahtkörbchen lagen leere Schneckenhäuser auf getrocknetem Moos. Einige waren schwarz und noch winzig. Und Anna wusste nicht, ob es sich um eine kleine Schneckensorte oder um Schneckenkinder handelte. Ein transparenter Libellenflügel steckte glitzernd im Moos. Steine lagen eng beieinander auf einer Fensterbank. Sie hatten vom Meerwasser weiche, fließende Formen bekommen. Die Form eines Herzens und die eines geschwungenen Blattes. Auch Holzstücke in bizarren Figuren, hatten den Künstler fasziniert und dazu bewogen, sie zu sammeln und in sein Haus zu tragen. Dicke Sträuße aus getrockneten Blumen in maroden Farben hingen kopfüber von den Deckenbalken. Anna erkannte Rosen und Disteln. Ganz sicher hatte es in diesem Haus auch eine Frau gegeben, die Erinnerungen brauchte. An den Wänden hingen unendlich viele Ölgemälde in jeder Größe in schlichten weißen Rahmen, die Anna mit Neugier betrachtete. Sie gefielen ihr. Es war kaum noch Platz für auch nur ein Bild mehr. Sie hatten eine lässige Signatur, die Anna als ein ineinander verschlungenes R und P zu erkennen glaubte. In der oberen Schublade einer Kommode fand sie Aquarelle im Format 30 x 40 cm. Ein enormer Stapel farbiger Empfindungen und Eindrücke eines Menschen, der sich zeigte, indem er sie aus sich heraus geschwemmt hatte, damit sie ihn nicht verstopften. Sie waren ebenfalls signiert. Anna wunderte sich jedoch sehr, dass sie den Bildern an den Wänden in keiner Weise ähnlich waren. Sie waren so unterschiedlich, als wären sie von unterschiedlichen Künstlern gemalt worden. In einem schmalen Metallschrank in den niedrigen Schubladen entdeckte sie unzählige Aquarellfarben. Einige Töpfchen waren noch unberührt. Der Künstler hatte die Farben bei seiner Arbeit mit mehr oder weniger Wasser verdünnt. Aufgelöst, um gebrauchsfertig zu sein, hatten sie immer ein wenig an ein Bild verloren. Auf speziellem Papier einen neuen, einen anderen Platz bekommen, hatten sich verändert, waren flächig und satt aufgetragen, nur flüchtig hingehaucht oder mit anderen Farben vermischt worden. Aus einem stolzen Blau und einem schreckhaften Gelb war ein banges oder trübes Grün geworden, das sich bei einem erneuten Versuch, genau diese Nuance noch einmal zu treffen, kaum wiederholen ließ. Eine Verschmelzung für ewig und immer in der Zweisamkeit verloren, als hätte es sie anders nie gegeben. Anna schaute sich ein weiteres Stück durch eine emotional sehr befremdliche Welt, in der sich der Künstler kreativ verwirklicht hatte. Wie viel Aufmerksamkeit sollte sie dieser Anhäufung von Bildern in ihrem Leben geben? Wie viel Ehrfurcht stand ihnen zu, denn die Aquarelle erreichten nicht ihre Seele. Die Motive wurden mehr oder weniger mit unruhigen Pinselstrichen dargestellt und von Anna als sehr überzogen oder verzerrt empfunden. Nicht einmal die Proportionen, Perspektiven und Schatten stimmten aus ihrer Sicht. Nachdenklich hatte sie die Schublade zugeschoben. In kurzer Zeit hatte sie dem Wesen des Künstlers einen Grundriss gegeben, der jedoch nur schemenhaft Aufschluss über seine Persönlichkeit gab und sich auf dem Weg durch die Räume veränderte. Auf dem kleinen Tisch neben der Staffelei am Fenster wurde sie nämlich von einem enormen Chaos überrascht. Die Zeit, das zu ändern, schien gefehlt zu haben. Vielleicht war es aber auch grade diese Unordnung, die der Maler als inspirierend empfunden hatte. Ein langer Holzkasten mit unzähligen Ölfarben in zerdrückten Tuben, stand auf dem Fußboden. Ein großes Sortiment an Pinseln in Töpfen hatte Annas Blick gestreift, und eine Palette auf der schwarze, weiße und grüne Farbkleckse eingetrocknet waren, sowie eine Flasche Terpentin und benutzte Lappen, ließen den Künstler beinahe gegenwärtig werden. Anna hatte sich weiter umgeschaut und sofort den schwarzen, abgegriffenen Geigenkasten entdeckt, der an der Wand lehnte. Und wieder veränderte sich der Künstler in Annas Vorstellung, überraschte mit einer weiteren Begabung, die sich jedoch nicht beurteilen ließ. Es gab im Umfeld keine Notenhefte. Anna hatte den Geigenkasten vorsichtig auf den Fußboden gelegt, um ihn zu öffnen. Die Geige auf verblichenem, tiefblauem Samt wirkte wie ein schlafendes Kind. Ihre Fingerspitzen glitten behutsam über den hellbraunen, gelackten Klangkörper. Sie hatte sich aber nicht getraut, an einer der Saiten zu zupfen, um die Ruhe nicht zu stören und dachte an die berühmten Violinkonzerte von Beethoven, Bruch und Mozart. Wimmerhölzer nannte Henry diese Instrumente. Da waren sie nicht auf einer Wellenlänge. Dann hatte sie den Deckel geschlossen und den Geigenkasten zurück an die Wand gestellt. Auf dem langen, aus groben Brettern zusammengebauten Holztisch, der in der Mitte des Raumes stand, lag eine randlose Brille mit ausgeklappten Bügeln, als wäre sie eben gerade abgesetzt worden. Anna zögerte, ob sie sie berühren sollte, zog dann jedoch ihre Hand zurück. Neben der Brille hatte sie einen Lötkolben und eine grässliche, unfertige Tiffany-Lampe entdeckt und eine Menge Glasscherben in verschiedenen Farben in einem Schuhkarton, in der Sandalen für Männer im Angebot gekauft worden waren. Das kräftig rote Schild schrie 49.- Euro. Anna hasste sowohl Sandalen bei Männern wie auch Tiffany-Lampen und garantierte, dass die nicht bleiben durfte. Dann hatte sie die Glastür einer schwarz gelackten Vitrine geöffnet. Auf zwei der Holzborde, die mit einem tiefroten Papier ausgelegt waren, stand ordentlich aufgereiht, ein Fischservice aus feinem Porzellan. Anna nahm vorsichtig einen der Teller in die Hände. Er kam aus einer chinesischen Manufaktur. Jedes Teil war handbemalt, wie auf der Rückseite zu erkennen war. Es gab die unterschiedlichsten Motive wie Hecht, Kabeljau, Scholle, Brasse und Aal zwischen Wasserpflanzen und aufsteigenden Luftblasen bis nach oben an den Rand, der dünn und korallenrot akkurat seine Runden zog. Das Geschirr war für zwölf Personen. Anna hatte schon etliche antike Stühle mit schmuddeligen Sitzflächen entdeckt und stellte sich plaudernde, genießende Menschen um den langen Tisch auf diesen Sitzgelegenheiten vor. Dazu Wein und Brot. Und labernden Frohsinn bis tief in die Nacht mit toten, gebratenen oder in einem raffinierten Sud gekochten Fischen. Annas Fantasie modellierte weiter an dem noch sehr vagen Bild des Verstorbenen. Von dem obersten Bord hatte Anna die silberne Einfassung eines Schmuckstücks an einer langen, feingliedrigen Kette vorsichtig in die Hände genommen. Daneben lag ein wunderschöner, geschliffener Aquamarin. Aber warum wurde der Edelstein aus der Fassung genommen? Anna entdeckte daneben eine Fotografie, die zerrissen und dann wieder unzureichend zusammengeklebt worden war. Eine weibliche Person war undeutlich zu erkennen. Anna erschrak, denn die Augen waren mit einem scharfen Gegenstand, Kartoffelmesser oder Rasierklinge, bis auf den weißen Grund des Fotopapiers weggekratzt worden. Der Mund der Frau lächelte dazu, was in der Kombination mehr als skurril wirkte. Der verstorbene Künstler bekam für Anna nun auch ein sehr emotionales Leben, und sie hätte gern gewusst, welches Drama dahinter gesteckt hatte. Vielleicht hatte es neben einer Ehefrau noch eine Geliebte gegeben, die die Romanze mit ihm beendet hatte, weil er ihr keine gesicherte Zukunft bieten konnte. Hatte sie ihm den Anhänger zurückgegeben, den er ihr aus Überzeugung, glückliche Zeiten gehabt zu haben, geschenkt hatte? Vielleicht hatte sie vergeblich darauf gewartet, dass er sich von seiner Frau trennte und stellte noch mehr Ansprüche, wollte Diamanten um den Stein oder sogar Platin. Und Anna fragte sich, ob er nach der Rache an dem Foto zufrieden oder traurig gewesen oder mehr und mehr und für immer wütend auf die Frau war. Es war 925iger Silber. Auch die Kette. Anna legte alles wieder sorgsam an seinen Platz. Die Kette war dabei schmeichelnd durch ihre Finger geglitten. Noch fühlte sie sich nicht als Herrin all dieser Dinge, obwohl Henry alles bezahlt, somit erworben und ihr zur freien Verfügung überlassen hatte. Sie konnte damit tun und lassen, was sie wollte. Auf der Fensterbank lagen tote Fliegen und etliche Kakteen standen wahllos durcheinander, die Anna mit Stacheln, spitz wie Speere, auf Abstand hielten. Sie machten einen jämmerlichen Eindruck, war ihnen doch anzusehen, dass sie schon ewig in ihrer knochentrockenen Blumentopfwüste gelitten hatten. Anna war in die Küche gegangen, hatte sich umgeschaut und ein altrosa Sahnekännchen mit einem romantisch geschwungenen Henkel gefunden, es mit Wasser gefüllt und sich der durstenden Kakteen erbarmt. Als sie das leere Kännchen zurückbrachte, war ihr eine Ansammlung bunter Kupferuntersätze in einer Schale aufgefallen, die von einer geflügelten Bronzefigur mit erhobenen Händen gehalten wurde. Der Künstler hatte sich auch in der Disziplin Emaillearbeiten geübt. Er hatte Engelmotive mit gelbem Heiligenschein und hellblauen Flügeln gewählt. Er war anscheinend auch sehr romantisch, aber das Ergebnis war scheußlich. Anna hatte sich weiter in der Küche umgesehen und festgestellt, dass sie fettig und staubig war. Da würde sie noch viel zu tun haben. Mit dieser Erkenntnis hatte sie der Küche den Rücken gekehrt und war langsam in den Flur gegangen und dann durch einen niedrigen Durchgang eine Stufe nach unten, in die beklemmende Atmosphäre des geräumigen, Licht durchfluteten Schlafzimmers vorgedrungen. Ein einfaches, breites Holzbett. Sein Bett. Wenig einladend. Anna öffnete rasch eines der Fenster, um frische Luft herein zu lassen. Die flachgelegene Matratze war unordentlich mit einem violetten Laken bezogen. Was noch zu einem Bett gehörte, fehlte. An der Decke über dem Bett hingen große und kleinere Federn von Eichelhähern, Tauben, von Elstern und Raben, die jetzt im Luftzug schaukelten. Auf dem Stuhl neben dem Bett entdeckte Anna ein graues, ziemlich dickes Notizbuch mit schwarzem Lederrücken. Sie hatte gezögert, es in die Hand zu nehmen, konnte dann aber doch nicht widerstehen und schlug es auf. Es waren keine simplen Eintragungen, wie sie feststellte, als sie die ersten Seiten überflog. Anna hatte sich auf den Stuhl gesetzt, ohne die Augen von den Zeilen zu lassen, die sie neugierig verschlang. Sind es seine tiefsten Gefühle gewesen, die er in Gedichtform zu Papier gebracht hatte? Oder traute sie ihm diese weitere Begabung einfach nicht zu, und es waren nicht seine Worte. Vielleicht hatte er sie aus einem Gedichtband abgeschrieben, weil sie ihm gefielen und zu seinem damaligen Gemütszustand gepasst hatten? Eines der Gedichte handelte von einer Begegnung. Anna hatte begierig Zeile um Zeile verschlungen, die am Anfang wie eine Belanglosigkeit und am Ende wie ein tröstendes Zugeständnis klangen. Sie hatte die Emotionen deutlich gespürt, eine Gänsehaut bekommen, das Buch sorgsam geschlossen und an die Brust gedrückt. „Das ist schön, das ist wunderschön. Da ist so viel Liebe, so viel Gefühl und Ehrlichkeit“, hatte sie geflüstert, war aufgestanden und hatte das Buch auf den Stuhl zurückgelegt. Der Künstler schlich sich in ihr Herz. Vor dem alten Kleiderschrank aus Weichholz an der weiß getünchten Wand, stapelten sich etliche Taschenbücher. Die Schranktüren hingen an wackligen Scharnieren. Es fehlten einige Schrauben. Das hätte Henry längst repariert, dachte Anna und sah durch einen schmalen Spalt auf diverse Wäschestücke. Aus dem Schrank waberte der Geruch getragener Kleidung. Anna hatte sich interessiert vor die Bücher gehockt und eins nach dem anderen in die Hand genommen. Es waren triviale Romane, so ganz untypisch für einen Mann. Aber es waren eindeutig Geschenke, denn sie hatten Widmungen von immer derselben Frau zu jedem Weihnachtsfest über viele Jahre. Einige Seiten hatten Eselsohren, andere ließen gepresste Stiefmütterchen, verblasste Rosenblätter und ein gepresstes Ginkoblatt los. Anna hatte sie mit schlechtem Gewissen sorgsam zurückgelegt, weil sie trotz sanfter Berührung ihrer Fingerspitzen, zu zerbröseln drohten. In einem Roman waren Zeilen unterstrichen. Anna spekulierte, ob sie für die Frau oder für den Künstler wichtig gewesen waren. Sie kannte den Roman und die Bedeutung sowie den Zusammenhang dieser Worte nicht, konnte damit nichts anfangen und legte das Buch wieder zu den anderen. War das vielleicht die Frau auf dem Foto, der die Augen ausgekratzt wurden? Anna wurde sehr nachdenklich. Es gab noch eine Kommode, in der sich bunte Handtücher und ein schwarzer, langer Bademantel mit durchgescheuertem Rücken befanden. Ungebügelte, einfarbige Schlafanzüge, Unterhemden und Unterhosen wurden peinlich, und Anna hatte die Schubladen rasch zugeschoben. Die schmale, niedrige Tür neben dem Schrank war mit derselben Tapete beklebt wie die übrigen Wände und deshalb unauffällig. Anna war neugierig gewesen, was sich dahinter verbarg. Die Tür hatte sich mit dem Drehknopf aus schwarzem, poliertem Holz nur schwer öffnen lassen. Anna war gespannt, und ihre Augen irrten sekundenlang in ein stockfinsteres Loch, in dem sie absolut nichts erkennen konnte. Außen gab es keinen Lichtschalter, und sie fuhr mit der rechten Hand innen an der Türzarge entlang, in der Hoffnung, ihn dort zu finden. Es gab ihn tatsächlich und er funktionierte. Anna hatte kurz aufgeschrieen, als das grelle Licht den wenige Quadratmeter großen Raum unter der Dachschräge erhellte. Eine unerwartete Horde menschengroßer Marionetten in schwarzer Kleidung und muffiger Umgebung, sorgten für großes Unbehagen. Knollen- und hakennasige Fratzen, mit gelben Zähnen und auch zahnlosen, unterschiedlichen, dick- und schmallippigen, verzerrten Mündern und bleicher Haut, starrten Anna aus stechenden, hervortretenden Glasaugen an. Die langen Bänder an den Gliedmaßen und am Kopf, hingen wie ein Wust grauer Fesseln bis auf den Fußboden. Der Künstler wurde für Anna noch geheimnisvoller. Welche Gründe gab es für diese Puppen? War er vielleicht nicht nur ein Maler, ein Musiker, sondern auch ein Puppenspieler mit einer Parallelwelt in seiner Seele, die durch gruselige Geschichten gewandert war? Welche Sehnsüchte hatten die Marionetten gestillt und welche Bedürfnisse befriedigt? Ist er einsam gewesen? Anna war in großer Erwartung, auf welche Geheimnisse sie noch treffen würde. Sie wollte nicht vorgreifen, denn es war nicht vorgesehen, dass sie allein den Boden inspizierte. Henry könnte deswegen gekränkt sein. Aber diesen Fund musste sie unbedingt vor seinem Zugriff bewahren und würde darauf achten, dass er die Marionetten erst entdeckte, wenn sie gemeinsam auf dem Dachboden waren. Leise hatte sie die Tür geschlossen. Die nächsten Tage verbrachte sie mit dem Sortieren aller Dinge. Farben, Pinsel und Malpapier ließ sie unberührt. Außerdem hatte sie eine dicke Mappe mit persönlichen Unterlagen des Künstlers gefunden. Auch ein paar Briefe waren dabei, die ihr in die Hände gefallen waren, als sie die Mappe kurz geöffnet hatte. Auf die war sie sehr gespannt, übte sich noch in Geduld, um sie später in aller Ruhe zu lesen. Irgendwann war dann Henry aufgetaucht. Mit ihm durchforstete sie das Haus und füllte in den nächsten Tagen einige Müllsäcke mit Kleidung, Bettwäsche, Handtüchern aus dem Schrank und der Kommode aus dem Schlafzimmer. In der Küche unter dem Schrank fand Anna noch zwei Paar große, ausgelatschte Schuhe des Verstorbenen. Henry wäre am liebsten noch rigoroser vorgegangen, weil es ihn nicht interessierte, was Anna sentimental zu schützen versuchte. Es dauerte ihm alles viel zu lange. Hätte sie ihm nicht Einhalt geboten, hätte er ein paar Männer dafür abgestellt, die dafür gesorgt hätten, dass das Haus in Nu besenrein gewesen wäre. Die Dinge des Verstorbenen interessierten ihn einfach nicht, und er warf sie achtlos auf den Fußboden. Er war wieder einmal sehr vernünftig, sorgte auch wieder einmal für Ordnung und bestellte einen Container für die vielen anderen Dinge, die Anna nicht behalten wollte. Annas Hemmungen verwässerten dann für die unwichtigen und üblichen Haushaltsgegenstände, und schließlich wurde aus dem sorgsamen, vorsichtigen Sortieren doch noch eine gnadenlose Haushaltsauflösung. Das Haus verlor bis auf das Atelier, nach und nach an der geheimnisvollen Atmosphäre, die ihm innegewohnt hatte. Und auch noch die letzten Spuren eines Lebens, wurden innerhalb weniger Tage bis auf ein Regal und den Küchenschrank und die Dinge, die Anna in Sicherheit gebracht hatte, ausgelöscht. Anna hatte das Gefühl, sie hätten mit ihrer Aktion den Künstler noch einmal sterben lassen, als sie dem Laster hinterher schaute, der den Container abholte, um den Krempel, Unrat oder wie sie die normalen Habseligkeiten, die diesen Haushalt ausgemacht hatten, nennen sollte, zu entsorgen. Anna war es geschickt gelungen, das Atelier vor Henrys Zugriffen zu bewahren, in das sie die Mappe und das Notizbuch aus dem Schlafzimmer und noch einige andere Dinge des Verstorbenen gebracht hatte. Dann war Henry für ein paar Stunden in einem Baumarkt verschwunden und mit einigen Eimern weißer Farbe, Quasten und Schafwollrollen zurückgekehrt. Sie brauchten einige Tage zum Renovieren. Nachdem alle Wände und Zimmerdecken gestrichen waren, seifte Anna die Türen ab und putzte die Fenster. Eine eintönige Beschäftigung, die es zuließ, dass Aron stundenlang in ihrem Kopf herum geistern konnte. Während der Renovierung blieb Henry auch nachts, und sie schliefen auf der Matratze, die sie im Schlafzimmer auf den Fußboden gelegt hatten. Als Annas diverse Umzugskartons am nächsten Tag gebracht worden waren, die sie in der Küche stapelten und auch die Möbel ins Haus getragen waren und nach vielem Hin- und Herrücken endlich am richtigen Platz standen und auch das Bett aufgebaut war, saßen Anna und Henry erschöpft auf dem durchgesessenen Sofa im Wohnzimmer bei heißem Tee und einem billigen Sandkuchen aus dem Supermarkt, den Henry besorgt hatte.

 
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