DESENCANTO

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Giuseppe Maruozzo

DESENCANTO

Die Entzauberung

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Impressum neobooks

Kapitel I

„Italiano?“

„Si, Italiano“, entgegnete er dem prüfenden, aber wohlwollenden Blick des jungen Zollbeamten, der in seinem sauber gebügeltem blauen Hemd eine überlegene Frische ausstrahlte, während ihn und alle anderen Passagiere die elf Stunden Flugzeit in eine unangenehme Rolle zwangen, die jeder Kontrolle anlastet, wenn sie in Form einer uniformierten Macht dem Kontrollierten Demut abverlangt.

Hinter jener Tür, die nur noch dieses junge schwarze karibische Gesicht versperren konnte, wartete das Land seiner Neugier. In seinem Blick muss wohl ein Hauch von Sympathie, die er diesem Land entgegenbrachte, spürbar gewesen sein, denn entgegen seiner Erwartung, streckte ihm der junge Polizeibeamte, ohne weiter in seinem Pass herumzublättern, diesen in die dafür vorgesehene Öffnung des Panzerglases und winkte ihn mit höflichem Tonfall weiter: „Puede passar senor.“

Er steckte seinen Pass eilig zu den anderen Reisepapieren, hob seine beigefarbene Ledertasche vom Boden und versuchte mit der linken Hand die Tür zu öffnen, was auf Anhieb misslang, denn man musste im engen Gang etwas zurückweichen und die Tür nach innen öffnen, sodass er gezwungen war, seine Tasche erneut abzustellen, zuerst seine Papiere, die er immer noch in der linken Hand hielt, in seiner Jackentasche verschwinden lassen, um dann einen neuen Versuch zu starten. Diese kleine Verzögerung hatte dem aufmerksamen Zöllner ein Schmunzeln entlockt, den wartenden Mitreisenden hingegen nur eine ungeduldige Gleichgültigkeit.

Hinter der Tür, in einem neondurchfluteten Raum, forderte das dunkle Gummifließband mit dem Passiertor daneben, stumm, aber ultimativ zur Gepäckskontrolle auf, bevor noch das Personal auch nur einen Ton hervorgebracht hatte. Wie ein Automatismus der Prozedur spielten sich die Gesten der Kontrolle in Jedem ab.

Er legte die Tasche brav aufs Band und die Augen der sitzenden Dame in der blauen Uniform begleiteten den Akt, während seine Hände schon in der Hosentasche bemüht waren, die Metallgegenstände auszusortieren.

Ohne Verzögerung passierte er den Kontrollrahmen, nahm die Tasche in Empfang, steckte den Geldbeutel und die Schlüssel wieder ein, ohne dass die Dame aufzustehen brauchte, sah sich nach der Gepäckausgabe um und war überrascht, wie modern die große Halle des Internationalen Flughafens von Havanna eingerichtet war.

Die Displays der Fluginformation strahlten den gleichen normierten Charakter eines elektronischen Zeitalters aus, wie überall sonst auf der Welt.

Um die geschlängelte Gepäckausgabe hatten sich die Passagiere des Flugs

de 6596 aus München gruppiert, die auf ihre Koffer warteten, darunter auch der Direktor des Goethe-Instituts, der sein Gepäck als einer der ersten erwischte und sich auch gleich davonmachte.

Nun schleppte auch er seinen Koffer und die beigefarbene Tasche weg aus der Halle nach draußen durch die Glastür, die die Sicht auf die wartenden Taxis nicht versperrte.

Zwei gelbe unscheinbare Fiat 125 wurden von Ankömmlingen bedrängt und bestiegen, sodass er nach weiteren Wagen Ausschau hielt. Er musste nicht lange warten, denn ein weißer Peugeot mit rotem „Taxi“-Schild auf dem Dach fuhr an ihn heran.

Der Fahrer, ein hagerer Herr mittleren Alters war ausgestiegen und hatte routinemäßig, aber ohne geschäftige Eile, den Kofferraum geöffnet und dem Fremden selbst das Hieven des Gepäckstücks durch dezente Zurückhaltung überlassen.

Aufgrund seiner rudimentären Spanischkenntnisse rief der Kubareisende dem Fahrer ein knappes „Hotel Habana Libre“ zu und stieg vorne ein.

Im Auto fiel ihm sofort das Taxameter auf, das ihn sehr stark an Taxifahrten in Rom erinnerte. Die gleiche eingebaute Metallhalterung und ein rechteckiger schwarzer Kasten mit Display und einem silbernen Drehknopf.

Mit Geldfragen wollte er sich aber jetzt nicht beschäftigen und streifte nur flüchtig die roten Zahlen des Displays während der Fahrt. Vielmehr war er gespannt auf die Menschen und die Stadt.

Es wehte ein sanfter Wind und tropisch heiß war es nicht, das enttäuschte ihn etwas, da er die Sonne liebte und Hitze eigentlich vermisste. Er schob es auf die Wolken und den Monat November. Er musste an Kolumbus denken, der am 28. Oktober des Jahres 1492 Kuba entdeckte und von der Insel schwärmte als das schönste Land, das die Augen eines Menschen je erblickten, und dann kamen ihm auch alle Daten des Reiseführers in den Sinn: Sie sei die größte der Westindischen Inseln mit einer Gesamtfläche von 114 524 Quadratkilometern, erstrecke sich lang und schmal von Westen bis zur östlichen Spitze bis über 1200 Kilometer, in der Breite zwischen 230 und 40 Kilometer schwankend. Dabei liege sie nur 34 Kilometer entfernt südlich von Key West, dem großen Bruder USA, genau südlich des nördlichen Wendekreises, aber das Klima sei eher semitropisch als tropisch.

Sie waren jetzt in einen Kreisverkehr eingebogen und er nahm die gemischte Bevölkerung noch intensiver war, Schwarze und braun gebrannte wechselten sich ab in einem farbigen Gemisch, indem bleiche Gesichter eher den Makel des Touristen verrieten, diesem Menschen, dem ein Webfehler anlastet, wie einem Lebensmittel sein Verfallsdatum.

Als sie aus einer Senke des Kreisverkehrs an einigen Motorrädern und offenen Lastkarren vorbei in die Avenida del Banco Boyeros bogen, stach ihm der Mythos direkt in die Augen.

Am Horizont sah er den Ché in seiner unverwechselbaren schwarz-weißen Silhouette mit dem Stern auf der Baskenmütze auf einer fabrikähnlichen Wand entgegenkommen, und als übergroße Gestalt von vielleicht 20 auf 10 Metern hinterließ er einen unauslöschlichen Eindruck, zumal dieser Eindruck noch mit dem Schriftzug „Patria y muerte“ den Betrachter als Mahnung erreichte.

Er bemerkte, dass sein Fahrer ihn flüchtig aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, als er sich womöglich übertrieben gegen die Windschutzscheibe nach vorn gebeugt hatte, um den Mythos noch besser sehen zu können, und er glaubte sich einen Moment einfühlen zu können in den Schmerz dieses Daseins, in der die Geschichte einer Revolution die einen gegen die anderen aufgewühlt hatte und in einem Netz des Misstrauens zu ersticken drohte.

Damals, als die Guerilleros nach dem gescheiterten Überfall auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 dezimiert in der Sierra Madre gegen die zahlenmäßig überlegene Armee Batistas ums Überleben kämpften, war der Spruch wohl noch eher eine Durchhalteparole gewesen, dachte er. Es war schwer, angesichts des weltweiten Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus dieser noch verbliebenen Trutzburg einer revolutionären Idee die Sympathie zu verweigern. Er tat es nicht und schwelgte noch in abstrakten Gedanken von Kontext und Denotation, als der Taxifahrer, der bisher stumm seiner Arbeit nachging, den Passagier zurückholte, indem er „Hotel Habana Libre?“ nachfragte.

Er schaute ihm etwas verblüfft in sein Latino-Gesicht mit den kleinen schwarzen listigen Augen, aber nach ein paar Sekunden fing er sich wieder mit einem höflichen „Si Senor, Habana Libre.“

Das Volk braucht mehr als Freiheit und Demokratie hatte der Comandante Barbudo in seinem Namen verkündet und es schoss ihm durch den Kopf, als er auf den Anhöhen Havannas das Meer hinter den Dächern der Stadt in der nun etwas stärker brennenden Mittagssonne einatmete und ihn die Gewissheit erklomm, nie fliehen zu müssen aus einem Paradies.

Kubaner nennen jene Landsleute, die mit Booten und den Haien im Nacken ihrer Heimat den Rücken zukehren Gusanos, weil Sie ähnlich wie Raupen auf den Moment der Erlösung oder der Verdammung warten.

Wie Schmetterlinge kamen ihm jetzt die legendären Chevrolets und Cadillacs aus den Fünfziger Jahren vor, die immer zahlreicher wurden, je mehr sie sich durch die sanften abfallenden Straßen in Richtung Stadtzentrum bewegten.

Sein Fahrer war etwas gesprächiger geworden, vielleicht lag es auch daran, dass er einigen Freunden oder Bekannten begegnet war, denen er aus dem offenen Fenster nach draußen im Vorbeifahren unverständliche Worte lachend zugerufen hatte und die direkt neben einem schicken Polizisten mit Helm und Sonnenbrille und seiner Moto Guzzi standen. Danach wandte er sich an seinen Fahrgast und erklärte wie ein Cicerone, dass sie nun im Viertel Marti wären und nach dem angrenzenden Maceo gleich zum Palatino kommen würden.

„Palatino?“ fragte sein Fahrgast verdutzt, das war doch bekanntlich einer der sieben Hügel von Rom.

„Si, Senor, este Via Blanca a la derecha”, sagte der Fahrer zu seinem Fahrgast, während er gleichzeitig nach rechts deutete und fortfuhr ,“conduce en el Palatino.“

Sie fuhren aber weiter die Avenida de Rancho Boyero an einem großen Gebäude vorbei, von dem einige Krankenwagen herausfuhren und der Fahrer mit den Worten „Cristo Rey“ knapp kommentierte. Die Avenida verbog sich jetzt entlang der Plaza de la Revolucion zur Wegscheide und gab in der Mitte den monumentalen Helden seines Unabhängigkeitskampfes kolossal zur Bewunderung frei. Man hätte dieser Statue Josè Marti’s seine lebendigen Worte verleihen sollen, um die Tragik zu spüren, die so manchen Poeten befällt, wenn er sie denn hören könnte im Tumult der Gegenwart:

 

Der despotische Geist des Menschen verbindet sich in tödlicher Liebe mit dem Genuss, von oben herabzusehen und wie ein Herr zu befehlen, und sobald er diese Wonne einmal erfahren hat, scheint es ihm, als würde man seine Lebenswurzeln mit Stumpf und Stiel ausreißen, wenn man ihm dieses Vergnügen nimmt.“

Man begreift diesen epischen Zwist des kubanischen Volkes wohl nur, wenn man weiß, dass gerade sein legendäres Staatsoberhaupt in der Stunde der größten Gefahr für sein Leben Marti für sich sprechen ließ:

Der Strom der Tränen, die wir an den Gräbern unserer Toten vergießen können, ist begrenzt. Anstatt ihre Körper zu beweinen, sollten wir hingehen, um nachzudenken über ihre unendliche Liebe zu ihrem Land und dessen Größe, eine Liebe, die niemals wankt, die nie die Hoffnung verliert und niemals kraftlos wird. Die Gräber der Märtyrer sind unsere schönsten Altäre:

Wer stirbt

in den Armen des dankbaren Vaterlands,

für den hat der Tod seinen Schrecken verloren,

die Kerkermauern stürzen ein,

und am Ende beginnt mit dem Tode

das Leben.“

Martis Ahnung, dass die lange Ausübung der Macht die Sinne raube, war kaum mehr zu vernehmen, da ein Monument nur den Raum auszufüllen vermag.

Sie kamen in die Nähe der Universität und wurden von einer Gruppe von zahlreichen Schülern in ihren weiß-blauen Uniformen an einer Ampel aufgehalten. Er nutzte diese Verzögerung, um in seinem Reiseführer zu blättern, nahm einige Fotokopien der unzähligen Bücher heraus, die er über die Perle der Karibik gelesen hatte und stieß auf jene Seite, die die Ereignisse im Sommer 1952 betrafen und begann darin zu lesen:

Auf den 1. Juni 1952 war in Kuba eine Präsidentschaftswahl angesetzt worden. Eine Anfang März durchgeführte Meinungsumfrage hatte ergeben, dass von den drei Kandidaten Fulgencio Batista die geringsten Aussichten hatte. Zehn Tage später besetzte Batista um drei Uhr nachts das Camp Columbia, die größte militärische Festung des Landes, und übernahm das Oberkommando der Streitkräfte. Wenn er schon die Wahlen nicht gewinnen konnte, so konnte er doch wie im Jahre 1934 die Regierung mit Gewalt an sich reißen.

Wenige Wochen nach diesem Staatsstreich erschien ein junger, fünfundzwanzigjähriger Rechtsanwalt, der zwei Jahre zuvor auf der Universität von Havanna seinen Doktor gemacht hatte, vor dem dortigen Dringlichkeitsgericht. Er bewies in knappen Worten, dass Batista und seine Komplizen sechs Artikel des Strafgesetzbuches verletzt hatten, worauf ein Strafmaß von insgesamt 108 Jahren Gefängnis ausgesetzt war. Er forderte die Richter auf, ihre Pflicht zu tun:

„Nach allen Gesetzen der Logik muss Batista - wenn es noch Richter gibt auf Kuba - bestraft werden. Wird er aber nicht bestraft und bleibt weiter Staatsoberhaupt, Präsident, Ministerpräsident, oberster General, Chef des gesamten militärischen und des zivilen Bereichs, Gebieter über Leben und Eigentum, dann gibt es keine Richter mehr auf Kuba, dann wurden sie unterdrückt. Ist das die schreckliche Wahrheit?

Wenn sie es ist, dann sagen Sie es schnell, hängen Sie ihre Roben an den Nagel und geben Sie ihr Amt auf.“

Wer war dieser tollkühne Bürger Kubas, der ganz allein die Verwegenheit besaß, eine Armee von Halsabschneidern zu attackieren, die gerade zum zweiten Male die Macht im Staate erobert hatte? Was war das für ein Mann?

Er hieß Fidel Castro.

Die bunte uniformierte Schülerschaft hatte die Straße freigegeben und sie fuhren am Ort des damaligen Geschehens, der Universität, vorbei an einigen bröckelnden Häuserfassaden Havannas entlang in den Vorplatz des Hotels, das mit seinen 30 Stockwerken alle anderen Gebäude überragte, sich wie eine Leiter in den Himmel fraß und als „Emblematico & Unico“ sich auch auf den Prospekten der staatlichen Betreibergesellschaft präsentierte.

Vor dem Hotelkomplex fuhr eine Flotte von Taxen und Bussen vor und entlud seine Ladung einer gelockerten Einreisepolitik.

Auch sein Fahrer war die Calle L.Vedado entlang der Rampe in den weiträumigen Innenhof an parkenden Bussen direkt vor den Hoteleingang gefahren und wartete danach auf sein Geld am Steuer.

Er griff in seine Hosentasche, nahm zwei Dollar heraus, die er vorbeugend für diese Gelegenheit schon am Flughafen unbemerkt zurechtgelegt hatte, und übergab sie dem Fahrer mit einem „gracias Senor“. Wenn man bedenkt, dass ein Volksschullehrer auf der Insel circa dreitausend Pesos Jahreslohn bekommt, was ungefähr hundert Euro ausmacht, dann kann man sich anhand einer alltäglichen Dienstleistung und ökonomischen Beziehung, wie die zwischen einem europäischen Touristen und einem Taxifahrer, die gelockerte Einreisepolitik vereinfachend erklären.

Er war müde und jetzt umso dankbarer, als ein adrett gekleideter Hotelpage in Uniform seinen Koffer aus dem Taxi holte und ihn durch die vielen herumstehenden Gäste und Einheimische hindurchlotste, während sein Taxifahrer schon im Verkehr der Avenida 23 verschwunden war.

Der dunkelbraun gemusterte Granitboden glänzte elegant in einer riesigen Halle und reflektierte an Spiegelflächen auch das Licht eines gigantischen Kronleuchters, das wiederum den warmen Ton der Edelhölzer zurückwarf in das Purpurrot von Sofas und Sesseln einer privilegierten Schicht.

Sein Page hatte die zwei Stufen, die den langen Empfangstresen vom Eingangsbereich abhoben, ohne Mühe genommen und den Koffer an der Kristallfassade des Empfangs abgestellt und bezog selbst stumm und geduldig in der Nische einer Marmorsäule eine diskrete Wartehaltung, sodass der Kubareisende jetzt fast ausschließlich einer kreolischen Schönheit mit wundervoll langer schwarzer Lockenpracht nahe kam, die nicht nur einen Duftzauber versprühte, sondern auch durch die seidene Bluse und langen Ausschnitt einen Einblick in ihre reizvolle Weiblichkeit gewährte.

Er verspürte trotz seiner Müdigkeit einen sinnlichen Taumel, den er durch tiefes Einatmen noch verstärkte und durch Ihren Gruß in einen Bann geriet, den er mit einem Lächeln erwiderte.

Sie tippte souverän in die Tasten des Computers und schob dann ihre fordernde graziöse Hand rücklings an den rosa lackierten Fingernägeln entlang über die marmorierte Tresenplatte seinem Pass entgegen.

Sie hatte sich mit seinem Reisepass in der Hand etwas von ihm abgewandt, weil ein Kollege hinzugekommen war, der offensichtlich etwas suchte und nicht fand.

Sie gab ihm gezielte Anweisungen und hatte dabei aus einem Fach ein Kärtchen geholt, auf dem „Identificacion“ stand.

Jetzt bückte sie sich zu ihm mit den Papieren über den Tresen und sah dann mit einem Wimpernschlag zu ihm auf und mit dem fragenden und stechenden Blick ihrer unvergleichlichen Augen wollte Sie wissen: „Italiano?“

Er bejahte auch diesmal, fügte aber hinzu, dass er in Deutschland lebe. Ihre Pupillen verhakten sich für einen längeren Augenblick ineinander, bis sie schließlich nachgab und seinen Namen zu schreiben begann.

Fabrizio Guerrieri,

Habitacion/Room 1726,

Fecha Salida/Departure Date 28.11.2000,

Pais/Country Italia stand jetzt auf seinem Hotelausweis mit der aufgedruckten Nummer 54475,den sie ihm jetzt gemeinsam mit einer Chipkarte aushändigte, um sich anderen Gästen zu widmen.

Der stumme Hoteldiener setzte sich wieder mit seinem Koffer in Richtung Fahrstuhl in Bewegung, während er sein Jacket, das er die ganze Zeit über seinen Arm geklemmt hatte, anzog, um beide Hände frei zu haben, aber auch der kühlen Klimaanlagenluft wegen. Insgeheim aber verweilte er, weil er hoffte, sie könnte die Konversation mit ihm wieder aufnehmen. Diese Hoffnung verflog und er folgte dem Pagen, der schon den Fahrstuhl gerufen hatte.

Im Fahrstuhl legte sich der Jetlack über seine Glieder und er hatte Mühe, die elektronischen Anzeigen im Dämmerlicht noch zu erkennen und war froh, dass ihm dieser nette Mensch auch mit der Chipkarte behilflich war, die sein Zimmer öffnete, in das er den Koffer stellte.

Er gab seinem Wohltäter einige Pesos und verabschiedete ihn mit einem freundlichen Klaps auf die Schulter.

Er liebte Hotelzimmer und dieses ganz besonders, es roch nach frischen Laken und auf dem riesigen Ehebett hieß ihn ein kunstvoll gefalteter Kissenbezug, in dem eine Orchidee steckte, willkommen.

Das Zimmer war sehr geräumig und am Ende des Bettes, gegenüber der Eingangstür, verbarg noch eine circa sechs Meter lange Wand aus zugezogenen Streifengardinen den Ausblick aus dem 13. Stockwerk.

Als er die Schnur der Gardinen zog, die somit alle segeltuchartigen Einzelstreifen in der Senkrechte öffnete, wurde er mit einer majestätischen Aussicht über die Dächer Havannas aufs offene Meer durchflutet.

Er blickte hinaus auf die blaue Bucht und den weißen Schäfchenwolken am Horizont, die sich langsam im Wind bewegten und aus denen er in diese Perle gestiegen war und es kam ihm vor, als wäre er nie gelandet.

So stand er da und träumte mit offenen Augen und war so froh, der Kälte eines undankbaren Winters zuhause entronnen zu sein und den traurigen einsamen Tagen einer erbarmungslosen Fremde, in der er nie heimisch geworden war.

Er nahm Proust und seine Suche nach der verlorenen Zeit aus dem offenen Koffer und stellte das Buch auf die Kommode, danach verstaute er seine italienischen CD’s von Pino Daniele, Francesco De Gregori, Bennato und anderen Cantautori in den Schubladen neben dem Fernseher, den er jetzt anmachte und zog sich aus.

Im Bad wäre er fast eingeschlafen, hätte ihn das kalt gewordene Wasser des Duschkopfes, den er sich auf die leicht behaarte Brust gelegt hatte, nicht aufgeschreckt.

Etwas verstört und in Schaum gehüllt, entstieg er der Wanne, drehte den Hahn zu, schnappte sich ein Handtuch, knippste das Licht aus und warf sich aufs Bett.

Aus dem Fernseher drang die kubanische Sichtweise in Form einer spanischen Sprache und offiziellen Bildern von alltäglichen Ereignissen der Hauptstadt ins Halbdunkel seiner vorübergehenden Residenz.

Das wechselnde künstliche Licht einer geheimnisvollen Berichterstattung, oder aus Sicht des Feindes einer gekonnten Propaganda, streifte seinen nackten wohlgeformten Körper, der im Schlaf die ersehnte Ruhe suchte.

Fabrizio hatte seinen Kopf auf die Orchidee gelegt, die ihm jetzt sein Ohr streichelte und seinen Oberkörper und die Beine diagonal übers ganze Bett verteilt, wobei er die Decke weggezogen hatte, um nur unter das weiße Laken zu schlüpfen.

So war er eingeschlafen, mit der Fernbedienung in der Hand, die er nicht mehr betätigen konnte und sanft hinübergeglitten in das Reich eines Orchus bzw. Morpheus.

Wie jene mythischen Schatten einer zeitlosen Unterwelt wirkten jetzt auch die Konturen Fidels, der aus der Bildröhre heraus über das weiße Laken des schlafenden Gastes seine Allgegenwärtigkeit an die Wand projezierte und anlässlich eines jüngst im November entgangenen Attentatsversuches in Panama eine Rede hielt:

Als ich im Jahr 1981 bei der 68. Interparlamentarischen Konferenz sprach, sagte ich - nach der Aufzählung von Prozentzahlen und Angaben zur Verdeutlichung der wachsenden Kluft zwischen der entwickelten und opulenten Welt und den Ländern, die deren Kolonien und Herrschaftsgebiete darstellten und über Jahrhunderte hinweg Opfer von ununterbrochener Ausplünderung waren - einen Satz, der damals übertrieben erscheinen konnte:“Wenn die Gegenwart tragisch ist, so lauert für die Zukunft Finsternis." Niemand soll versuchen, uns mit den neuen Begriffen zu täuschen und zu verwirren, die der scheinheiligen Propaganda von Spezialisten in Lüge und Betrug entspringen, die im Dienst derer stehen, die der Menschheit eine immer ungleichere und ungerechtere politische und ökonomische Ordnung aufgezwungen haben. Diese Ordnung hat absolut nichts Solidarisches oder Demokratisches und nicht einmal einen Hauch von Respekt vor den minimalsten Rechten, auf die die Menschen einen Anspruch haben. Ich übertrieb nicht, als ich jenen Satz sprach. Die Auslandverschuldung der Dritten Welt........ fuhr der Schatten fort, und man hätte angesichts der folgenden Zahlen wirklich erschrecken können. Just als die Glühbirne des Hotelzimmers bedrohlich flackerte, fuhr dieser fast synchron fort: In den reichen Ländern ist der Pro Kopf-Stromverbrauch zehnmal höher als in allen armen Ländern zusammen. Und wieder geriet diesmal der Fernseher in eine stotternde Phase, die der Schatten aber unbeirrt überbrückte:

 

Es gibt 1,3 Milliarden Arme in der Dritten Welt, das bedeutet, dass dort einer von drei Einwohnern in Armut lebt. Die Weltbank prognostiziert in ihrem letzten Bericht über die Armut, dass beim Eintritt in das neue Jahrtausend die Zahl von 1,5 Milliarden Personen in absoluter Armut erreicht werden könnte. Die reichsten fünfundzwanzig Prozent der Weltbevölkerung konsumieren fünfundvierzig Prozent des Fleisches und des Fisches, während die ärmsten fünfundzwanzig Prozent nur fünf Prozent davon zu sich nehmen. In Afrika, südlich der Sahara, beträgt die Kindersterblichkeitsrate hundertsieben pro eintausend Lebendgeborenen bis zum Erreichen des ersten Lebensjahres und hundertdreiundsiebzig pro Tausend vor dem fünften Lebensjahr. Im südlichen Asien betragen die entsprechenden Anteile sechsundsiebzig und hundertvierzehn pro Tausend. Im Falle Late­inamerikas gibt es laut UNICEF eine Kindersterblic­­hkeit bis zum fünften Lebensjahr von neununddreißig pro Tausend. Mehr als achthundert Millionen Erwachsene sind weiterhin Analphabeten. Mehr als hundertdreißig Millionen Kinder im Schulalter wachsen auf, ohne Zugang zur Grundschulbildung zu haben. Es ist real und nicht zu verschleiern, dass heutzutage mehr als achthundert Millionen Menschen an chronischem Hunger leiden und gleichzeitig keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten haben, weshalb geschätzt wird, dass in der Dritten Welt fünfhundertsieben Millionen Menschen das vierzigste Lebensjahr nicht überschreiten. Südlich der Sahara sterben dreißig Prozent der Bevölkerung vor dem vierzigsten Lebensjahr. 1981 erwähnte man kaum die Klimaveränderung und das Wort AIDS hatten erst sehr wenige gerade zum ersten Mal gehört. Zwei furchterregende Bedrohungen, die sich zu den bereits erwähnten Katastrophen gesellen. Unerbittlich fuhr der Schatten fort, einer schlafenden Öffentlichkeit ins Gewissen zu reden und Fabrizio wäre fast aufgewacht, aber die Lautstärke war eher gedämpft und somit wirkungslos. Dennoch hätte man jetzt aufhorchen können, denn die folgenden Sätze versprachen ein baldiges Ende der Rede:

Zusammenfassend kann man sagen, dass auf diese Weise die Proportion des weltweiten Einkommens derjenigen Länder, die heute die Dritte Welt darstellen, zurückgegangen ist. Vor anderthalb Jahrhunderten betrug sie sechsundfünfzig Prozent und heute nur noch fünfzehn Prozent, was in Wirklichkeit eine besondere Ausdrucksform dessen darstellt, was für die Dritte Welt und die überwiegende Mehrheit der Menschheit der Kolonialismus, der Kapitalismus und der Imperialismus mit ihren Krisen, ihren Chaoszuständen, ihrer Anarchie auf wirtschaftlichem Gebiet und ihren egoistischen und unmenschlichen Wertsystemen darstellen. Unser Land, unsere arme Nation, wurde nach vier Jahrhunderten spanischer Kolonialherrschaft und siebenundfünfzig Jahren als Kolonie der Vereinigten Staaten einer brutalen Wirtschaftsblockade ausgesetzt, und zwar seit dem Augenblick, in dem wir zum ersten Mal in der Geschichte unsere doppelte Freiheit erlangten, denn wir befreiten uns zur gleichen Zeit von der Tyrannei und dem Imperium. Dieses kleine und blockierte Land der Dritten Welt, gegen das alle Ressourcen der Vereinigten Staaten im Bereich der Subversion, Destabilisierung, Sabotage und piratenähnlichen Angriffe angewandt wurden, genauso wie Hunderte von Plänen zur Ermordung von Führern der Revolution, schmutziger Krieg, Wirtschaftskrieg, biologischer Krieg, militärische Invasion unter Verwendung von Personal, das von den USA rekrutiert, bezahlt, ausgerüstet und von US-amerikanischen Marineeinheiten eskortiert wurde, das Land, das schließlich bis zum Risiko der Vernichtung in einem Atomkrieg getrieben wurde, konnte ehrenvoll allen Angriffen der größten Supermacht der Geschichte widerstehen, eines aufgrund seiner politischen, wirtschaftlichen, militärischen und technologischen Macht tausendfachen Roms.

Fabrizio hätte jetzt eigentlich aufwachen müssen, da man schließlich seine Hauptstadt im Getümmel erwähnt hatte, aber in die flammende Rede mischte sich jetzt sein respektloses Schnarchen und der Schatten schien jetzt wütender zu werden:

Der unerbittliche Wirtschaftskrieg und die Blockade dauern bereits zweiundvierzig Jahre. Zusätzlich dazu haben wir zehn Jahre Sonderperiode ausgehalten, als wir nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Blocks und der Desintegration der Sowjetunion ohne Märkte und Versorgungsquellen dastanden, unter Umständen, als die Vereinigten Staaten die Blockade mit dem Torricelli-Gesetz und dem Helms-Gesetz verschärften. Kein Land sah sich jemals einer ähnlichen Herausforderung ausgesetzt. Viele glaubten, dass wir vulgäre Satelliten einer Großmacht gewesen seien. Man erwartete das Ende der Revolution innerhalb von Wochen oder maximal innerhalb von Monaten. Doch der Satellit bewies sein eigenes Licht und seine außerordentliche Kraft als eine kleine Sonne von wahrer Freiheit, Souveränität, Patriotismus, sozialer Gerechtigkeit, realer Chancengleichheit, Solidarität innerhalb und außerhalb seiner Grenzen und unumstürzlichen ethischen und menschlichen Prinzipien. Niemand verfolge die Absicht, uns Lektionen in Geschichte oder Politik zu geben, indem er die kubanischen Führer wie Vorschulkinder behandelt. Es ist sogar möglich, dass die kubanischen Vorschulkinder von diesem Bereich mehr verstehen als einige bekannte Politiker. Es war dunkel geworden in Havanna, der Redner hatte die Errungenschaften der Revolution alle aufgezählt und der kleine Fernsehapparat im Zimmer 1726 des Hotels funktionierte unaufhörlich und gepriesenermaßen emblematisch, sodass er die Botschaft weiter verkündete:

Heute teilen wir dieses immense Humankapital mit anderen Bruderländern der Dritten Welt, ohne einen einzigen Cent dafür zu verlangen (Beifall). Unsere Mitarbeiter besitzen nicht nur eine tiefgehende technische und wissenschaftliche Fähigkeit, sondern auch das Wichtigste, nämlich eine außergewöhnliche menschliche Solidarität und einen unübertrefflichen Opfergeist. Hunderttausende von Landsleuten nahmen an internationalistischen Einsätzen in vielen Ländern der Dritten Welt teil, besonders in Afrika, und zwar als technisches Personal und speziell als Kämpfer gegen den Kolonialismus und die rassistische und faschistische Apartheid. Sie können sich fragen, warum ich mich bei der Aufzählung dieser Geschehnisse aufhalte. Erstens: Weil ich mich frage, ob dies der Grund ist, warum man uns Jahr für Jahr in Genf verurteilen will. Zweitens: Ob man uns wohl aus diesem Grund anfeindet, blockiert und uns einen Wirtschaftskrieg aufzwingt, der bereits 42 Jahre andauert. Drittens: Ob man aus diesem Grund die Kubanische Revolution zerstören will. Ich muss noch etwas anfügen: In 42 Jahren Revolution wurde niemals Tränengas gegen die Bevölkerung eingesetzt, noch kennt man hier das Spektakel mit Polizisten in Taucheranzügen, mit Pferden oder Fahrzeugen zur Auflösung von Aufruhr, die das Volk unterdrücken, etwas, was sehr häufig in Europa und den Vereinigten Staaten vorkommt. In unserem Land gab es nie Todesschwadrone oder auch nur einen einzigen Verschwundenen, einen einzigen politischen Mord, einen einzigen Gefolterten, und das trotz der Tausenden von infamen Verleumdungen, die von einem gescheiterten und skrupellosen Imperium verbreitet werden, das das Erscheinungsbild und das Vorbild Kubas von der Erde wegfegen möchte. Man gehe durch unser Land, frage die Bevölkerung, suche einen einzigen Beweis. Wenn jemand nachweist, dass die Revolutionsregierung eine Tat dieser Art angeordnet oder toleriert hat, trete ich niemals mehr auf einer öffentlichen Tribüne auf. Ziemliche Dummköpfe sind diejenigen, die glauben, dass man dieses Volk mit Gewalt regieren kann oder mit jeglicher anderen Form als der des Konsenses, der aus dem geschaffenen Werk, der hohen politischen Kultur unserer Bürger und der beneidenswerten Beziehung der Führung zu den Massen erwächst. Bei den Wahlen zu den Parlamenten auf den verschiedenen Ebenen nehmen mehr als fünfundneunzig Prozent der Wahlberechtigten auf bewusste und enthusiastische Weise teil. Die Ethik und Politik des Imperialismus unterscheidet sich davon erheblich. Als die Kubaner im Süden Angolas kämpften und im Jahr 1988 die Entscheidungsschlacht von Cuito Cuanavale gegen die südafrikanischen Truppen schlugen, und als im Südwesten dieses Landes vierzigtausend kubanische Soldaten und dreißigtausend Angolaner bis zur Grenze von Namibia vorrückten, besaßen die Rassisten sieben Atombomben ähnlich denen, die auf Hiroshima und Nagasaki geworfen wurden. Die NATO wusste davon, die USA wussten davon, und sie sagten kein einziges Wort, in der Hoffnung, dass die Atombomben auf die kubanisch-angolanischen Kräfte geworfen würden. In den fünfzehn langen Jahren, in denen wir im südlichen Afrika weilten und auf dem Wachposten waren gegen die Kräfte der Apartheid oder im Kampf gegen sie, unterhielten die wichtigsten kapitalistischen Länder wichtige Investitionen in Südafrika und hatten Jahr für Jahr im Handel mit dem Rassistenregime einen milliardenschweren Austausch. Die US-Investitionen in Südafrika beliefen sich zu jener Zeit auf drei Milliarden Dollar, der jährliche Handel auf sechs Milliarden Dollar und die diesem Land gewährten Kredite betrugen weitere drei Milliarden Dollar. Es ist wohlbekannt, dass die Vereinigten Staaten ein militärischer Verbündeter Südafrikas waren - kann man das etwa vergessen? - und über das Rassistenregime der UNITA beträchtliche Summen an Waffenlieferungen zukommen ließen, was tragbare Luftabwehrraketen und Millionen von Antipersonen-Minen einschloss, die auf dem gesamten angolanischen Territorium eingegraben wurden. Diese Organisation metzelte ganze Ortschaften nieder und tötete Hunderttausende von Zivilisten, einschließlich Frauen und Kinder. Ich übertreibe nicht im Geringsten.