Die Leiche im Hühnermoor

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Die Leiche im Hühnermoor
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Die Leiche im Hühnermoor

Impressum

Prolog

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XV

Epilog

Gisela Garnschröder

Gisela Garnschröder

Die Leiche im Hühnermoor

Kommissar Tann 3

Krimi

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-117-7

E-Book-ISBN: 978-3-96752-617-2

Copyright (2021) XOXO Verlag

Neuauflage

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1902593308

von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Der Juli hatte gerade begonnen. Einem sonnigen Tag folgte ein wundervoller Abend. Die Menschen flanierten durch die Stadt und die Straßencafés hatten Hochkonjunktur. Der Mann, der an diesem Tag nach der Arbeit durch Gütersloh spazierte, war mit seinen Gedanken weit weg.

Sie war ausgezogen, endlich! Zorn stieg in seinem Inneren auf, obwohl er gleichzeitig Erleichterung verspürte. Ihre Eltern hatten sich bei ihm gemeldet. Niemand wusste, wo sie sich aufhielt. Das sah ihr ähnlich, einfach so zu verschwinden, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer zu nehmen. Wütend stapfte er durch die Straßen, sah die verliebten Pärchen Arm in Arm, plaudernd und lachend. Nicht, dass er sie noch liebte, nein, davon konnte keine Rede mehr sein, denn er war dahintergekommen, dass sie ihn gleich mit mehreren seiner Freunde betrogen hatte. Über kurz oder lang hätte er sie ohnehin hinausgeworfen, dieses kleine Miststück! Nun war sie allein gegangen. Vielleicht war es besser so. Aber wo war sie? Er dachte dabei nicht an sich, doch warum tat sie ihren Eltern das an, völlig sang- und klanglos zu verschwinden?

Er holte sich an einem Stand ein Eis, leckte lustlos daran herum und ging zum Wasserturm. Sein Wagen parkte dort, ein Bulli, den er am nächsten Tag für seine Firma bei der Kreispolizeibehörde anmelden sollte. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die roten Nummernschilder anzuschrauben, sondern hatte sie kurzerhand vorn auf den Beifahrersitz gelegt, am nächsten Morgen würden ohnehin die neuen Schilder angebracht.

Sein Handy klingelte. Eine SMS ohne Worte. Verständnislos drückte er die Rückruftaste. Was er dann hörte, brachte ihn völlig durcheinander.

»Wer spricht da? Hallo?«, schrie er ärgerlich in den Hörer. Es brachte nichts, außer einem schnell dahergemurmelten Namen und das Gespräch war beendet. Er versuchte mehrmals die Verbindung wiederherzustellen. Es war unmöglich.

Er stieg in das Auto und fuhr nach Hause. Auf halbem Weg wendete er plötzlich den Wagen und schlug die Richtung zum Hühnermoor ein. Das Moor liegt an einem viel befahrenen Radweg. Er parkte seinen Wagen seitlich im Gebüsch. Langsam spazierte er rund um das Moor. Immer wieder kamen ihm Ausflügler entgegen, zu Fuß, mit Rädern, in kleinen Gruppen, zu zweit oder allein. Er wanderte fast eine Stunde lang durch die Gegend, ohne die Schönheit der Landschaft genießen zu können.

Als die Dunkelheit langsam hereinbrach, verließen die Menschen das Naturschutzgebiet, nur er blieb zurück. Nun ging er quer durch das Gebüsch zu dem kleinen Teich in der Mitte. Unschlüssig stand er da. Irgendjemand hatte ihm einen Streich gespielt und ihn herbestellt. Er wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn, stolperte - und ließ das Tuch entsetzt fallen. Wenig später lief er kopflos davon, mit zitternden Knien, atemlos, ohne anzuhalten an seinem Wagen vorbei bis zu der nächsten Straße. Er wanderte eine Zeit lang völlig abwesend hin und her, dann hob sich automatisch sein Arm, als ein Auto kam, und er ließ sich bis zum Ortseingang mitnehmen. Zu Fuß ging er nach Hause.

In der Nacht hatte er einen schrecklichen Albtraum. In Schweiß gebadet wachte er auf. Kaltes Entsetzen machte sich in ihm breit. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Am anderen Morgen machte er sich mit seinem Fahrrad auf den Weg, warf es in den Bulli und verließ die Stätte des Grauens.

I

Es war sehr früh und die Dunkelheit lag über der Landschaft wie ein graues Tuch, als der Hahn auf dem Hof zu krähen begann.

Blödes Vieh, dachte ich und drehte mich genervt ob der Störung auf die andere Seite. Jeden Morgen war es dasselbe, sobald der Hahn wach war, konnte auch ich nicht mehr richtig schlafen. Eine Stunde lang wälzte ich mich unruhig hin und her. Es war kaum fünf Uhr, da hielt ich es im Bett nicht mehr aus und stand auf.

Mit meinen neunundvierzig Jahren fühlte ich mich noch nicht alt, obwohl ich bereits in Pension war, zumindest war das im Ort die Erklärung dafür, dass ich meinen Beruf aufgegeben hatte. Für meine Verwandtschaft war ich als alleinstehende Frau für alle auf dem Hof die Tante Lisbeth oder Elli. Früher hatte ich meinen Namen gehasst, wer sagt hier in Westfalen schon Elisabeth? Die meisten Leute im Dorf nennen mich Lisbeth. Und vor langer Zeit hatte mich jemand Betty genannt, allerdings werde ich an denjenigen keinen Gedanken mehr verschwenden.

Brummelnd und vor mich hin murmelnd schlurfte ich ins Bad. Kurz darauf schlüpfte ich in meine alte, speckige Lederhose, zog die festen Wanderschuhe an und holte meine dunkelgraue Lodenjacke hervor. Meine halblangen Haare stopfte ich unter den alten braunen Lederhut mit der breiten Krempe, den ich von meinem Vater geerbt hatte und stapfte langsam und gemütlich über den Hof, wohl wissend, dass zu so früher Stunde kein Mensch draußen auf mich wartete.

Viele Jahre hatte ich in der Stadt gewohnt und dort am Gymnasium unterrichtet. Mein Zimmer auf dem Hof meiner Eltern wollte ich trotzdem nie aufgeben. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, jungen Leuten etwas beizubringen und zog wieder auf den Hof. Die Erbschaft einer Tante mütterlicherseits machte es mir möglich, vorzeitig aus dem Schuldienst auszuscheiden. Mein Vater hatte mir ein Wohnrecht vermacht, aber ich stellte schnell fest, dass es besser war, ein wenig Abstand von der Familie meines Bruders zu haben. Nicht, weil wir uns nicht mochten oder weil es Streit gab, nein, wir waren einfach zu verschieden und meine Interessen waren andere als die meiner Schwägerin oder meines Bruders. So kaufte ich meinem Bruder Hermann den alten, verfallenen Kotten neben dem Hof ab und verzichtete dafür auf das Wohnrecht. Ich nahm mir einen guten Architekten, und aus dem baufälligen Gebäude wurde ein schmuckes Häuschen. Den Garten habe ich selbst angelegt, er ist mein ganzer Stolz. Seit ich in meinem eigenen Haus wohnte, hatte ich häufig Gäste, nahm meiner Schwägerin hin und wieder die Einkäufe ab oder beaufsichtigte die Kinder bei den Schulaufgaben, ansonsten führte ich mein eigenes Leben. Mein Tag war immer ausgefüllt mit Lesen, Schreiben, Wandern, Theaterbesuchen, Kirchgang und von den vielen Vereinen, in denen ich mich engagiere.

 

Ich schlug den Weg zum Hühnermoor ein, um das sich allerhand Gruselgeschichten über einen ermordeten Abt ranken, der dort geräuschvoll herumspuken soll. Obwohl mir häufig, wenn ich meine Spaziergänge machte, die alten Geschichten in den Sinn kamen, kannte ich keine Angst und ich schritt zügig voran. Der Wind hatte nachgelassen, die ersten Vögel sangen und die Morgensonne kam hinter dem Wald hervor. Eine halbe Stunde später war ich am Moor angekommen und beobachtete ein Stockentenpärchen, das auf dem kleinen Teich seine Runden schwamm. Leichter Dunst lag über dem Wasser und ich setzte mich auf einen Baumstamm zu einer kurzen Rast.

Es hatte viel geregnet in letzter Zeit und überall hatten sich mehr oder weniger große Pfützen gebildet. Das Moorgras war kaum zu sehen, nur einige alte Baumstämme und bemooste Zweige ragten gespenstisch aus dem morgendlichen Nebel.

Es dauerte einige Zeit, bis sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, dann sah ich auf der gegenüberliegenden Seite zwischen den Erlen ein helles Fahrzeug. Ich stand auf und fixierte den Wagen, konnte das Modell aber nicht genau erkennen. Verärgert, dass jemand das Naturschutzgebiet als Parkfläche benutzte, stapfte ich rund um das Moor, um das Objekt näher in Augenschein zu nehmen. Ich versuchte möglichst leise zu sein, denn ich war sicher, dass dort, wie so häufig, Müll entsorgt wurde. Es war ein Bulli, der dicht hinter einem Gebüsch stand. Er war vom Weg her schwer auszumachen. Ohne auf die Zweige zu achten, die mein Gesicht zerkratzten, umrundete ich das Gefährt und stellte fest, dass es sich um einen relativ neuen, silberfarbenen Wagen ohne Kennzeichen handelte.

Kopfschüttelnd trat ich auf den Weg zurück, nahm den Hut vom Kopf, befreite ihn von Blättern und Zweigen, stülpte ihn erneut auf und schimpfte leise vor mich hin: »Bestimmt gestohlen! Ich muss unbedingt zur Polizei!«

Augenblicklich marschierte ich zum Hof zurück. Unterwegs überlegte ich es mir anders. Zuerst wollte ich Bauer Liedmann befragen, vielleicht wusste er, wem das Fahrzeug gehörte. Zu Hause angekommen, erzählte ich Ralf, meinem Neffen, davon und wurde gleich darüber aufgeklärt, dass er einen solchen Wagen, allerdings mit rotem Nummernschild, auf Liedmanns Hof gesehen habe. Sicher hatte ein Bekannter von Liedmann ihn dort abgestellt. Verärgert schüttelte ich den Kopf. Gab es nicht Scheunen genug in der Umgebung, um ein Fahrzeug unterzustellen?

In der darauffolgenden Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Ein starker Wind war aufgekommen und dunkle Wolken schoben sich in schnellem Wechsel über den Halbmond. Ich stand am Fenster meines Schlafzimmers und ließ die frische Luft hereinwehen. In letzter Zeit passierte es mir oft, dass ich in der Nacht erwachte und mich vollkommen ausgeschlafen fühlte. Nach kurzem Überlegen entschloss ich mich, einen kleinen Spaziergang zu machen. Ich ließ das Licht in der Diele brennen und war schon um den Garten herumgegangen, als mir mein Handy einfiel, das ich vergessen hatte. Schnell ging ich zurück, holte es und schloss sorgfältig die Haustür hinter mir ab.

Der tobende Sturm war genau die richtige Untermalung für all die Gruselgeschichten, die von dem armen Abt berichten, dessen Sarg bei einem stürmischen Gewitter Anfang des achtzehnten Jahrhunderts im Hühnermoor mitsamt der Kutsche und dem Kutscher in dem kleinen Teich untergegangen sein soll. Ängstliche Gemüter glauben, dass er noch heute im Moor herumwandert. Sollte mir der Geist einmal begegnen, würde es ihn sicher schnell vertreiben, wenn ich mein Handy benutzte.

»Lisbeth ist wieder auf Wanderung, in ihrer Diele brennt Licht«, sagte Hermann Landner zu seiner Frau, die sich ebenso wie er unruhig in ihrem Bett wälzte.

Gerda Landner zog die Decke weit über den Kopf und murmelte: »Keine zehn Pferde brächten mich bei diesem Sturm hinaus.«

»Du hast ja auch mich«, lächelte er in die Dunkelheit und strich seiner Frau sanft übers Haar.

Gerda seufzte. »Warum hat Elisabeth damals den Alfred nicht geheiratet? Dann wäre sie heute nicht allein.«

Ihr Mann rückte näher zu ihr und sie kuschelte sich an ihn. »Vielleicht hat sie ihn nicht geliebt«, flüsterte er nachdenklich.

Gerda lachte auf. »Quatsch, er hat sich so sehr um sie bemüht. Zudem war er ein recht fescher Kerl. Die beiden passten hervorragend zusammen.«

»Ich wüsste gerne, was aus ihm geworden ist. Seit damals habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

Gerda richtete sich im Bett auf und Hermann konnte ihre Umrisse im schwachen Licht, das durch die Rollläden drang, deutlich erkennen.

»Der lässt sich hier nicht mehr blicken. Deine Schwester hat sich aufgeführt wie eine Furie und hat ihn hinausgeworfen. Keiner weiß warum, und ich verstehe es bis heute nicht. So ein netter Mensch und bestimmt aus gutem Hause, so höflich wie er war!«

»Die Elisabeth hat halt ihren eigenen Kopf. Es nützt nichts, nach so langer Zeit darüber zu spekulieren.« Hermann gähnte. »Lass uns noch ein wenig schlafen.«

Der Bulli war nicht mehr da und nur die tiefen Fahrzeugspuren zeugten davon, dass hier ein Gefährt gestanden hatte. Ich hatte meine Taschenlampe mitgebracht und leuchtete sorgfältig den Weg aus. Die Abdrücke der Reifenprofile waren durch den Regen schon fast verschwunden und weit und breit war von dem Fahrzeug nichts zu sehen. Kopfschüttelnd stapfte ich hin und her, achtete weder auf die Zweige, die mir gegen den Kopf stießen, noch auf den Regen, der heftig niederprasselte. Erst nachdem ich sicher war, nichts, aber auch gar nichts zu finden, was nicht hierher gehörte, setzte ich meinen Spaziergang fort. So fest hatte ich damit gerechnet, mit dem Wagen habe jemand Müll oder Gartenabfälle entsorgt. In Gedanken hatte ich schon Anzeige erstattet und nun fragte ich mich, warum jemand so heimlich hier auftauchte, wenn er nichts zu verbergen hatte. Ein weiteres Mal umrundete ich das Moor, ohne etwas zu entdecken.

Langsam wurde es hell. Es hatte aufgehört zu regnen. Ich blieb stehen, knipste meine Taschenlampe aus, verstaute sie im Rucksack und wandte mich zum Gehen. In diesem Moment fiel mein Blick auf eine Erle direkt neben dem Weg. Ein Ast war herausgebrochen und die Wunde schimmerte hell. Ich schaute mich um, wo der abgerissene Ast geblieben war und gewahrte ihn im Moor in einer Wasserstelle. Er war armdick und sah fast aus wie ein kleiner Baum, der im Morast steckte. Verärgert trat ich vorsichtig auf den feuchten, wabbernden Boden und wollte den Ast hochziehen. Er war so schwer, als hinge ein Gewicht daran, und ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um die Fracht an Land zu ziehen. Ich mühte mich ab, schwitzte und stöhnte und endlich, nach mehrmaligen Versuchen gab die Erdmasse so plötzlich nach, dass ich lang hinschlug und mit einem unheimlichen gurgelnden Geräusch schoss der Ast und mit ihm einige bunte Stofffetzen aus dem brackigen Wasser empor.

Erschöpft rappelte ich mich auf und schaute nach dem bunten Müllberg, der nun aus dem Wasser ragte. Diesmal griff ich kräftig mit beiden Händen zu, um im selben Moment das Bündel entsetzt fallen zu lassen. Ich hatte die kalte Hand eines menschlichen Wesens gespürt. Mit klopfendem Herzen und vorsichtigen Blicken in alle Richtungen, öffnete ich das Bündel - und starrte auf die Leiche einer jungen Frau. Eine kalte Faust griff nach meinem Herzen und presste es zusammen. Schweiß trat mir auf die Stirn und mein Atem keuchte. Verstohlen schaute ich mich erneut ängstlich um. War außer mir jemand hier? Ich hörte nur das Rauschen der Bäume. Der Dunst versteckte die leisen Schmatzgeräusche des modrigen Bodens unter seinem unheimlichen Tuch. Ich war allein. Niemand war da.

Die Tote vor mir war blond, sie trug Jeans und einen roten Pullover. Ihre Haut wirkte gespenstisch aufgequollen, um ihren Hals lag ein Lederriemen, der deutliche Spuren auf der Haut hinterlassen hatte. Sicher war sie schon einige Tage tot. Während ich sie betrachtete, beruhigte sich mein Herzschlag und urplötzlich schob sich das Bild einer anderen Frau in mein Gedächtnis. Daraufhin schaute ich mir die Tote genauer an und erstarrte. Die Frau trug nur am linken Ohr einen Ohrring, ein Granat in Tropfenform, am rechten nicht. Verwirrt griff ich nach meinem Handy, doch meine Gedanken waren bei dem fehlenden Ohrring, und abrupt steckte ich das Handy in die Tasche, machte das Bündel wieder zu, richtete mich auf, fasste den Zweig, der die Leiche unter Wasser gehalten hatte, und stieß ihn samt seiner grausigen Fracht zurück in den Sumpf.

Sorgsam verwischte ich meine Fußspuren und achtete darauf, dass alles so war, wie ich es vorgefunden hatte, schlich zum Weg zurück und lief mit klopfendem Herzen und keuchendem Atem nach Hause.

Wenige Stunden später befand ich mich auf dem Weg nach Baden-Württemberg. Vor zwanzig Jahren hatte ich mehrere Jahre in Singen verbracht und fuhr regelmäßig mehrmals im Jahr dorthin. Das Häuschen hatte ich abgeschlossen und den Schlüssel meiner Schwägerin übergeben. Gerda war überrascht von meiner unvorhergesehenen Abreise und schaute kopfschüttelnd meinem roten BMW hinterher.

»Jetzt tickt sie ganz durch, deine Schwester. So Hals über Kopf abzuhauen!«

Hermann Landner lachte. »Du kennst sie ja. Sie ist immer für eine Überraschung gut!«

Es war in einem kleinen Ort nahe Heidelberg vor über zwanzig Jahren. Alfred und ich hatten ein Zimmer in einem Landgasthaus gemietet. Es waren große Ferien und am zweiten Abend unseres Aufenthalts kam Alfred mit einem Rosenstrauß und machte mir einen Heiratsantrag, den ich gern und sofort annahm. Der Verlobungsring war ein schlichter Goldreif mit einem kleinen eingefassten Granaten. Noch nie war ich so verliebt gewesen und so uneingeschränkt glücklich.

Wir kannten uns erst wenige Monate, doch mir kam es vor, als seien wir immer zusammen gewesen, so wohl fühlte ich mich in seiner Gegenwart. Er war etwa einen Kopf größer als ich, schlank und hatte stets ein Lächeln auf den Lippen. Seine braunen Augen nahmen manchmal einen etwas melancholischen Ausdruck an, was ihn in den Augen der Frauen besonders interessant machte. Es störte mich, dass er oftmals in Anwesenheit einer schönen Frau anzutreffen war. Natürlich bemerkte er meine Eifersucht, nahm mich in den Arm und flüsterte: »Du bist die einzige Frau, die mir wirklich etwas bedeutet.«

Das beruhigte mich ungemein und einige Wochen später machten wir unsere Verlobung offiziell. Eine große Feier in meinem Elternhaus mit Freunden und Bekannten führte Alfred in die Gesellschaft unseres Dorfes ein, aber es hätte solcher Unterstützung gar nicht gebraucht. Alfred Derfeld hatte sich durch sein liebenswürdiges und hilfsbereites Wesen in unserem Ort schnell Freunde gemacht. Er nahm sich ein Zimmer in der Nähe und gehörte bald einfach dazu. Die Hochzeitsvorbereitungen waren in vollem Gange, die Feier sollte Ende Oktober stattfinden. Wir sahen uns Wohnungen an und überlegten, ob wir eventuell ein Haus kaufen sollten, als Alfred plötzlich den Wunsch äußerte, für einige Tage dem ganzen Wirbel zu entfliehen. Ich ließ mich nur zu gern überreden und wir fuhren in den Herbstferien in das Hotel, in dem wir uns kennengelernt hatten. Diesmal hatte Alfred eines der zum Hotel gehörenden Wochenendhäuser gemietet.

Schon bei der Ankunft wirkte er abwesend und verschlossen. Ich schob es auf die bevorstehende Hochzeit. Am zweiten Tag erklärte er mir, er müsse dringend mit seinen Eltern reden und ließ mich allein am Urlaubsort zurück.

Seine Eltern waren trotz Einladung nicht zur Verlobung erschienen, Alfred gab berufliche Gründe dafür an. Ich hatte sie nie gesehen, auch sonst wusste ich nichts von seiner Familie, außer, dass sie in Heidelberg wohnten. Ich hätte sie gern kennengelernt, aber da er mich nicht mitnahm, schloss ich daraus, dass seine Eltern nicht mit mir einverstanden waren.

Die beiden Tage ohne ihn verbrachte ich mit Wandern und Bummeln. Als ich am zweiten Abend in das Häuschen zurückkam, war er noch immer nicht da. Ich ging ins Schlafzimmer, um mich umzuziehen und erstarrte vor Schreck. Eine blonde Frau lag voll bekleidet auf dem Bett, die Augen weit aufgerissen. Ein Tüllschal war wie einen Strang um ihren Hals gezogen, der tief ins Fleisch einschnitt.

Ich trat vorsichtig zu ihr und berührte sie an der Schläfe. Sie war tot! Ein gellender Schrei ertönte, so laut und schrill, dass ich erst Sekunden später registrierte, dass er aus meiner Kehle stammte. In Panik rannte ich hinaus und lief zum benachbarten Hotel hinüber. Es gab einen riesigen Tumult und in Windeseile hatte sich das Geschehen im ganzen Ort herumgesprochen.

 

Die Polizei riegelte den Fundort ab, löcherte mich mit Fragen und hielt mich stundenlang fest. Zum Glück hatten mich mehrere Menschen, kurz bevor ich das Wochenendhaus betrat, gesehen und man konnte mir keine Schuld an ihrem Tod nachweisen. Auch nach Alfred wurde ich befragt. Da er seit zwei Tagen fort war, kam er somit als Täter nicht in Betracht. Die Tote war nach Angaben der Polizei erdrosselt worden, wahrscheinlich mit dem Tüllschal, den ich an ihrem Hals gesehen hatte.

Die junge Frau hatte als Verkäuferin in einer Lotto-Annahmestelle gearbeitet und war überall im Ort bekannt. Wir hatten sie bei unserer Ankunft gesehen. Sie hatte Alfred mit ihren blauen Augen angehimmelt und mir war aufgefallen, dass sie zwei unterschiedliche Ohrringe trug, eine schlichte Creole am rechten Ohr und am linken eine kleine Kette mit einem Kreuz am unteren Ende, welches fast bis auf ihre Schulter baumelte. Als der Rechtsmediziner sie untersuchte, trug sie nur die Creole, die Kette mit dem Kreuz fehlte.

Ich durfte unter Aufsicht einer Polizistin meine Sachen zusammenpacken, worüber ich insgeheim froh war, denn ich hätte keine einzige Stunde mehr in diesem Holzhaus verbracht. Danach wurde das Häuschen von den Beamten versiegelt und mir wurde ein Zimmer im Hotel zugewiesen. Obwohl ich völlig erledigt war, tat ich die ganze Nacht kein Auge zu.

Am nächsten Tag wurde mir von den Kriminalbeamten eröffnet, dass man die Tat zu einer Serie von Wochenendmorden zählte. In den vergangenen Monaten hatte es in der näheren Umgebung bereits drei solcher Fälle gegeben und bisher fehlte jeglicher Hinweis auf den Täter.

Wäre wenigstens Alfred an meiner Seite gewesen, hätte ich das Ganze besser verarbeiten können, aber er kam weder in der Tatnacht noch in der darauffolgenden Nacht. Nachdem ich zwei Tage lang ohne jegliche Nachricht von ihm oder seinen Eltern geblieben war, reiste ich mit Einwilligung der Behörden ab.

Zu Hause entschuldigte ich Alfred damit, dass er für einige Zeit bei seinen Eltern unabkömmlich sei. Über den Mord in dem Ferienhaus sprach ich nicht. Ich grübelte darüber nach, wer wohl der Mörder war und warum Alfred ausgerechnet an diesem Tag nicht zurückgekommen war. Außerdem war mir schleierhaft, warum die Tür zum Häuschen abgeschlossen war. Die Polizeibeamten erklärten mir, dass in allen Mordfällen die Zimmertüren verschlossen gewesen waren. Der Mörder musste über einen ganzen Satz passender Schlüssel verfügen oder er war in der Lage, Schlösser zu öffnen ohne jegliche Spuren zu hinterlassen.

Ich war seit zwei Tagen zu Hause, als Alfred kam. Die Familie war gerade beim Abendessen, meine Mutter ging hinaus und begrüßte ihn herzlich. Liebenswürdig wie immer und ohne sich das Geringste anmerken zu lassen, kam er in die Küche, in der wir an dem großen Tisch saßen.

Mein Vater schob ihm freundlich einen Stuhl hin. »Setz dich zu uns, Alfred. Ist bei deinen Eltern alles in Ordnung?«

Alfred nickte lächelnd. »Danke, sie sind etwas im Stress, aber zur Hochzeit kommen sie auf jeden Fall.«

Er beugte sich zu mir hinunter, gab mir einen Kuss und setzte sich, während meine Mutter eilfertig einen weiteren Teller und Besteck holte.

Ich sah Alfred an und sprang auf. »Dass du dich überhaupt noch hertraust!«, zischte ich ihn an. »Mich einfach so allein zu lassen, ohne jegliche Nachricht!«

»Liebes, ich habe dir gesagt, ich fahre zu meinen Eltern!«

»Sicher hast du das gesagt!«, bemühte ich mich einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Du hast auch gesagt, du bist in zwei Tagen zurück, stattdessen bist du nicht gekommen. Gibt es bei deinen Eltern kein Telefon?«

»Elisabeth!« Mutter schüttelte tadelnd den Kopf.

»Ich erkläre es dir nachher, ja?!« Alfred lächelte mich bittend an und ich setzte mich schmollend wieder an den Tisch.

Nach dem Essen machten wir einen Spaziergang. Alfred erzählte von seinen Eltern und ihren geschäftlichen Schwierigkeiten und kam zum Schluss mit der Tatsache heraus, dass seine Eltern unmöglich der Hochzeit beiwohnen könnten.

»Was hat unsere Hochzeit mit geschäftlichen Schwierigkeiten zu tun? Deine Eltern müssen nichts bezahlen, ich möchte sie nur dabeihaben«, empörte ich mich.

Alfred hörte geduldig zu und beschwichtigte: »Wir reisen hin, sobald sie alles geregelt haben.«

Anfangs schmollte ich, ließ mich aber besänftigen, schließlich wollte ich Alfred und nicht seine Eltern heiraten. Dann berichtigte ich ihm von dem Mordfall im Hotel.

»Das tut mir leid, ich konnte nicht ahnen, dass so etwas passiert!« Er nahm mich in die Arme und küsste mich und endlich, nach Tagen des Zorns, fühlte ich mich getröstet und beruhigte mich langsam. Mit Alfred sprach ich nicht mehr über seine Eltern, denn ich hatte gespürt, wie sehr es ihn bedrückte, dass sie nicht kommen konnten.

Drei Tage später war er für seine Firma unterwegs nach Norddeutschland und ich machte mich auf den Weg nach Heidelberg.

Ich wusste nur den Straßennamen, doch Alfred hatte von einem großen Haus mit Garten erzählt, von einem Dienstmädchen und einer Köchin; da würde es sicher kein Problem sein, seine Eltern zu finden. Mit klopfendem Herzen ging ich die Straße entlang. Es war eine vornehme Villengegend mit imposanten Häusern.

War ich seinen Eltern nicht gut genug? Oder hatte sich Alfred geschämt, mich ihnen vorzustellen? Ich kam mir klein und schäbig vor angesichts des Reichtums in dieser Straße, obwohl der Bauernhof meiner Eltern durchaus nicht armselig zu nennen war.

Aufmerksam betrachtete ich die Klingelanlagen an den Toren, fand aber nirgends den Namen Derfeld, da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein Postbote fuhr von Haus zu Haus, ich ging auf ihn zu und fragte ihn.

»Derfeld? Nein, in dieser Straße gibt es niemanden, der so heißt.«

»Es muss hier sein!«, beteuerte ich.

Der Postler schüttelte den Kopf. »In dieser ganzen Siedlung gibt es einen derartigen Namen nicht, da bin ganz sicher! Sie müssen sich irren.« Er hob seine Hand zum Gruß an die Mütze und fuhr davon.

Anfangs war ich ratlos, dann ging ich zum Einwohnermeldeamt und erkundigte mich dort. Auf dem Amt kannte man nur den Namen Alfred Derfeld. Die Anschrift gab man mir nicht, aber ich forschte im Telefonbuch und wurde fündig. Seine Wohnung war in einem Hochhaus im dritten Stock. Ich fuhr zu dieser Adresse, hastete die Stufen hinauf und klingelte. Nach mehrmaligen Versuchen öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Eine alte Dame mit Lockenwicklern auf dem Kopf und einem geblümten Kittel sprach mich an: »Herr Derfeld ist nicht da. Ist beruflich unterwegs.«

»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«, hakte ich nach.

Die Alte wiegte bedächtig den Kopf hin und her. »Er war erst letzte Woche ein paar Tage da. Soll ich ihm etwas bestellen?«

Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und fuhr davon. Auf dem Weg nach Hause zermarterte ich mir das Hirn, warum er mir so viele Lügen aufgetischt hatte. Kam noch etwas dazu? Waren Stellung und Beruf ebenfalls erfunden? Ich kam mir ausgenommen und verraten vor. Ich wusste nichts von ihm, außer dem, was er mir erzählt hatte. Wo war er in der Zeit, als der Mord im Wochenendhaus geschah? In seiner Wohnung, wie es die Nachbarin gesagt hatte? Vielleicht mit einer anderen Frau? Oder hatte er etwas mit dem Mord zu tun? Die ganze Fahrt über grübelte ich. Zu Hause sprach ich allerdings mit niemandem darüber.

Eine Woche später kam Alfred zurück, gut gelaunt und liebenswürdig wie eh und je. Er hatte in den letzten Wochen immer unser Gästezimmer benutzt und war gerade auf dem Weg dorthin.

Ich ging ihm entgegen und zischte: »Du kannst deine Sachen packen! Wir sind geschiedene Leute!«

Ungläubig starrte er mich an. »Was soll das heißen? Kannst du mir das zumindest erklären?«

»Hauptstraße 97, dritter Stock«, fauchte ich ihn an.

Er wurde blass und stotterte: »Du weißt…?«

Ich nickte. »Lügner sind in diesem Haus nicht willkommen. Pack deine Sachen und lass dich hier niemals mehr blicken!«

Ich hatte mir vorgenommen, ruhig zu bleiben, stattdessen hörte ich meine eigene keifende Stimme im Haus widerhallen und augenblicklich öffnete sich die Küchentür und meine Schwägerin stand mit aufgerissenen Augen im Türrahmen.

»Was ist denn hier los?«, ging sie dazwischen.

Ich wurde rot vor Wut, ohne dass ich es wollte, klatschte meine Hand auf seine Wange und hinterließ dort deutliche Spuren, dann drehte ich mich auf dem Absatz um und lief mit wehendem Rock und tränenüberströmtem Gesicht davon.

Alfred Derfeld stand einen Moment verdutzt da, schüttelte sich, ging in das Gästezimmer, packte seine Sachen und verschwand vom Hof. Gerda wollte ihn zurückhalten, aber er eilte stumm an ihr vorbei, stieg in seinen Wagen und wurde nie wieder in unserer Gegend gesehen.

Ohne Kommentar ertrug ich die Empörung meiner Familie über mein unmögliches Benehmen und die Frage nach den Gründen unseres Streites. Niemandem verriet ich, was vorgefallen war. Ich verschloss mich jeder Frage und Anteilnahme, bewarb mich um eine Stelle in Süddeutschland und ließ mich für Jahre nach Singen am Hohentwiel versetzen, woraus dann zehn Jahre wurden, bis ich nach Ostwestfalen zurückkam. Danach arbeitete ich bis zu meiner Frühpensionierung am Gymnasium der Kreisstadt.

Von Singen aus forschte ich allerdings gründlich nach der Familie Derfeld. Viel kam nicht dabei heraus, außer dass die Derfelds einst relativ wohlhabend waren. Jahre bevor ich Alfred kennenlernte, gerieten sie in eine finanzielle Krise und verloren Haus und Firma. Alfreds Vater nahm sich das Leben, kurze Zeit später ebenfalls die Mutter. Nach seinem zwölften Lebensjahr wurde Alfred in einem Heim untergebracht, danach verlor sich jede Spur von ihm. Erst bei der Anmeldung in seiner Wohnung in Heidelberg tauchte der Name wieder auf. Ob er Geschwister oder andere Verwandte hatte, erfuhr ich nicht.