Buch lesen: «Der Geruch von Heu»

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Die italienische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel L´odore del fieno bei Arnoldo Mondadori Editore in Mailand, die erste deutsche Ausgabe 1974 im Piper Verlag in München. Die Übersetzung wurde nach der Ausgabe der 1998 bei Arnoldo Mondadori in Mailand von Roberto Cotroneo herausgegebenen Opere durchgesehen.

Diese Ausgabe wird in freundlicher Zusammenarbeit mit der Fondazione Giorgio Bassani veröffentlicht.

Die * beziehen sich auf die Anmerkungen des Verlags ab Seite 107.


E-Book-Ausgabe 2020

© 1972 Arnoldo Mondadori Editore S.p.A.

© 2009 für diese Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August.

Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 978 3 8031 4301 3

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2613 9

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Zwei Märchen

1

Vor vielen, vielen Jahren, als ich noch ein Kind war, lebte in Ferrara eine jüdische Signorina; sie war nicht häßlich und auch nicht arm, weder dumm noch stand sie bereits in reiferem Alter; und wenn sie vielleicht nicht besonders begehrenswert war, so doch gewiß auch nicht zu verachten. Und doch, so seltsam das scheinen mag, war es der Familie noch nicht gelungen, für die junge Dame einen Mann zu finden. Seltsam? Ja, doch, durchaus. In unserer Gemeinde war ein solcher Fall damals etwas ganz Ungewöhnliches. Da ließ man im allgemeinen die Verbindungen von Sippe und Verwandtschaft spielen; aber auch die Versammlungen vom Verband jüdischer Frauen Italiens konnten hilfreich sein, ebenso wie die Bälle, die zur Zeit des Purim-Festes in den Nebenräumen des Tempels in der Via Mazzini oder im Empfangssaal des israelitischen Kindergartens in der Via Vignatagliata stattfanden: Veranstaltungen, bei denen die Matronen in dichten Reihen als Mauerblümchen an der Wand saßen und miteinander flüsterten; war es ein schwieriger Fall, bat man den Rabbiner, Dr. Castelfranco, sich brieflich an seine Kollegen in den Nachbarstädten in der Emilia, der Romagna oder in Venetien zu wenden. Jedenfalls, so oder so, im passenden Augenblick kam das Thema regelmäßig zur Sprache. Man brauchte nie den Mut zu verlieren. Wenn schon auf dem heimischen Markt kein Mann aufzutreiben war, bitte, dann kam aus der Ferne Lohengrin: zu sehen und sich zu zeigen, und fast immer das Geschäft zum Abschluß zu bringen.

1934 war Egle Levi-Minzi dreiunddreißig Jahre alt. Warum sie unverheiratet geblieben war, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Sie war die einzige Tochter schon bejahrter, ziemlich wohlhabender Eltern, mit denen sie zusammenlebte. Zusammen sah man sie auch regelmäßig zu bestimmten Stunden des Morgens und des Nachmittags auf den Straßen der Innenstadt; sie bildeten ein Trio, das nahezu unzertrennlich war; es war in der ganzen Stadt so bekannt, daß es fast sprichwörtlich geworden war. Was ich weiß, ist nur soviel, daß, als ihre Eltern anfingen, sich nach einem möglichen Schwiegersohn umzusehen, der größte Widerstand immer von ihr, der Hauptinteressierten, gekommen war. Zu ihrer ablehnenden Haltung trugen wahrscheinlich auch etwas ihre jungfräulich-töchterlichen Gefühle bei, ihre etwas übertriebene Anhänglichkeit an ihre alten Eltern. Aber vielleicht wirkte dabei auch ein geheimer Einfluß mit, der auf Bilder oder Ereignisse ihrer frühesten Jugend zurückging – man bedenke, es war die Zeit des berüchtigten Squadrismo, der ersten faschistischen Kampfbünde, eine Zeit, die in so mancher Hinsicht der unsrigen ähnelt –, irgendein Bild also, das sie noch in späteren Jahren daran hindern sollte, sich einem anderen Typ von Männlichkeit zuzuwenden … Wie dem auch sei, soviel ist sicher: sobald Egle Levi-Minzi sich vor eine Entscheidung gestellt sah, hieß es bei dem einen ›unmöglich‹, bei dem andern ›ausgeschlossen‹, bei diesem ›um Himmelswillen!‹ und bei jenem ›nun bitt’ ich euch aber!‹ Sie verzog den großen melancholischen Mund mit den ein wenig herabgezogenen Winkeln, senkte mit gelangweilter Miene leicht die Lider mit den spärlichen Wimpern über ihre traurigen, feuchten braunen Augen von sephardischem Schnitt – und wieder verlängerte ein neuer Name die immer stattlicher werdende Liste der abgewiesenen Bewerber.

Ganz anders war die Aufnahme, die sie etwa Mitte 1935 – ich glaube, es war der Juni – einem Bewerber bereitete, der von sehr viel weiter herkam als nur aus Bologna, Ravenna, Mantua, Rovigo, Padua oder Venedig. Er war Russe, Ukrainer, genau gesagt. Auch er einziges Kind nicht mehr junger Eltern und siebenundzwanzig Jahre alt. Er hieß Juri – Juri Rotstein.

Die kleine Familie war im Sommer des vorangegangenen Jahres aus Odessa nach Ferrara gekommen. Sie kamen mit dem Zug aus Triest und hatten sich, so gut es ging, in einem kleinen Hotel gegenüber dem Bahnhof einquartiert. Aber noch vor Yom Kippur, also bevor der Oktober zu Ende ging, hatten sie (natürlich gratis) eine Wohnung in der Via Vittoria, die seit altersher der israelitischen Gemeinde gehörte. Sie hatten um Asyl gebeten, und man hatte es ihnen gewährt. Der Vater hatte zudem, auf Grund seiner Vertrautheit mit dem Kult und seiner vollkommenen Beherrschung des Hebräischen in Wort und Schrift, gewisse kultische Obliegenheiten übernommen. Er wirkte als Assistent und gelegentlich auch als Stellvertreter bei den Zeremonien vom Sabbat-Beginn, bei den Bestattungsriten und bei der rituellen Schächtung von Tieren. Kurz, im Laufe weniger Monate hatten sie sich bereits eingelebt. Ihr Italienisch kam ihnen langsam von den Lippen, und es hatte zuweilen einen merkwürdig tiefen, fremdartigen Klang; ihre Wortwahl hatte, zugegeben, etwas Approximatives, war aber nichtsdestoweniger von überraschender Ausdruckskraft. Als sie sich das erstemal bei der Gemeinde gemeldet hatten, da hatte der Vater, der auch für die beiden andern sprach, Erez, das gelobte Land, und Amerika erwähnt …

Vater und Sohn ähnelten sich. Beide waren groß, entschieden größer, als die Besucher der ›deutschen Schule‹, der Synagoge des deutschen Ritus, es im Durchschnitt waren; sie hatten Gesichter vom gleichen Typus: lang, hager, mit vorstehenden Backenknochen und die gleichen kleinen blauen Augen, schräggestellte Muschikaugen. Die Mutter dagegen war klein, dick und rundlich – eine Art Magd oder Bäuerin, mit einem gewaltigen weißen Kopftuch, das unter dem Kinn geknüpft war. Aber was auf die Besucher der Synagoge den stärksten Eindruck machte – und zwar sowohl in dem den Männern vorbehaltenen Saal unten als auch oben, im Matroneum –, das war die unleugbare Würde der drei, war die rührende Unbefangenheit, mit der sie sich, bei einigen Gegendiensten ihrerseits, als Gast verstanden. Es war nicht so, als ob sie sagen wollten: ›Im Grunde sind wir alle gleich, Glaubensgenossen und Söhne eines Volkes; also ist dieses Haus auch unser Haus.‹ Keineswegs! Allein ihr Verhalten im Tempel – schweigsam alle drei, gesetzt und ohne mit besonders zur Schau gestellten aschkenasischen Eigentümlichkeiten Anstoß zu erregen (zwar hielt der Vater fest am Kaftan und trug nach wie vor sein schütteres blondes Bärtchen ebenso wie die frommen Löckchen, die unter dem runden Hut um die Ohren herum hervorschauten, und die Mutter blieb bei ihrem bäuerlichen Kopftuch, doch der Sohn, im grauen Anzug, trug sich korrekt nach westlichem Vorbild) – allein ihr Verhalten im Tempel schien einzig von der Sorge bestimmt zu sein, die Versammlung davon zu überzeugen, daß es ihre feste Absicht sei, sobald wie möglich weiterzureisen. Sie baten nur darum, ein kleines Weilchen bleiben zu dürfen, gerade nur etwas Zeit, um Atem zu schöpfen. Da mochten wir ganz ruhig sein: nachdem sie sich ausgeruht hatten, wollten sie sofort die Reise in die weite Welt wiederaufnehmen.

Die Reise in die weite Welt, sie traten sie nicht mehr an. Und so kann man auch ihre Namen auf der großen Gedenktafel lesen, die an der Mauer des israelitischen Tempels in der Via Mazzini angebracht ist und die die Namen von einhundertdreiundachtzig Juden aus Ferrara enthält, die im Winter 1943–44 nach Deutschland deportiert worden waren.

Und doch war, wenn man alles in Betracht zog, ihre Wanderung vom Osten in den Westen nicht vergeblich gewesen. Egle Levi-Minzi hatte ein Kind bekommen, einen Sohn, dessen stummen Ruf sie, wenn man so sagen kann, an einem fernen Samstagabend Ende Mai, als sie durch das Gitter des Matroneums der deutschen Synagoge nach unten schaute, in den großen langen Saal, in dem dicht gedrängt die Männer saßen, plötzlich vernommen hatte.

Es war die Sache eines Augenblicks, eine Entscheidung von wenigen Sekunden.

Alle Männer sahen geradeaus und blickten auf den Oberrabbiner Dr. Castelfranco; sie warteten darauf, ihn das feierliche Schlußgebet, das Beracha, anstimmen zu hören. Nur einer von ihnen, der junge, erst vor kurzem ins Land gekommene Ukrainer, hatte sich umgedreht. Er sah nach oben, zum Matroneum hinauf, und zwinkerte mit seinen wilden, lachenden, herrlichen blauen Augen. Warum nicht ein Kind von ihm, mußte Egle Levi-Minzi plötzlich denken, und ihr war, als erwache sie jäh aus einer langen Betäubung. Natürlich war ihr klar, daß der junge Mann nicht zu ihr hinaufgegrüßt hatte, sondern zu seiner Mutter, der alten Bäuerin, die neben ihr saß. Aber warum konnte sie nicht einmal so tun, als habe sie sich getäuscht, und auf sein Lächeln, seinen grüßenden Blick, mit etwas Ähnlichem antworten? Gewiß, er war arm und ein Ausländer. Jung, um etliche Jahre jünger als sie, fast noch ein Junge. Aber arm. Ohne eigenes Haus. Heimatlos. Die Eltern könnten wohl bleiben, wo sie waren, in der Wohnung in der Via Vittoria, wo die Gemeinde sie untergebracht hatte. Der Junge dagegen … Es war der Mühe wert, einen Versuch zu machen. Der Mühe wert, ihn zu versuchen.

Sie hatte gelächelt. Hatte mit einer Handbewegung gegrüßt.

Nach einem Augenblick des Zögerns legte der junge Mann zwei Finger an die Hutkrempe und deutete eine Verbeugung an.

Doch, am Ende hatte es die Mühe gelohnt. Das Kind, das Egle Levi-Minzi geboren hatte, war ein Prachtkerl, lebhaft, intelligent, voller Übermut. Es erschien uns, den wenigen von uns, die die Lager und alles übrige überlebt und sich 1945 in der ›italienischen Synagoge‹ wieder eingefunden hatten – nun nicht mehr nach Frauen und Männern und Schulen getrennt –, als die wahre Personifizierung des Lebens mit seinem ewigen Wechsel von Ende und Neubeginn.

Er heißt Juri, Juri Rotstein. Er ist groß, mager, knochig, mit schräggestellten, blitzenden blauen Augen über vorstehenden Backenknochen, und er lebt noch heute bei seiner Mutter, allein mit ihr und für immer, in ihrem großen Haus in Ferrara.

2

Erinnern Sie sich an das Hotel Tripolis, dieses kleine Ferrareser Hotel letzter Kategorie (und von fragwürdigem Ruf), das sich vor dem Krieg in nächster Nähe vom Kastell der Este befand, genau gesagt, auf dem großen Platz gleich dahinter? Es ist dasselbe Hotel, von dem ich schon bei anderer Gelegenheit gesprochen habe. Also gut, dann stellen Sie es sich in einer Dezembernacht vor, vor vierzig Jahren vielleicht, mit anderen Worten in der schlimmsten Epoche des Faschismus, zu später Stunde, ein paar Minuten, bevor geschlossen wurde.

Unten, in der Halle, hatte man das Licht schon ausgemacht, als plötzlich im Hintergrund die Tür mit den Milchglasscheiben aufging und ein Windstoß die feuchte Luft in den leeren Saal jagte, bis zur Rezeption, wo der Nachtportier saß. Ein Mann trat langsam aus der Dunkelheit hervor und kam auf den Portier zu.

Er bewegte sich schwerfällig, weil er einen großen Koffer trug. Er hatte den Mantelkragen hochgeklappt und die Hutkrempe tief ins Gesicht gezogen, so daß man die Augen nicht sah.

Wer mochte das sein, überlegte der Portier. Ein Handelsreisender?

»Ich möchte ein Zimmer haben«, sagte der Mann ruhig.

»Damit fürchte ich Ihnen nicht dienen zu können«, sagte der Portier.

Er schlug das vor ihm liegende Register auf, in das er nur flüchtig hineinsah, um alsbald eine Grimasse zu schneiden.

»Sie werden verstehen«, sagte er, den Kopf wieder erhebend, »um diese Stunde haben wir das ganze Haus besetzt. Noch dazu so kurz vor Weihnachten …«

Er suchte den Blick des andern, konnte aber die unter der Krempe des schmierigen Schlapphuts verborgenen Augen nicht sehen. Er sah nur den unteren Teil des Gesichts, das stoppelige Kinn und die unrasierten Wangen.

»Bitte, schicken Sie mich nicht wieder weg«, sagte der Mann mit leiser Stimme. Er sprach mit spürbar südlichem Akzent. Kalabrien, vielleicht Sizilien, wer kannte sich da aus.

»Allmächtiger Gott!« seufzte er und beugte sich dabei unmerklich vor. »Ich bin so müde … Ist es denn möglich, daß Sie nichts frei haben? Es genügt mir, wenn ich nur ein paar Stunden bleiben kann. Ich fahre morgen früh mit dem Neun-Uhr-Zug.«

Der Portier schwankte. Er neigte von neuem seinen wohlfrisierten Kopf über das Register. »Ich könnte Ihnen nur ein Doppelzimmer geben«, sagte er schließlich. »Es ist das einzige noch freie Zimmer. Ich mache Sie jedoch darauf aufmerksam, daß Sie desungeachtet den vollen Preis zahlen müssen.«

›Desungeachtet‹ hatte er gesagt, nicht ohne ein gewisses Vergnügen, das er immer empfand, wenn sich die Gelegenheit bot, sich von dem Besitzer des Hotels, Signor Müller, vorteilhaft abzuheben durch sein feineres, gebildeteres Wesen – diesem Müller mit seinem ewigen Zahnstocher zwischen den Goldzähnen und seinen vulgären Manieren. Er war überzeugt, daß der Handelsreisende nun nicht länger auf einem Zimmer bestehen würde, vielmehr kehrtmachte und ging.

Aber da hatte er sich getäuscht.

Er sah, daß der Mann die Hand hob und seinen Hut nach hinten schob, so daß die kahle Stirn sichtbar wurde. Er lächelte.

»Das ist nicht mehr als recht«, sagte er.

»Danke.« Er spitzte die Lippen wie zu einem stummen Pfiff. Und mit einem Augenzwinkern sagte er:

»Der Personalausweis.«

Er hatte schon die rechte Hand in die linke Innentasche seines Mantels gesteckt und behutsam nach dem Ausweis getastet. Er schien mit sich zufrieden zu sein.

Der Portier drückte auf einen Knopf.

Alsbald erschien schlurfend der Hausdiener, ein alter Mann. Er wartete, bis der Portier dem Gast den Personalausweis zurückgab und ihm den Schlüssel zu dem Doppelzimmer im dritten Stock reichte. Darauf bückte er sich, packte den Koffer am Griff und ging, ein wenig schwankend, auf die Treppe zu, ohne darauf zu achten, ob ihm der Gast auch folgte.

»Gute Nacht, Signor Buda«, sagte der Portier. Der Mann hatte sich schon ein paar Schritte entfernt.

»Gute Nacht«, erwiderte er.

Er wandte sich nicht um, sondern beschränkte sich darauf, zwei Finger an die Hutkrempe zu legen.

»Wünschen Sie, geweckt zu werden?«

»Danke, das ist nicht nötig.«

»Gute Nacht, Signore.«

»Gute Nacht.«

Es war ein niedriges, doch geräumiges Zimmer. Die Tür in einer Ecke, daneben die Zentralheizung; Feuchtigkeitsflecken an den Wänden; ein paar strohfarbene Möbel, ein Kleiderschrank, eine Kommode. Neben dem Fenster – ohne Gardinen, mit geschlossenen Läden – das Waschbecken; darüber ein kleiner Spiegel. Über dem Spiegel eine viereckige Deckenleuchte aus Mattglas, fast bis zur Hälfte voller Staub und Ablagerungen, die ein rötliches Licht wie in dem Saal eines Krankenhauses verbreitete. Die beiden Betten standen nebeneinander und wirkten so wie ein großes Ehebett. Sobald er allein war, stieß Signor Buda einen leisen Pfiff aus – diesmal durchaus hörbar. Er sah sich um. Die Spiegeltüren des Kleiderschranks warfen ein schräges Bild des Zimmers zurück, mit ihm in der Mitte, den großen Vulkanfiberkoffer neben sich.

Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Das Leben ist ein Traum«, sagte er leise vor sich hin.

Er blieb noch einen Augenblick so stehen, regungslos, mitten im Zimmer. Dann schüttelte er die Erstarrung ab. Er legte Hut und Mantel ab und hängte sie an den Haken, der in die Tür geschlagen war. Darauf trat er ans Waschbecken, ließ das Wasser laufen und beugte sich darüber, um sich das Gesicht zu waschen.

Das Leben ist ein Traum, dachte er. Wann hatte er eigentlich einen solchen Satz einmal gehört oder gelesen? Und warum war er ihm gerade jetzt eingefallen?

Er richtete sich wieder auf und tastete nach dem Handtuch, trocknete sich das Gesicht ab und näherte sich dem Bett. Während das eiskalte Wasser mit monoton-klagendem Geräusch weiter aus der Leitung lief, zog er sich rasch aus. Dann warf er den Koffer aufs Bett, entnahm ihm sein Rasierzeug und kehrte an das Waschbecken zurück, um sich den Bart einzuseifen.

Signor Buda schlief und träumte. Er träumte zu schlafen …

Er träumte, daß er drei, höchstens vier Stunden traumlos geschlafen habe. Und daß er schließlich (bam bam bam bam bam bam: sechsmal hatte langsam hintereinander die große Uhr auf dem Platz geschlagen) aufgewacht sei.

Als er die Augen öffnete, lag er noch immer ausgestreckt auf dem Rücken, in derselben Stellung, in der er sich schlafen gelegt hatte. Ein scharfer Geruch, zugleich herb und süßlich (unverwechselbar!), erfüllte das Zimmer. So war es also Zeit, sagte er sich, während er an dem über seinem Kopf hängenden birnenförmigen Griff zog, um Licht zu machen – Zeit aufzubrechen, zu verduften. Auch deswegen. Doch vor allem, in jedem Fall …

Er setzte sich aufrecht, schob die Decken zurück, warf die Beine aus dem Bett und schritt, ohne zu zögern, barfuß auf den Schrank zu.

Er öffnete ihn. Und beim Anblick der Leiche, seiner Leiche, war er nicht etwa verwundert, sondern nickte nur zustimmend mit dem Kopf. Gut. Ausgezeichnet. Ganz nackt, das weiße Zahnfleisch entblößt, verwandelt in diese Marionette – und er wußte ja, daß alles so sein mußte: so kauerte er dort, die längliche, von Bartstoppeln schwarze Wange auf die angezogenen Knie gestützt.

Nachdem er den Schrank mit ungewöhnlich langsamen Bewegungen wieder geschlossen hatte (nur um nicht den Faden seiner Gedanken abreißen zu lassen, nur deshalb, selbstverständlich), fand er sich draußen wieder, im Freien, und wußte selbst nicht mehr, wie er aus dem Hotel herausgekommen war. Die Luft war beißend kalt. Auf der großen, in die Stadt führenden Allee, über der gerade ein kaltes Licht aufging, war keine lebende Seele zu sehen, vom Kastell an bis hin zur alten Zollschranke. Die gleiche Leere auch da unten, als er um die Ecke bog. Am Ende der langen Straße, die er noch zu gehen hatte, tauchte das Bahnhofsgebäude auf: grau, klein, niedrig und doch in vollkommener Klarheit sichtbar.

Er schritt rasch aus, wobei er den Blick starr auf das Bahnhofsgebäude gerichtet hielt, das allmählich größer erschien. Und gerade in dem Augenblick, als er den Bahnhofsplatz erreichte, fielen ihm zwei Dinge ein: erstens, daß er im Hotel Tripolis den großen Vulkanfiberkoffer hatte stehenlassen mit allem, was er enthielt, der Einlage mit den Mustern und, obenauf, seinen persönlichen Dingen, und darunter den verbotenen Druckschriften; zweitens, daß er die Rechnung nicht bezahlt hatte. Er blieb stehen, weniger verlegen als unentschlossen. Aber als er im selben Augenblick das Schnauben einer unsichtbaren Lokomotive hörte, die auf den Gleisen rangierte, so nahe, daß er glaubte, sie sei nur noch ein paar Meter von ihm entfernt, und als er begriff, daß es, von allem anderen abgesehen, bereits zu spät war, um noch einmal umzukehren, da zögerte er nicht länger und ging weiter.

Um so mehr, als es ja nur ein Traum war, sagte er bei sich und lächelte; ein bitterer Trost. Daß er träumte, wußte er im Traum: ein Traum im Traum.

Weitere Nachrichten über Bruno Lattes

1

Der israelitische Friedhof von Ferrara, ganz von einer alten, etwa drei Meter hohen Mauer umgeben, ist eine weite grasbewachsene Fläche, ja, so weit, daß die Grabsteine, die in einzelnen, weit voneinander entfernten Gruppen stehen, im ganzen als sehr viel geringer an Zahl erscheinen, als sie es tatsächlich sind. Im Osten verläuft die Friedhofsmauer dicht neben den alten Bastionen der Stadt, die heute noch dicht bestanden sind von großen Bäumen: Linden, Ulmen, Kastanien, sogar Eichen, die in doppelter Reihe auf dem Erdwall stehen. Zumindest auf dieser Seite hat der Krieg die schönen alten Bäume verschont. Den roten Turm aus dem sechzehnten Jahrhundert, der noch vor ungefähr dreißig Jahren als Pulverturm diente, kann man, halb versteckt hinter den großen grünen Kuppeln, mehr ahnen als sehen.

In den Sommermonaten wuchs das Gras auf unserem Friedhof immer mit wilder Üppigkeit. Wie es heute geregelt ist, weiß ich nicht, aber wenigstens bis 1938 – bis zur Einführung der Rassengesetze, meine ich – pflegte die jüdische Gemeinde das Mähen des Grases einem landwirtschaftlichen Betrieb aus der Provinz zu übertragen, einer Firma aus Quartesana, Gambulaga, Ambrogio oder sonst einem Ort da unten. Im Halbkreis gingen die Schnitter langsam vorwärts, während sie im gleichen Rhythmus die Sicheln bewegten. Ab und zu brachen sie in gutturale Rufe aus; und wenn die Wachen am nahen Pulverturm die fernen Stimmen hörten, die sich im Dunst der Hundstage verloren (das Schilderhaus, vor dem sie, das Gewehr über der Schulter, standen, das Gesicht zum Friedhof gekehrt, leuchtete dort oben weiß vor einem jahrhundertealten schwarzen Stamm), mußten sie ihre Unfreiheit noch stärker empfinden, noch heftiger ihr Heimweh nach einem Leben ohne Zwang. Am Nachmittag um fünf hörten die Männer auf zu mähen. Bis obenhin mit Heu beladen verließen die Wagen mit ihrer schwankenden Last, von einem Ochsenpaar gezogen, nacheinander den Friedhof. Sie fuhren durch die Via delle Vigne, wo zu dieser Stunde die Menschen, die dort wohnten, fast alle vor ihren ärmlichen Häusern saßen, niedrigen, nur aus einem Stockwerk bestehenden Behausungen. Es waren Pensionisten in Hemdsärmeln darunter, mit der Pfeife oder der Toscana-Zigarre im Mund, doch in der Mehrzahl Frauen, alte, bebrillte Frauen, die ihre Wäsche flickten oder Gemüse putzten. Die Straße war eng, auch damals schon nicht breiter als ein Feldweg. Und wenn es der Zufall wollte, daß gerade hier aus der Gegenrichtung, von der Stadtmitte her, ein Leichenzug sich näherte – nun, dann war Geduld geboten. Der Leichenzug mußte zurückstehen und unten, an der verkehrsreichen Kreuzung des Corso di Porta Mare warten: fünf Minuten, zehn Minuten, ja manchmal eine Viertelstunde …

Sobald der Leichenwagen die Schwelle des großen Friedhofstors überquert hatte – wobei es einen sanften Ruck gab –, wirkte sich ein kräftiger Geruch von frischem Heu belebend auf den von der Hitze erschöpften Trauerzug aus. Was für eine Wohltat! Und dieser Frieden! Sofort trat eine allgemeine, fast fröhliche Bewegung ein. Einige der Teilnehmer zerstreuten sich bereits zwischen den Gräbern in der Nähe des Eingangs. Die meisten aber ließen den Leichenwagen, der inzwischen gehalten hatte und von dem die Totengräber jetzt die Kränze herunternahmen, hinter sich – den Wagen sowie die geschlossene Gruppe der nächsten Angehörigen und Anverwandten, die dort auf die Bahre warteten – und gingen einzeln, rüstig ausschreitend, auf die noch weit entfernte Begräbnisstätte zu.

Nur das beharrliche Drängen seines Vaters (›Der Krebs kennt kein Erbarmen!‹ hatte er unter anderem, mit dem üblichen warnenden und erpresserischen Ausdruck gesagt) hatte Bruno Lattes dazu vermocht, an dem Begräbnis seines Onkels Celio teilzunehmen. Er hatte sich gefügt – natürlich nur, um nicht mit seinem Vater zu streiten. Er war sogar – und er selbst war am meisten davon überrascht – eine ganze Weile sehr brav gewesen. Nicht nur während des ganzen Weges von der Via Voltapaletto bis zum Friedhof, sondern auch danach, inmitten der kleinen Menge von Verwandten und nächsten Vertrauten, die hoch über ihren Köpfen den Sarg von West nach Ost quer über den ganzen Friedhof getragen hatten, auch danach hatte er sich mehr als gut betragen, immer lieb und artig und ganz friedlich.

Aber in einem bestimmten Augenblick hatte er alle Bravheit abgeschüttelt. Als die Totengräber sich anschickten, den Sarg in das Grab hinabzulassen, und sein Blick zufällig dem verwirrten Blick seines Vaters begegnete, da fühlte er wieder den gewohnten dumpfen Zorn in sich aufsteigen.

Was hatte er denn mit ihnen gemein – so fragte er sich wieder einmal –, mit seinem Vater und dessen Verwandten und Anverwandten? Er, Bruno, war groß, hager, von dunklem Teint und dunkelhaarig, während sein Vater und hinter ihm die endlose Reihe der Camaioli, Bonfiglioli, Hanau, Josz, Ottolenghi, Minerbi, Bassani und so weiter, die alle zusammen die ›Sippe der Lattes‹ ausmachten, vorwiegend klein und untersetzt waren und blaue Augen hatten, von einem hellen, verwaschenen Blau (oder auch schwarz, aber dann von einem stumpfen, glanzlosen Schwarz). Außerdem war ihnen eine unverwechselbare Form des Kinns eigentümlich: weich und rund. Und in geistiger Hinsicht? Nun, auch charakterlich bestand, Gott sei Dank, auch nicht die mindeste Ähnlichkeit zwischen ihnen und ihm. Er neigte nicht zu besonderer Erregbarkeit, hatte nichts Labiles und Krankhaftes an sich – nichts von diesen so typisch jüdischen Eigenschaften. Was seinen Charakter betraf, so glich er – wenigstens sah er es so – viel mehr dem seiner vielen katholischen Freunde: aufrecht und offen. Nicht umsonst hieß die Familie seiner Mutter, die katholisch, erzkatholisch war, Marchi! Was endlich den Krebs anging, den sein Vater, seitdem im Jahre 1924 der Großvater Benedetto nach fast zwei Jahren unsäglicher Leiden an einem Magentumor gestorben war, durchaus zur Familienkrankheit erklären wollte (aber nicht bei Onkel Celio jedenfalls, man solle ihm keinen Unsinn erzählen; Onkel Celio war an einer Nephritis gestorben, an der er seit langem litt; folglich konnte hier nun einmal vom Krebs überhaupt nicht die Rede sein …), was also den Krebs anging, so sollte er ruhig kommen, wann es ihm paßte, wenn er denn durchaus kommen wollte! Nur zu! Bitte es sich bequem zu machen! Er für seinen Teil hatte sich schon lange vorgenommen, auch unter diesen Umständen sich so zu verhalten, wie es seine Mutter getan hätte, die immer fröhlich war, die Arme, und stets so einfach und natürlich. Durfte denn der Krebs zu einem täglichen Problem werden, zum beherrschenden Gedanken, den man Jahre hindurch in seinem Herzen zwischen Angst und Freude hegte und hätschelte? Einfach widerlich! Diese Macht würde er dem Krebs niemals einräumen. Nie und nimmer.

Der Sarg ruhte jetzt auf dem ausgeschachteten Grund. Die Träger hatten die Seile herausgezogen, und der Rabbiner Dr. Castelfranco sprach bereits mit nasal psalmodierender Stimme die Totengebete.

Und da erklang plötzlich ganz nahe das Spiel einer Ziehharmonika.

Bruno sah nach oben.

Aber wegen der Mauer, die den Friedhof von der Bastion trennte, vermochte er den Spieler der Ziehharmonika nicht zu entdecken. Er sah da oben nur einen Soldaten vor einem Schilderhaus – ein Posten, natürlich, der das Munitionsdepot bewachte –, der den Kopf vorstreckte – man sah sein schweißbedecktes Gesicht – und zum Takt der Musik bewegte.

Amore amor

portami tante rose …

Es war eine Frauenstimme, die diese Worte sang: ›Liebling, schenk mir Rosen …‹ »Ruhe!« gebot jemand. Es folgten weitere Protestrufe. Beschimpfungen und Verwünschungen wurden laut, mit geballter Faust hervorgebracht. Hinter den großen Bäumen des Stadtwalls, hinter den glänzenden dichten Laubmassen, ahnte man eine freiere Luft, eine Brise wie vom Meer.

In immer rascherem Rhythmus wurde nun die Erde auf den Sarg geschaufelt.

Bruno wandte den Blick ab.

Würde er wohl nach dem Abendessen, wenn er mit dem Rad dort oben über den Stadtwall fuhr, hin und her gerissen zwischen dem Verlangen, die im Gras liegenden Liebespärchen mit dem Scheinwerfer aufzuspüren, und seiner Furcht vor dem Blick auf die darunterliegende schwarze Fläche des Friedhofs (schon als kleines Kind hatte er sich vor Irrlichtern gefürchtet), würde er also dann noch den jungen Soldaten vor seinem Schilderhaus finden? Wer weiß. Jedenfalls was er jetzt empfand, war nur Bitterkeit und Ekel.

Dabei wußte er es ganz genau. Seine Ungeduld und die fast irrsinnige Erregung, die ihn jetzt, als er an den Posten am Pulverturm dachte, quälten (vielleicht würden sie beide, nachdem sie Freundschaft geschlossen hatten, zusammen ins Kino gehen und, wer weiß, später noch ins Bordell, obwohl er noch nicht achtzehn Jahre alt war …), das alles war keine unmittelbare Reaktion auf die lästige Pflicht, der er sich heute hier zu unterziehen hatte. Die Ursache lag weiter zurück, sehr weit, an einem Punkt der Vergangenheit, der sich in einer gleichsam grenzenlosen Ferne verlor.

Bei dem Begräbnis seines Großvaters Benedetto im August 1924 hatten die Totengräber, bevor sie den Sarg hinabließen, den Deckel abgeschraubt. Darauf wurde, nach ältestem jüdischem Brauch, über den in ein besticktes Laken gehüllten Leichnam ungelöschter Kalk gestreut. Das war auf ausdrücklichen Wunsch seines Großvaters geschehen. Er hatte kaum seinen letzten Atemzug getan, als schon jemand sich beeilte, sein Testament zu öffnen. Und dieses Testament sprach eine klare Sprache. Der ungelöschte Kalk war erst auf dem Friedhof, vor dem offenen Grab, in den Sarg zu schütten. Vorher, das heißt zu Hause, nicht! O weh!

Er war damals neun Jahre alt gewesen. Es war das erstemal, daß man ihn auf den Friedhof mitgenommen hatte, und er erinnerte sich genau, wie mit den ersten abendlichen Schatten dichte Mückenschwärme gekommen waren und über dem Rasen spielten. Und diese Mücken hatten für ihn, zumal wenn er ein Auge mit der Hand zuhielt, eine merkwürdige Ähnlichkeit mit den Jagdflugzeugen gehabt, die er an einem Augustabend vor mehreren Jahren gesehen hatte. Geräuschlos waren sie den Himmel entlanggezogen und hatten zur Landung angesetzt, und es war ein unendlich weiter Himmel gewesen, der sich vor dem Fenster des Wohn- und Speisezimmers öffnete, in dem sein Großvater Benedetto, zum zweitenmal verwitwet, allein bei seinem Abendessen saß. Es war noch Krieg. Sein Vater stand an der Front. Und seine Mutter? Wo war seine Mutter gewesen? Irgendwer, vielleicht Tante Edvige, die nach dem Tode seiner Großmutter Esterina den Haushalt führte, hatte ihm gesagt, daß seine Mutter nach Feltre gefahren war, wo sie mit seinem Vater einen kurzen Urlaub verlebte. Aber Feltre? Wo war das, Feltre? Und vor allem: was war es? Und was war die Etappe, von der Tante Edvige gesprochen hatte? Langsam waren die Flugzeuge, nacheinander und ohne ein Geräusch zu verursachen, vor dem milchfarbenen Abendhimmel gelandet. Sie schienen zum Greifen nahe zu sein. Man brauchte nur die Hand aus einem der beiden Fenster zu strecken, um sie zu berühren. Nur daß leider der Großvater hinter ihm saß, bei seiner einsamen Mahlzeit, bei der er übrigens, die Brille in die Stirn geschoben, seine Zeitung las, die er an die Wasserkaraffe gelehnt hatte. Wenn der Großvater, der stets alles merkte und auch die geheimsten Gedanken erriet, jetzt Brunos Wunsch erkannt hätte, dann würde er ihn nicht etwa gescholten haben, bewahre! Er hätte sich nur darauf beschränkt (was freilich viel schlimmer gewesen wäre!), ihn fest anzusehen mit seinen strengen, stechenden Augen von blauem Schmelz …

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