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2 Der Fall entwickelt sich

»Los, weg, ich hab’s,« hörte er etwas verschwommen einen der beiden Angreifer sagen, dann war der böse Spuk vorbei. Er rappelte sich auf, schnappte nach Luft, atmete hastig und schwer und brauchte eine Weile, bevor er wieder aufrecht stehen konnte. Das Licht nebenan war jetzt ausgegangen. Er verzichtete für heute darauf, seine Einkäufe aus dem Kofferraum zu holen, schloss den Wagen ab und verzog sich etwas mühsam ins Haus.

Max Kersting bewohnte es alleine. Er hatte es auf Erbpacht von der Gemeinde erworben, als nach den beiden Ausstellungen in Stuttgart und Baden-Baden die Sammler auf ihn aufmerksam geworden waren. Der Verkaufserfolg hatte ihm etwas Geld eingebracht. Ursprünglich besaß es nur ein Stockwerk, das spitze Dach hatte er zu einem hellen Atelier mit Schlafraum und kleinem Badezimmer ausgebaut.

In dem Spiegel im Bad gab er jetzt kein besonders schönes Bild ab: auf der hohen Stirn sah er einen langen, zum Glück flachen Riss, der aber blutete, als habe ein Ring ihn aufgeschlitzt, das ganze Gesicht war blutverschmiert, die Unterlippe aufgerissen, der Unterleib schmerzte. Er säuberte sich vorsichtig, ging dann ins Atelier, wo die Cognacflasche stand, ein kräftiger Schluck, der zwar an der Lippe schmerzte, aber doch guttat, dann verzog er sich in seinen Lesesessel und überdachte das Geschehen.

Klar war, dass die beiden Schläger es auf Müller-Riedels oder vielmehr Verenas Zettel abgesehen hatten. Was sollte er jetzt tun? Die Polizei rufen? Zeugen gab es keine, und selbst wenn der Nachbar durchs Fenster gelinst hatte, bevor er das Licht anschaltete, hatte er nicht mehr als flüchtige Schatten sehen können. Er selber konnte keinen von beiden beschreiben, sie hatten etwa seine Größe, um die einsachtzig herum, glaubte er; es waren trainierte Halunken gewesen, besonders der eine, der ihm zielsicher seine Hiebe verpasst hatte. Das war alles, damit konnte man keine Suchmeldung losschicken. Und schließlich: der Zettel war zwar weg, aber die paar Worte konnte er auswendig.

Warum also, fragte er sich ziemlich ratlos, haben die Angreifer dieses Risiko auf sich genommen? Der Abend hatte gerade erst angefangen, und auch wenn er am Ende der Straße wohnte, ohne Gegenüber, hätte doch leicht ein anderer auch unterwegs sein können, den Hund ausführen oder einfach zwischen den Weinbergen spazieren. Sie mussten überdies damit rechnen, dass er sich den Inhalt des Zettels gemerkt hatte. Also kam es darauf wohl nicht an. Vielleicht weil es ihr Zettel, also der Zettel mit Verenas Handschrift, gewesen war, und dieser Zusammenhang sich jetzt nicht mehr beweisen ließ. Da hätten sie beide, Müller-Riedel und er, noch so viel bezeugen können.

Aber wie konnten sie wissen, dass er das Stück Papier eingesteckt hatte? Müller-Riedel hatte die Übergabe bei Tisch im oberen Saal des Museums nicht besonders heimlich vollzogen, sie beide hatten dabei unbefangen über die Bedeutung gerätselt. Kein Zweifel: jemand, der in den Fall auf irgendeine Weise verwickelt war und nicht weit weg gesessen hatte, musste das mitbekommen und seine Maßnahmen getroffen haben.

Eines hatten die ungebetenen Besucher aber nicht bedacht: War er vor der Attacke noch nicht sehr engagiert an des Rätsels Lösung interessiert gewesen, so wollte er es jetzt unbedingt und so schnell wie möglich aufklären.

Bloß nicht gleich. Er fühlte sich ganz zerschlagen (kein Wunder), und seine Grübelei machte ihn auch nicht munterer. Also verschob er alles weitere auf den folgenden Tag, kletterte ohne Verzug ins Bett und war im Nu eingeschlafen.

Als Kersting nach neun Stunden aufwachte, fühlte er sich elend. Der Riss auf der Stirn war nur noch eine rote Ritze und blutete nicht mehr. Aber die verletzte Lippe war angeschwollen, sein Bauch schmerzte, Kopfschmerzen kamen hinzu, kaum dass er aufgestanden war. Er saß in der Essecke seiner großen Küche, die zusammen mit Flur und einem kleinen Gästezimmer das Erdgeschoss einnahm. Der Kaffeeduft erfüllte den Raum. Vorsichtig wegen des harten Porzellanrandes, dann aber fast gierig trank er die erste Tasse.

Was tun? fragte er sich, als er sehr vorsichtig vom morgendlichen Toastbrot einen Bissen zwischen die verletzten Lippen schob. Zur Polizei wollte er immer noch nicht, aber die beiden Ganoven hätte er zu gerne identifiziert. Das präsidentielle Mittagessen erschien ihm als die einzige Möglichkeit, einen Faden in die Hand zu bekommen, der ihn am Ende zu den Schlägertypen führen konnte.

Müller-Riedel fiel aus, es sei denn, er hatte jemandem von ihrem Gespräch erzählt. Dasselbe galt wohl für Frau Jansen und die anderen Gäste am Tisch. Der Assistent oder wer immer da auf der anderen Seite seines Nachbarn gesessen hatte, schien ihm die vielversprechendste Adresse: er hatte sicher das meiste vom Gespräch mitbekommen, kam vom Alter her infrage und hatte, falls er zum germanistischen Kollegium gehörte, vielleicht sogar die Tote gekannt.

Ein paar Klicks im PC brachten Kersting auf die Seite mit dem Programm der germanistischen Veranstaltungen des letzten Semesters. Ein Seminar mit dem Thema »Para-Feminismus im Mittelalter« fiel ihm auf. Der Dozent: ein Mann namens Gregor Sautter. Das Photo auf der Seite des Instituts bestätigte seinen Verdacht. Das schmale Gesicht, die dunklen Haare und seine selbst im Bild noch auffordernd blickenden Augen: das war der Mann, der den Kriminalfall als Medienspektakel verharmlost hatte. Vielleicht ein Ansatzpunkt.

Also fuhr Kersting die paar Kilometer nach Tübingen, stellte das Auto ins Parkhaus nahe der Bibliothek. Im Seminargebäude studierte er als erstes die zum Teil recht wirr bestückten Aushängetafeln im Erdgeschoss, auf denen alle Lehrenden der hier untergebrachten Fächer mit der Angabe ihrer Diensträume verzeichnet waren. Mit der nötigen Information fuhr er in dem engen und recht betagten Aufzug ruckelnd in den 3. Stock, fand nach kurzem Suchen das Zimmer, an dem zwei Namen standen, darunter der gesuchte, und klopfte. Trotz Semesterferien hatte er Glück und konnte nach Zuruf eintreten.

Hinter dem Schreibtisch erhob sich ein mittelgroßer junger Mann, das blonde Haar kunstvoll verstrubbelt, darunter ein rundes Gesicht mit üppigem Schnauzbart, der wohl das bubihafte Aussehen kaschieren sollte, es im Gegenteil aber betonte. Die sehr hellen grauen, aber kalt blickenden Augen passten nicht dazu. Das ist der Falsche, war auf Anhieb Kerstings Eindruck. Er stellte sich vor, der Schreibtischbewohner begrüßte ihn freundlich, nannte seinen Namen: Franz Buch; er hatte ihn draußen an der Tür schon gelesen. Er erinnerte sich auch, im germanistischen Programm seinen Namen vor dem Seminarthema »Walther von der Vogelweide in der Übertragung Peter Rühmkorfs« gefunden zu haben.

»Ich habe gehofft, Herrn Dr. Sautter anzutreffen …«

»Da sind Sie im falschen Zimmer gelandet … Ja, ich weiß: ich muss das Namensschild an meiner Tür ändern. Aber mein Kollege ist sowieso gerade heute nach Berlin abgereist, um an einem Kongress teilnehmen zu können. Über Paracelsus in der deutschen Literatur. Er kommt wohl erst am Wochenende zurück.«

»Hm, schade. Ich hätte mich gerne mit ihm über sein Seminarthema vom letzten Semester unterhalten. Wir suchen einen Referenten über die Geschichte des Feminismus.«

Kersting fiel es wegen seiner verletzten Lippe immer noch schwer, deutlich zu artikulieren. Buch schienen erst jetzt die Blessuren seines Gastes aufzufallen. Er musterte ihn jedenfalls genauer.

»Wem sind Sie in die Quere geraten?«

»Bloß meiner Haustür, aber das genügte. Die Sache ist eilig, deshalb bin ich trotzdem hier.«

»Ob Sie da bei ihm an der richtigen Adresse sind? Der interessiert sich jetzt mehr für allerlei Elementargeister. Eine Mode, wie so vieles in unserer Wissenschaft. Auch wenn Sie der Titel seines letzten Seminars angelockt hat …«

»Genau deshalb bin ich hier.«

»Mit Feminismus in unserem Sinne hat das wenig zu tun.« Kersting spürte eine Spur von Geringschätzung im Tonfall, machte aber ein fragendes Gesicht.

»Es ging viel mehr um so etwas wie die Chemie der Geschlechter, wenn Sie wissen, was ich meine – aber nehmen Sie doch Platz«, unterbrach er sich, wies auf einen Stuhl schräg vor seinem Schreibtisch, und setzte sich selber wieder nieder.

»Ich glaube schon, dass ich weiß, worauf Sie hinauswollen. So etwas, wie Goethe es in den »Wahlverwandtschaften« thematisiert hat, nehme ich an.«

»Das hat natürlich mit Feminismus nichts zu tun. Aber dessen Verfechter nehmen’s nicht so genau. Eine Kollegin behauptete, Paracelsus habe seine ganzen medizinischen Kenntnisse aus weiblicher Quelle und begründete das mit einem angeblichen Zitat: ›Alles, was ich weiß, weiß ich von weisen Frauen‹. Nirgendwo belegt, hat man ihm untergeschoben.« Buch begleitete seine Kritik mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Erstaunliches Thema für das kurzatmige Studium, das man den Studenten heute zumutet. Ist das denn modulgerecht?«

Kerstings Spott fiel auf fruchtbaren Boden. Buch kicherte. »Wenn man danach gehen wollte, gäbe es nur noch Kurse wie »Drama 1« oder »Drama 2« oder »Romantischer Roman 1« und so weiter, wie bei den Maschinenbauern. Aber etwas anderes wollen die Studenten, pardon, die Studierenden nicht. Schön wär’s ja, wenn unsere Studenten Studierende wären, aber studieren tun nur die wenigsten, die aber sammeln sich dann in Kursen über Paracelsus oder Niklaus von Flüe.«

»Immerhin gibt es noch die, die nicht den Trampelpfad gehen.«

»Eine ganz kleine Minderheit. Die meisten wollen billiges Grundwissen, leblos und breitgetreten. Dann werden sie möglichst schnell auf die Schüler losgelassen und lesen mit denen den »Wilhelm Tell« als Comic. Unsere didaktischen Kollegen finden das super und liefern noch das gute Gewissen dazu. In Sautters Seminar saßen sieben Teilnehmer, davon fünf Studentinnen.«

 

Da hatte Kersting offenbar einen Nerv getroffen! Wie aber nun zu den Fragen kommen, die ihn interessierten?

»Warum soviel Studentinnen?«

»Einmal, weil sie prozentual in der Mehrheit sind. Aber sie sind auch hartnäckiger. Paracelsus lesen, ist nicht so einfach, man muss die Sprache regelrecht lernen. Dann aber begeistert sie einen, so kernig, so bildhaft, dagegen wirkt unser heutiges Deutsch wie eine Verfallssprache. Eine von Sautters Studentinnen wollte darüber ihre Doktorarbeit schreiben. Daraus wird nun nichts …«

»Lust verloren?«

»Nein, tot. Sie haben bestimmt vor ein paar Monaten darüber gelesen. Man fand sie tot im Gebäude nebenan.«

»Ja, ich erinnere mich. War nicht die Todesursache rätselhaft?«

»Meint jedenfalls die Polizei, oder verbreitet diese Meinung aus ermittlungstaktischen Gründen. Wie auch immer. Man wird schon wissen, woran sie gestorben ist! Auch junge Leute können schon mal an Herzversagen sterben, ganz natürlich.«

»Sie schließen ein Verbrechen aus?«

Kersting wollte ihn am Ball halten; vielleicht erfuhr er etwas über sein Zeitungswissen hinaus. Seine Hoffnung wurde aber gleich enttäuscht. Buch erwiderte lapidar: »Ich bin sicher« und riet ihm dann, sich im Sekretariat um einen Gesprächstermin bei Herrn Sautter zu bemühen.

Als Kersting das Zimmer verließ, trat er in den immer noch leeren Flur, überlegte einen Augenblick, ob er vielleicht an Müller-Riedels Tür klopfen sollte, der auch hier oben sein Dienstzimmer hatte. Verzichtete dann darauf, da er mit der Aufgabe, die der ihm gestern zugeschanzt hatte, nicht weitergekommen war.

Aber sein Besuch im Brechtbau sollte Kersting noch einen unvermuteten Erfolg bringen.

Als er ins Erdgeschoss hinuntergefahren war und sich in der Eingangshalle aus etwas zerstreuter Neugier auf den Tischen umsah, die überall standen und mit Prospekten über Veranstaltungen, Zeitungsabos und Firmenanzeigen überfüllt waren, fiel ihm ein Faltblatt besonders ins Auge. Ein Fitness-Studio annoncierte darin Sonderkonditionen für Studenten. In der ersten Spalte ein Photo mit mehreren Trainerinnen und Trainern, von denen ihn das Bild eines jungen Mannes stutzen ließ. Es war die Frisur, die ihn aufmerksam machte: die Seiten des Kopfes kahlgeschoren, oben das Haar wie ein Vogelnest mit Gel geformt. So ähnlich (der Einfall kam ihm ganz unvermutet) hatte das James Bonds schwarze Gegnerin in einem der alten Filme schon getragen.

Inzwischen war diese Frisur Mode geworden. Irgendeine Fußballergröße hatte sie populär gemacht. Am vorigen Abend hatte er zwar keinen seiner Angreifer erkennen können, doch trug zumindest der, der ihn niederschlug, eine Frisur wie diese – Kersting hatte das, am Boden liegend, sehen können, als sich die Silhouette des Schlägers einen Augenblick gegen den trotz der Wolken nicht ganz schwarzen Himmel abhob. Er nahm das Faltblatt mit und ging zu seinem Auto.

Ein Blick auf die Uhr. In ein paar Minuten könnte er in der Weststadt im hier angezeigten Fitness-Studio sein.

Der Laden unterschied sich nicht von anderen Etablissements dieser Art. Gleich nach dem Eingang der lange Tresen, hinter dem sich zwei junge Frauen angeregt über Tübinger Friseure unterhielten. Beide blond und mit trainierter Figur, in eng anliegende Trikots gekleidet, denen der Studioname aufgedruckt war, verrieten in Gestalt und Aussehen, dass sie das hier herrschende Körperbewusstsein auch anregend zu repräsentieren hatten. Neben ihnen ein untersetzter junger Mann mit glattrasiertem Schädel, der gerade aus der Kaffeemaschine seine Tasse füllte. Das Kaffee-Aroma überdeckte kaum die sonst herrschende Geruchsmischung aus Duftspray und Schweiß.

Kersting fragte, ob er sich umsehen könne, er trüge sich mit dem Gedanken, seiner körperlichen Verfassung etwas auf die Sprünge zu helfen.

Die etwas Ältere von den beiden maß ihn mit einem Blick, der im umgekehrten Falle sofort die feministische MeToo- Bewegung alarmiert hätte. Kein Zweifel, er gefiel ihr: mit seinem etwas dunklen Teint, dem freundlich-strahlenden Augenausdruck und der schlanken Figur. Sie erbot sich jedenfalls sofort, ihm die Trainingsräume zu zeigen. Der große saalartige, im Hintergrund etwas verwinkelte Raum stand voller Marterinstrumente, von deren teilweise weit in die Gegend krakenden Armen Lederschlingen herabhingen oder Gewichte baumelten, oder die sich bei näherem Zusehen als überdimensionale Fahrräder, Schlitten oder Laufbänder entpuppten. Ein Paradies für alle mittelalterlichen Hexenmeister oder Folterkünstler, von denen es ja wieder viele gab.

Bei jeder Maschine erläuterte die Begleiterin Funktion und Aufgabe. Bauchmaschine (»Haben Sie ja nicht nötig!«), Bizeps- und Trizeps-Trainer, Rückendehner. Kersting musste sich gestehen, dass seine nachlässige Haltung und sein schlaksiger Gang durchaus ein korrigierendes Training vertragen könnten, ließ es sich aber dennoch nicht anmerken, dass ihn die Benutzer mehr interessierten als diese beeindruckenden Apparate. Er war enttäuscht, dass nicht mehr als ein Dutzend schwitzender Gestalten sich in dem reichhaltigen Angebot abmühten. Einer von ihnen stemmte ein Gewicht und stieß dabei Laute aus, die man sonst nur in zoologischen Gärten oder aus einschlägigen Hotelzimmern hören konnte.

Auf seine Bemerkung hin erfuhr Kersting, dass die Mittagszeit von den meisten Mitgliedern gemieden wurde. Er hatte also die falsche Zeit erwischt.

Sie gingen durch einen Bogengang in einen großen, seitlich angegliederten Raum, der vor allem der Muskelbildung gewidmet war. Hier war mehr los, vor allem junge Leute, Männer mit Muskelpaketen bepackt und von obskuren Tattoos überzogen stemmten unter Ächzen und mit schweißdurchtränkten Trikots Gewichtstangen oder zogen schwere Blöcke zu sich herab. Kersting kam es so vor, als ob nicht sie die Maschinen lenkten, sondern die Maschinen ihnen jede Bewegung diktierten.

Inzwischen hatte er allerdings eingesehen, dass ihm sein spontaner Einfall nicht den gewünschten Erfolg bringen würde. Nicht nur die Tattoo-Uniformen, auch die Frisuren verrieten auffälligen Corpsgeist: beinah jeder dieser Verrenkungskünstler hatte sich die Kopfseiten kahl rasieren und auf dem Kopf ein dichtes Haarbüschel stehen lassen, das jene Silhouette formte, wie er sie in der vorigen Nacht bei einem seiner Peiniger bemerkt hatte.

Er ließ sich den Rest der Führung mit guter Miene gefallen. Was ihm nicht schwer fiel. Einige junge Frauen bemühten sich, es ihren Kombattanten möglichst gleich zu tun. Der Anblick gefiel ihm und war von einem leichten Frösteln begleitet, wenn er sich diese Verrenkungen in andere Situationen übertragen vorstellte.

Als er sich verabschiedete, drückte ihm die hinter dem Tresen gebliebene Hostess einen Prospekt in die Hand.

»Darin finden Sie alles, Kursprogramme, Öffnungszeiten, Kosten. Wenn Sie wollen, können wir gleich eine Probewoche vereinbaren. Dann wird einer unserer Trainer (sie wies auf den Kahlköpfigen, der inzwischen seinen Kaffee ausgetrunken hatte und in einem Magazin blätterte) Ihnen für ihre Wünsche ein Trainingsprogramm zusammenstellen.«

Kersting überlegte einen Augenblick, ob er seine Suche auf diese Weise vertiefen sollte. Er hatte geradezu hautnah gespürt, was ihm fehlte, seit Christa ihn verlassen hatte. Doch war er vom Anblick der uniformierten Geräte-Artisten auch entmutigt. Er dankte, erbat sich Bedenkzeit, verließ, betont ernst und aufmerksam um sich blickend, die schweißtreibende Stätte und fuhr nach Hause.

Auf der Staffelei wartete nun schon einige Tage das gerade erst begonnene Bild der Tübinger Neckarfront. Er hatte das Motiv ausgewählt, weil er aus diesem meistphotographierten und von Ansichtskarten und Prospekten völlig verschlissenen Ensemble etwas Neues machen, es so verfremden wollte, dass man seine Schönheit wieder wahrnehmen konnte. Als er das erste Mal in die Neckarstadt gekommen war, hatte ihn der Anblick beinah umgeworfen, diesen Moment vergaß er nie.

Eine überzeugende Idee war ihm bisher nicht eingefallen, so dass ihm die Erinnerung an den geraubten Zettel mit der rätselhaften Botschaft als Ausrede gerade recht kam. Oder sollte er sich nicht gleich offen eingestehen, dass er höchst zufrieden war über die Störung mitten in seiner Arbeit? Als hätte er eine neue Begabung entdeckt, die ihn nicht bloß von der Staffelei fernhielt, sondern ihm andere Erfahrungen, neue Reize und Genüsse versprach, die ihm bislang unbekannt waren, aber seine Malerei durchaus bereichern könnten.

Er schrieb sich die Zeilen aus Verenas Nachlass in sein Notizbuch. »Herbarium sidereum«, himmlisches Kräuterbuch, wo war ihm das schon einmal begegnet?

Mit einem Male (er musste über sich selber lachen) wurde ihm bewusst, wie überflüssig diese Frage im Zeitalter der Computer und Suchdienste war. (Wieso war Müller-Riedel nicht auf dieselbe Idee gekommen?) Und wirklich, das lateinische Stichwort führte auf mehrere Treffer. Im Handbuch der Geschichte der Medizin fand er den Eintrag »Herbarium spirituale sidereum« und den Hinweis auf die Entsprechungslehre des Paracelsus: Jedem elementar körperlichen Gegenstand entspricht ein geistig himmlischer, hat von dorther seine Form – was eben auch für alle Heilkräuter, jede Arznei gilt.

Aber was sollte das nun in diesem Falle bedeuten?

In der Hoffnung, auf irgendeine Spur zu stoßen, nahm er sich die Zeitungsartikel vor, die er in der Universitätsbibliothek gesichtet und von denen er die wichtigsten mit dem Smartphone abphotographiert hatte. Darunter auch ein Interview mit einer Freundin der Toten. Er überflog noch einmal den Text, und fand gleich zu Beginn die Antwort auf die Frage, wann und wo sich die beiden kennengelernt hatten: »Das war im Sommersemester vor zwei Jahren, in einem Cusanus- Seminar, wir arbeiteten gemeinsam an einem Referat über die Entsprechung von Mikrokosmos und Makrokosmos …«

Nun, aber was sollte diese Reminiszenz an eine vergangene Seminararbeit auf dem später gefundenen Zettel bedeuten, zudem offenbar verbunden mit der Bestätigung einer Verabredung? Und dann die Fortsetzung: »oder die Andere schreit und lärmt in allen Gassen«? Klang das nicht fast wie eine Drohung?

Er richtete sich noch einmal an seinen Laptop und gab die Wendung ein. Nach einigen Fehlschlägen landete er beim Stichwort »Anderheit«, das für den Cusaner eine wichtige Kategorie gewesen war; und da, noch ein Treffer: sie kommt aus dem Nichts, diese Anderheit, hält es eben deshalb nicht bei sich aus, ein Vakuum, das nach Sein schreit und sich füllen will. Es ging der Schreiberin also darum, dem Adressaten ihrer Nachricht sehr eindringlich klar zu machen, wie lebenswichtig ihr Anliegen sei. Und sie musste damit gerechnet haben, dass der andere die verschlüsselte Botschaft auch verstand.

Befriedigt lehnte sich Kersting zurück, musste sich aber bald eingestehen, dass er mit seinen Erklärungen nur scheinbar weitergekommen war. Im Gegenteil: das Ganze erschien ihm jetzt noch rätselhafter. Er suchte noch etwas herum, dann gab er es für diesmal auf.

Mit ein paar Schritten war er am Regal mit seiner kleinen philosophischen Bibliothek und zog einen flachen Karton heraus. Er öffnete ihn, eine hölzerne Spielschale, etwa 30 Zentimeter im Durchmesser, mit nummerierten Außenfeldern kam zum Vorschein. Eine kleine Holzkugel und ein etwas kantiger Holzkreisel gehörten dazu. Wenn man Glück hat, befördert der Kreisel die Kugel in eines der äußeren Gewinnlöcher. Eine viertel Stunde spielte Kersting wie abgeschaltet von der Welt mit diesem Roulette, dann wendete er sich wieder der Staffelei zu. Immer noch gingen ihm die Begriffe und Cusanischen Ideen im Kopf herum: Anderheit, das Andere, das Chaos, das zum Baumaterial der Welt wird, die der Philosoph die »kleine Welt«, parvus mundus, genannt hatte. Wie von selber begann er, den Gedanken ins Bild und auf die kleine Leinwandwelt da vor sich auf der Staffelei zu übertragen, Mauern in halbfertige Quader und Fenster in pflanzliche Form zu verwandeln. Zufrieden war er dennoch nicht, holte den Kohlestift hervor und fing an zu skizzieren.

Der Nachmittag verging im Nu. Erst als das schwindende Licht anfing, ihm Probleme zu bereiten, unterbrach er seine Arbeit und machte sich einen Imbiss. Die Tote aus dem Germanistik-Seminar und ihre Zettelhinterlassenschaft waren weit weggerückt.

Max Kersting sollte höchst unsanft wieder an sie erinnert werden.