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Der Kunstreiter, 3. Band

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Die Mutter horchte seinen Worten wie einem Märchen. Das Bild, welches er vor ihr entrollte, lag ihrem eigenen Leben und Wirkungskreise so fern, daß sie nicht halb es faßte und begriff. Durch alles das aber schimmerte nur immer das eine selige Gefühl, den Sohn wieder zu haben, den verlorenen, und während sie die Enkelin an ihre Brust geschmiegt hielt, lauschte sie Georgs Worten wie frohen Sagen einer andern Welt. Wolf indessen, der einzige, der klar und ruhig das Ganze überschaute, und für sie alle schon gedacht, gehandelt, ließ den Bruder seine Erzählung ungestört beenden, ließ ihn von seinen Plänen, seinen Hoffnungen sprechen, und als er geendet, legte er ihm und der Mutter mit klaren, einfachen Worten den Plan vor, den er sich selber für sie ausgedacht. Nach Schildheim konnte und sollte Georg nicht mehr zurück, in Ungarn aber, einem fernen, reichen Land, hatte Wolf in Gemeinschaft mit seiner Mutter, die damals freilich noch nicht ahnte, zu welchem Zweck, eine große prächtige Besitzung billig angekauft. Dorthin wollten sie alle ziehen – dort sollte die Mutter, im Kreise der Ihrigen, ihr Leben wieder frisch erblühen sehen, und dort fände auch Georg die neue Heimat weit besser als in dem fernen, überseeischen Lande, das sie aufs neue nur getrennt und das kaum geknüpfte Band zerrissen hätte. Georg wollte sich dagegen sträuben: es drängte ihn, selbständig aufzutreten und seine Lebensbahn mit eigener starker Hand erst aufzubauen und fest zu begründen – aber die Mutter ließ ihn nicht – des Kindes wegen schon, das sie umschlossen hielt.

»Das hast du mir geschenkt,« sagte sie unter Tränen lächelnd, seine Hand gefaßt, »das darfst du mir nicht wieder nehmen, wenn du dich selber zum zweitenmal vom Herzen der Mutter reißen könntest. Ihr Männer denkt vor allem nur an euch, wo aber dieses arme Kind und die kleine Waise, deren du dich angenommen und von der du mir erzählt, eine Mutter wiederfinden sollen, das fällt dir gar nicht ein.«

»Und wenn ich nun daran gedacht hätte?« rief Georg, »wenn ich dir heute nicht allein den Sohn, nein, auch die Tochter brächte für dein spätes Alter?«

Die Mutter und der Bruder sahen erstaunt zu ihm auf, Georg aber sprang von seinem Sitz empor und verließ das Zimmer, und nach wenigen Minuten zurückkehrend, führte er an seiner Hand die Erzieherin seines Kindes, Adele, herein, die schüchtern und errötend der alten Dame gegenübertrat.

»Wenn ich euch folge,« sagte er dabei, »so sei es nur mit dieser Bürgschaft für unser aller künftiges Glück. Adele, aus einem alten, edlen französischen Geschlecht, deren Großvater mit Karl dem Zehnten aus Frankreich verbannt wurde und seine Enkelin, die Waise, in der Fremde zurückließ, ist meinem Kinde nicht allein eine so treue Mutter geworden, und Josefine hängt mit so herzlicher Liebe an ihr, sie hat auch in der schweren letzten Zeit mir so treu und aufopfernd zur Seite gestanden, daß weder ich, noch meine Josefine uns je wieder von ihr trennen können.«

Die alte Dame war bewegt von ihrem Sitz aufgestanden, und dem jungen, in ihrer Verlegenheit gar so lieben Mädchen entgegentretend, sagte sie freundlich: »Und wollen Sie, mein liebes Kind, wirklich Ihr Leben an das dieses unruhigen, wilden Geistes fesseln? wollen Sie meiner Enkelin eine Mutter, wollen Sie mir eine Tochter sein?«

»Gnädige Gräfin!« stammelte Adele verwirrt.

Die alte, sonst so stolze Dame aber, ihr Herz von dem Glücke erweicht, das eigene, lang beweinte Kind wiedergefunden zu haben, schloß sie freundlich in die Arme, und an der Brust der Mutter, schluchzend in Glück und Jubel, hing Adele.

»Herr Rittmeister haben befohlen,« sagte Karl, der in diesem Augenblick die Tür öffnete und, über die neue Umarmung betroffen, mitten in seiner Rede und in der Tür stecken blieb.

»Was gibt's?« sagte Wolf, »was hast du?«

»Herr Rittmeister haben befohlen,« fuhr Karl rasch und etwas bestürzt empor, »daß der Alte in dem grünen Rock zu Ihnen heraufkommen sollte, wenn er unten fertig wäre. Er steht vor der Tür.«

»Unser alter Forstwart Barthold von Schildheim, den uns Georg von dort mitgebracht,« rief Wolf rasch, »du kennst ihn ja, Mutter.«

»Gewiß; es ist noch ein Stück aus der alten Zeit.«

»Er soll noch warten,« sagte Wolf.

»Zu Befehl, Herr Rittmeister.«

»Halt!« rief Georg, »bitte, laß ihn herein – er gehört mit dazu, und in diesem schönsten Augenblick meines Lebens darf mir der alte Mann nicht fehlen, der noch mit treuem Herzen an dem wilden Knaben hängt.«

»An welchem Knaben?« fragte Wolf erstaunt.

»An mir,« erwiderte Georg, »aber er kennt mich nicht; laß ihn jetzt zu uns kommen, denn in der rauhen Schale steckt ein wackerer Kern.«

Wolf winkte seinem Diener, und wenige Sekunden später trat, den Hut verlegen in der Hand herumdrehend, der alte Mann ins Zimmer und blieb an der Tür stehen.

»Kommt hierher, Forstwart,« sagte Wolf, »ich freue mich, Euch hier und wohl zu sehen.«

»Gnädigster Herr Graf sind gar zu gütig,« sagte der Alte, der Aufforderung Folge leistend.

»Meine Mutter dort will Euch guten Tag sagen.«

»Die gnädigste Frau Gräfin auch hier?« stotterte der Alte, während sein Blick erstaunt und verwirrt von ihr zu den beiden Söhnen hinüberflog.

»Kennt Ihr mich noch, Barthold?« fragte die alte Dame, »es ist eine lange Zeit, daß wir uns nicht gesehen haben.«

»Werd' ich Sie nicht kennen, gnädigste Frau Gräfin!« sagte der alte Mann, indem er auf sie zuging und die ihm gereichte Hand ergriff und küßte. »Ihr lieber Blick tut meinen alten Augen wohl und bringt die alte, langverflossene Zeit wieder lebendig herauf. – Aber – wie ist mir denn?« setzte er hinzu, und wieder fiel sein Blick von Wolf auf Georg, »so hatte ich es mir eigentlich wohl oft gedacht, aber…«

»Was habt Ihr Euch gedacht?«

»O, nichts, gnädigste Frau Gräfin!« rief der Alte bestürzt, »nur alberne Gedanken von mir, wie es mir oft geschieht, daß ich die Jahre verwechsele und mich manchmal um ein Menschenalter dabei verrechne. Halten Sie es mir zugute.«

»Wir ziehen nach Ungarn, Barthold,« sagte Wolf, »hättet Ihr Lust, Schildheim zu lassen und uns zu begleiten?«

»Nach Ungarn – so? Es soll ein schönes, reiches Land sein, mit prächtigen Wäldern und weiten Steppen, wie ich oft gehört – aber daheim – ich habe so viele alte Bekannte in meinem Walde stehen, daß sich das Herz wohl schwer von ihnen losreißen würde. Wenn der Herr Graf aber befehlen…«

»Von Befehlen ist keine Rede, Barthold,« sagte Wolf, »es müßte Euer freie Wille sein.«

»Wollt Ihr nicht mit mir gehen, Franz?« sagte Georg, ihn ruhig und lächelnd ansehend.

»Franz?« rief der alte Mann fast erschreckt, indem er den Redenden groß ansah, »Franz? lieber Gott, so hat mich nur einer genannt, vor vielen, langen Jahren, und der…«

»Den kennt Ihr nicht mehr oder wollt ihn nicht mehr kennen?« fragte Georg gerührt.

»Den will ich nicht mehr kennen?« rief Barthold, bestürzt die Hände faltend, »großer Gott, wie ist mir denn? – die Frau Gräfin hier und der Herr Graf und Sie – wie zwei junge Eichen von demselben Stamme!«

»So habt Ihr mit dem Georg so lange gelebt,« sagte dieser herzlich, »und doch nicht gemerkt, daß er derselbe kleine wilde Bursche sei, der damals auf Euch geritten und Euch bös geneckt. Alter Franz, wollt Ihr mit uns gehen?«

»Bis ans Ende der Welt!« schrie der Alte, dem die großen, hellen Tränen über die Backen liefen, indem er des jungen Grafen Hand ergriff und mit seinen Küssen bedeckte, »bis nach Amerika und Australien, und zu den Menschenfressern, wenn's sein muß! Guter, lieber Gott! nehmen Sie's nicht ungnädig, Herr Graf, aber das Herz ist mir über und über voll, und solche Freude hatte ich mir nicht mehr gedacht. Der kleine Georg – so hat er doch Wort gehalten und ist wiedergekommen – und wie sich meine Vögel erst freuen würden, wenn ich es denen noch erzählen könnte!«

»Ihr sollt es ihnen erzählen, Barthold,« sagte freundlich Wolf, »wenn auch nur Euren Vöglein. Ihr mögt morgen wieder nach Hause reisen, um Briefe von mir an den Verwalter und Eure Sachen gleich in Ordnung zu bringen. Jetzt geht zu Karl und laßt Euch Euer Frühstück geben. Nachher sprechen wir weiter.«

Wolf mußte heute für alle denken; die Freude, einander wieder zu haben, hatte selbst den sonst so ernsten und gesetzten Georg betäubt, daß er sich, wie in einem Traume, nur noch dem Glücke hingab, der Mutter wieder zu gehören. Während aber die alte Dame jetzt, Adelens Hand in der ihren und mit der Rechten Josefine an sich pressend, auf dem Sofa saß und sich erzählen ließ, und auch die kleine Marie herübergerufen war, nicht allein und verlassen in diesem allgemeinen Glücke zu sein, ging Wolf in sein Schlafzimmer, um sich anzukleiden und zur bestimmten Zeit beim Kriegsminister einzutreffen. Um zwölf Uhr war er dorthin beschieden worden, und es blieb ihm gerade noch Zeit, die Ralphensche Wohnung bis dahin zu erreichen.

30

Als Wolf die breite, teppichbelegte Treppe hinaufstieg, murmelte er leise vor sich hin:

»Zum letztenmal! – Wie viel leichter ist mir jetzt, da ich das alles abgeschüttelt habe! Melanie – es war ein schöner Traum, aber auch nichts weiter – sie hat kein Herz, sonst hätte sie nicht so sich von mir losreißen können. Fort damit! In wenigen Wochen liegt das alles nur noch in der Erinnerung« – und rasch die letzten Stufen hinaufspringend, bat er einen der herbeieilenden Diener, ihn bei seiner Exzellenz anzumelden. Der Bediente ersuchte ihn, ihm nur zu folgen, da Seine Exzellenz schon nach dem Herrn Rittmeister gefragt hätten. Er führte ihn aber nicht nach des Ministers Arbeitszimmer, sondern nach Melanies Gemächern und klopfte hier an, ehe Graf Geyerstein eine Einwendung dagegen machen konnte.

»Herein!«

Der Diener steckte den Kopf in die Tür und meldete: »Der Herr Graf von Geyerstein sind eben gekommen und lassen anfragen, ob Exzellenz…«

 

»Soll herein kommen!« rief die fröhliche Stimme des alten Herrn, »wollen die Sache gar nicht so förmlich machen.«

Der Diener warf die Tür weit auf, und seinen Helm im Arm, stand im nächsten Augenblick Graf Geyerstein auf der Schwelle von Melanies Zimmer, die sich bei seinem ehrfurchtsvollem Gruße verlegen halb von ihrem Sitze erhob.

»So, das ist recht, lieber Geyerstein,« sagte die alte Exzellenz, ihm herzlich die Hand reichend, »daß Sie so pünktlich Wort halten. Ich habe Ihnen heute auch eine angenehme Kunde zu bringen.«

»Der Kanzleibote steht auch noch im Vorsaale, Exzellenz,« erinnerte der Diener.

»Lieber Gott, auch den hatte ich ganz vergessen!« rief der Kriegsminister, unwillig mit dem Kopfe schüttelnd, »den muß ich erst abfertigen – aber das ist gleich geschehen. Bleiben Sie nur einen Augenblick hier bei meiner Tochter – ich bin gleich wieder da und bringe Ihnen dann auch die Papiere mit.«

»Welche Papiere, Exzellenz?«

»Werden schon sehen – daß du mir indessen nicht plauderst, Melanie!« Und der Tochter mit dem Finger drohend, verließ der alte Herr das Zimmer.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Graf?« sagte Melanie leise.

Graf Geyerstein nahm, ohne seinen Helm abzulegen, sich leicht verneigend, einen Stuhl der jungen Dame gegenüber.

»Ich hoffe nicht, daß ich störe, Komtesse.«

Melanie verneinte durch eine Bewegung.

»Dann möchte ich den mir vergönnten Augenblick zugleich benutzen, mich Ihnen – auf längere Zeit – zu empfehlen.«

»Sie wollen wieder auf Urlaub gehen?« sagte Melanie, und ein einziges wehes Gefühl ergriff ihr Herz.

»Dieses Mal nicht,« sagte Graf Geyerstein ruhig, »der Zweck meines Besuches bei Seiner Exzellenz ist, ihn darum zu bitten, mein Entlassungsgesuch aus ***schen Diensten bei dem Fürsten zu befürworten. Ich habe im Sinne, den Dienst für immer zu quittieren.«

»In der Tat?« sagte Melanie ruhig, »um sich auf Ihre Güter zurückzuziehen?«

»Ja, Komtesse – mit meiner Mutter. Die Gräfin Geyerstein hat mich heute morgen durch ihre Ankunft überrascht. Ich habe eine Besitzung in Ungarn gekauft, die ich selber zu bewirtschaften gedenke.«

»Mit Ihrer Mutter?« rief Melanie erstaunt.

»Finden Sie das so außerordentlich, Komtesse? Wir haben so lange getrennt gelebt, daß wir beide das Bedürfnis fühlen, von jetzt an einander näher zu stehen. – Meine Familie wird von da an auch das einzige sein, auf das ich angewiesen bleibe.«

Melanie neigte leise das Haupt, erwiderte aber nichts. Sollte die alte, stolze Gräfin Geyerstein ein solches Verhältnis billigen können? Sollte sich der Graf selber so weit vergessen, jener – Frau die Hand zu reichen? Die Gedanken tauchten in ihr auf, ohne daß sie sich selber Rechenschaft zu geben wußte. Das Gespräch überhaupt wurde ihr peinlich – sie wünschte, daß ihr Vater zurückkomme, und mehr um die drückend werdende Stille zu unterbrechen, als eine Antwort zu erhalten, sagte sie nach einer Pause: »Sie hatten noch ein anderes Gut, wenn ich nicht irre, Schildheim?«

»Allerdings, Komtesse.«

»Es soll reizend gelegen sein.«

»Hat Ihnen vielleicht Herr von Zühbig eine Beschreibung davon geliefert?« fragte Graf Geyerstein plötzlich mit so kalter und scharfer Betonung, daß Melanie überrascht, fast erschreckt zu ihm aufsah.

»Ich wußte nicht,« setzte sie rasch hinzu, »daß Ihnen schon die Erwähnung jenes Gutes so unangenehm war; ich würde es sonst vermieden haben.«

»Komtesse,« sagte Graf Geyerstein, sich langsam von seinem Stuhl erhebend, »ich weiß nicht, auf welche Art Sie in den Besitz meines Geheimnisses gelangt sind – sogar ehe ich selber imstande gewesen war, es Ihnen zu enthüllen, denn ich hatte keine Ahnung, daß Sie es mit solcher Strenge beurteilen würden.«

»Herr Rittmeister?« rief Melanie erstaunt.

»Wie dem aber auch sei,« fuhr Wolf bewegt fort, »ich habe mir keinen Vorwurf zu machen. Was jugendlicher Leichtsinn verbrach, hat der Mann gebüßt und gut gemacht, so viel in seinen Kräften stand.«

»Herr Graf,« sagte Melanie ruhig, »ich hoffe nicht, daß Sie mir gegenüber eine Entschuldigung des Geschehenen für nötig halten, wie ich ebenso darauf verzichte, die Triebfedern zu erfahren, welche Sie zu handeln zwangen, wie – Sie eben nun einmal gehandelt haben.«

»Nein, Komtesse,« sagte der Rittmeister, während auch der letzte Blutstropfen seine Wangen verlassen hatte, »meine Worte sollen, selbst Ihnen gegenüber, keine Entschuldigung enthalten. Wie ich gehandelt habe, ich konnte nicht anders, ich hätte denn das eigene Herz, das Herz der Mutter zerfleischen müssen. Mir blieb nur die Wahl, mich von meinem Bruder loszusagen und ihn rettungslos auf der eingeschlagenen Bahn zugrunde gehen zu lassen, oder ihn mit starker, hilfreicher Hand zu fassen und mir, der Mutter – der Welt zu erhalten. Ich habe dabei gehandelt, wie ich es mit meiner Ehre, mit der Ehre meines Namens vereinbarlich hielt – daß ich Sie dadurch verloren, Melanie, schmerzt mich tief, nicht allein meinet- nein, auch Ihretwegen; aber selbst um diesen Preis, um den ich mein Leben selber gern und freudig in die Schanze schlagen würde – selbst um diesen Preis möchte ich das, was ich getan, nicht ungeschehen machen.«

»Von Ihrem Bruder?« sagte Melanie, die den letzten leidenschaftlichen Worten des Mannes mit immer wachsender Spannung gelauscht, »Sie sprechen in Rätseln, Herr Graf. Ich habe keine Ahnung gehabt, daß Ihnen überhaupt ein Bruder lebt.«

Graf Geyerstein sah die Sprechende groß und erstaunt an. »Gnädige Komtesse,« sagte er, »für eine bloße gesellschaftliche Redensart ist Ihr Erstaunen zu wahr – wenn aber nicht – was dann noch konnte Sie bewegen, mich so zurückzuweisen – woher wußten Sie dann von einer – entehrenden Verbindung, in der ich mit jener Kunstreitergesellschaft gestanden?«

»Aber was – was hat Ihr Bruder mit den Kunstreitern zu tun?« fragte Melanie, durch das ernste, stolze Benehmen des Grafen nur noch verwirrter gemacht.

»Entweder Sie spotten meiner,« entgegnete Graf Geyerstein bewegt, »und kein Augenblick wäre unglücklicher dazu gewählt gewesen als der jetzige, oder ein eigenes Verhängnis hat uns beide verwirrt. Antworten Sie mir ehrlich, Komtesse Melanie – es soll die letzte Frage sein, die ich in diesem Leben an Sie stelle – wußten Sie nicht, daß Georg Bertrand mein Bruder sei?«

»Georg Bertrand?« hauchte Melanie, in Todesschreck die Hände faltend, »so wahr ich einst selig zu werden hoffe – nein.«

»Welch anderes Geheimnis flößte Ihnen denn solche Verachtung gegen mich ein, Komtesse?« sagte der Graf ruhig, »aber ich habe nicht danach zu fragen,« brach er kurz und bitter ab. »Daß ich, der Graf Geyerstein, der Adjutant des Fürsten und Offizier, den Kunstreiter als meinen Bruder anerkannte, daß ich ihn jenem Leben, in das ihn sein jugendlicher Leichtsinn geworfen, entzog, daß ich ihn nach Schildheim brachte, freilich in der vergeblichen Hoffnung, auch seine Frau einem geregelten Leben zu gewinnen – und heute nun geerntet, wo ich gesäet, heute den Sohn wieder an das Herz der Mutter legen konnte und seinem Haupte ihren Segen gerettet habe, das hielt ich für mein Verbrechen Ihnen gegenüber – das einzige, dessen ich mich schuldig weiß, und damit werde ich mich jetzt von einem Stande zurückziehen, dem ich, wie ich bis heute glauben mußte, Ihrer Meinung nach nicht mehr mit Ehren angehören konnte.«

»Graf Geyerstein!« rief Melanie und ihre ganze Gestalt zitterte, ihr Auge hing in Schmerz und Angst an den bleichen, ernsten Zügen des jungen Mannes. Dieser aber fuhr ruhig fort: »Eine große und schwere Last wäre von meiner Seele genommen, wüßte ich, daß dem nicht so sei. – Doch wie auch immer, Komtesse, leben Sie wohl, und vielleicht bringt Ihnen einmal eine spätere Zeit die Ueberzeugung, daß der Mann, der es gewagt hatte, selbst Ihren Besitz zu erhoffen, dessen vielleicht nicht würdig gewesen sei – nie aber seiner selbst unwürdig gehandelt haben konnte. Leben Sie wohl – ich sehe, meine Nähe ist Ihnen peinlich; ich werde die Rückkunft Seiner Exzellenz im Vorsaal erwarten.«

Er verbeugte sich vor der jungen Gräfin und wollte sich so verabschieden; da aber hielt sich Melanie nicht länger.

»Graf Geyerstein!« rief sie, die Arme nach ihm ausstreckend, »Wolf! – können Sie mir verzeihen?«

»Melanie!« hauchte der Graf, in freudigem Schreck zu ihr aufschauend; die Jungfrau aber, ihrer selbst nicht mächtig, wankte auf ihn zu, und ihr Haupt an seine Brust legend, während Wolf in jubelndem Entzücken sie an sich preßte, flüsterte sie: »Wie tief und unverdient hab' ich dies edle, treue Herz gekränkt!«

»Scharmant!« rief in diesem Augenblick die lachende Stimme des alten Herrn, der gerade in der Tür erschien. »Da mache ich mir die bittersten Vorwürfe, daß ich den Grafen so lange warten und sich langweilen lasse, und in der Zeit hat der meine Tochter beim Kopf und antichambriert auf die Art nach Herzenslust. Was machen Sie da, Geyerstein?«

»Exzellenz!«

»Er hat mich gebeten, Väterchen,« sagte da Melanie, unter Tränen lächelnd, während sie ihre Stellung nicht verließ und nur etwas den Kopf gegen den Vater wandte, »doch sein Fürsprecher zu sein, daß du ihm seine Entlassung aus ***schen Diensten bewilligtest.«

»Das sieht beinahe so aus,« lachte der Kriegsminister, »und Entlassung aus dem Dienste? Was fällt dem Herrn Major denn jetzt auf einmal ein, den Dienst zu quittieren, in dem er sich als Rittmeister so lange Jahre wohlbefunden?«

»Major?« rief Graf Geyerstein, erstaunt den Kriegsminister anblickend, der ein großes, mit einem mächtigen Siegel petschiertes Kuvert in der Hand und ihm lachend entgegenhielt.

»Da auf dem Ding,« rief er dabei, »steht wenigstens die Adresse groß und breit, dem Major Grafen Wolf von Geyerstein, von des Fürsten eigener Hand geschrieben. Den Herrn Major werde ich jetzt aber auch um eine Erklärung bitten und besonders fragen müssen, ob er seine Wartezeit nicht besser anzuwenden weiß, als anderer Leute Tochter den Kopf zu verdrehen?«

»Exzellenz,« sagte der junge Mann, in einem wahren Taumel von Glück und Seligkeit, ohne jedoch die noch immer an ihn geschmiegte Melanie aus seinem Arm zu lassen, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich in diesem Augenblick selber nicht weiß, wo mir mein eigener Kopf steht – ich bin zu glücklich, zu selig, Sie auch nur…«

»Um deinen Segen zu bitten, Papa!« flüsterte Melanie, sich ihm entwindend und zum Vater eilend, an dessen Hals sie flog. »Ich war ein böses – böses Kind, Papa, und habe viel, gar sehr viel gut zu machen; aber,« setzte sie mit herzlichem Tone hinzu, indem sie dem Ueberglücklichen die Hand entgegenstreckte, »auch eine ganze Lebenszeit vor mir, es zu vollbringen.«

»Dann nehmt von ganzer Seele meinen Segen,« sagte der alte Herr gerührt. – »Sie, Graf, war ich gewohnt, seit langen Jahren als mit zum Hause gehörig zu betrachten, und daß Sie die letzten Monate sich dem so entfremdeten, hat mir wehe getan. Die Sache hattet ihr beiden mitsammen auszumachen, und nur die Pläne, die eure Mama – aber alle Teufel, weiß denn die Mutter schon um dieses Bündnis, das die beiden kriegführenden Mächte auf einmal miteinander geschlossen haben?«

Melanie schüttelte den Kopf.

»Gut,« lachte der alte Herr still vor sich hin, »dann kann sie sich die Neuigkeit gleich selber holen, denn das ist ihre Stimme draußen. Und nun, Herr Major, bitte ich mir auch aus, daß Sie mich nicht den ganzen Tag hier mit dem Patent in der Hand stehen lassen. Sie scheinen sich keinen Pappenstiel daraus zu machen.«

»Bester Vater!«

»Ahem, da bekomme ich gleich einen neuen Titel. Schön, werde augenblicklich Gebrauch davon machen. – Frau von Ralphen,« wandte er sich in dem Moment zu der eben eintretenden Exzellenz, die mit einem Brief in der Hand das Zimmer ihrer Tochter betrat und überrascht schien, den Grafen Geyerstein hier zu finden. »Ich habe die Ehre, Ihnen hier Herrn Major von Geyerstein vorzustellen, der Sie durch mich ersuchen läßt, ihm für heute abend ein gutes Souper herzurichten und ihm in Zukunft eine gnädige liebevolle Schwiegermutter zu sein.«

»Eine Schwiegermutter?« rief die alte Dame, im höchsten Erstaunen von einem zum andern blickend, »Melanie!«

»Meine liebe, liebe Mutter!« flüsterte Melanie an der Mutter Brust, »ich habe ihn ja immer geliebt – und bin so glücklich jetzt – so herzensfroh!«

»Aber, liebes Kind,« sagte die alte Exzellenz bestürzt, »das ist – Herr Graf, Sie entschuldigen – eine Wendung, auf die ich in der Tat nicht gefaßt war. Graf Selikoff schreibt mir soeben, daß er dich um deine entscheidende Antwort bittet, da er in nächster Zeit hier wieder eintreffen will.«

»Nun, da ist ja noch gar nichts versäumt,« lachte Herr von Ralphen gutmütig, »da kann er's ja noch immer bis dahin erfahren.«

»Aber, Melanie!« rief Frau von Ralphen.

 

»Hast du dem Grafen Selikoff ein Versprechen gegeben?«

»Nein, Papa.«

»Oder ihm Hoffnungen gemacht?«

»Nie,« sagte Melanie mit fester Stimme, ihrem Vater dabei offen ins Auge schauend.

»Bon!« sagte der alte Herr, sich vergnügt die Hände reibend. »Der Selikoff ist ein herzensguter und ganz gescheiter Mensch, mit dem man recht angenehmen Umgang haben kann, und hätte Melanie ihn zu ihrem Gatten gewählt, nun, so würde ich mich dem gefügt haben, denn meinem Kinde will ich keinen Zwang antun. Wie die Sache aber jetzt steht, ist mir der neugebackene Major lieber, und daß auch du ihm eine freundliche Mutter sein wirst, dürfen wir von dir erwarten.«

»Aber ich begreife gar nicht…«

»Nachher, Mütterchen, nachher,« bat Melanie, während Graf Geyerstein auf sie zuging und ehrfurchtsvoll ihre Hand an seine Lippen zog, »der Graf selber begreift es noch nicht, und ihm bin ich vor allen anderen eine Erklärung schuldig, dann kommst du und Papa auch daran. Nicht wahr, ihr laßt mich einen Augenblick mit ihm allein?«

»Ja, wenn wir hier aus dem Zimmer geworfen werden, Mütterchen, dann müssen wir wohl gehen,« lachte Herr von Ralphen; »und ob mir der verzweifelte Mensch nur den Brief aus der Hand genommen hätte,« setzte er hinzu, indem er das Schreiben mit komischem Zorn auf den Tisch warf.

»Und das alles hier –« begann die Mutter noch einmal; ihr Gatte aber nahm ihren Arm in den seinen, und mit einem freundlichen »Macht's kurz, ihr beiden, und Sie, Major, kommen dann zu mir hinüber,« zog er die noch immer halb Widerstrebende lachend aus der Tür und mit sich in sein Arbeitszimmer, um dort den glücklichen Bräutigam zu erwarten.