Kostenlos

Der Kunstreiter, 3. Band

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ich kenne Ihren Namen gar nicht,« erwiderte vollkommen gleichgültig Georg. »Der Name tut auch hier nichts zur Sache, wo wir uns bloß an die Person zu halten haben. – Ich danke, Barthold. Wartet hier, bis ich wieder zurückkomme.«

»Aber was wünschen Sie?«

»Da Sie so in Eile sind, werde ich Sie ein Stück begleiten. Was wir miteinander zu sprechen haben, bedarf überdies keiner Zeugen. Herr Baron, ich stehe zu Diensten.«

»Schön – sehr schön,« sagte von Silberglanz verlegen, indem er seinen Paletot anzog und sich in diesem Augenblick nach Paris oder London oder in irgend eine andere sehr entfernte Gegend wünschte. »Wenn es Ihnen denn gefällig ist…«

Georg machte eine auffordernde Bewegung für ihn, voranzugehen; von Silberglanz, sich jetzt mit einem tiefen Seufzer der Notwendigkeit fügend, gehorchte, und wenige Minuten später schritten die beiden Männer draußen am Bassin des Jungfernstiegs, von niemandem weiter gestört, dahin.

»Herr Baron,« brach Georg endlich das, für jenen schon drückend werdende Schweigen, »es ist zwischen uns beiden nicht weiter nötig, große Umschweife zu machen, und das beste wird sein, einfach und rasch zur Sache zu kommen. Ich weiß nicht, ob Sie mich kennen, obgleich ich es fast vermute.«

»Ich habe in der Tat nicht die Ehre…«

»Nun gut denn – ich bin derselbe Mann, den Sie früher unter dem Namen Georg Bertrand kennen lernten, und Madame Georgine, die Sie aus Schildheim mit ihrem Kinde entführten, ist meine Frau.«

»Mein Herr – ich gebe Ihnen mein Wort…«

»Halt! – Sie sind Kavalier,« unterbrach ihn Georg rasch, »bedenken Sie, was Sie sprechen, und verpfänden Sie Ihr Wort nicht an eine – Lüge.«

»Herr Baron…«

»Davon mehr nachher,« erwiderte Georg kalt. »Jetzt verlange ich Antwort – aufrichtige, unumwundene Antwort: Wo haben Sie mein Weib gelassen? – Wo befindet sie sich jetzt und – was war Ihre weitere Absicht mit ihr? – Glauben Sie dabei nicht, mich durch leere Ausflüchte, durch irgend ein Märchen zu täuschen. Ich will die Wahrheit von Ihnen, und wenn ich – doch genug,« brach er, sich gewaltsam fassend, in seiner Drohung kurz ab, »wir stehen hier nicht allein auf deutschem Boden, sondern Sie sind auch gezwungen, mir Genugtuung zu geben, und daß ich mir diese verschaffen werde, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Also beantworten Sie mir einfach und ehrlich meine Frage. Sie können Ihre Sache dadurch nicht verschlimmern, sondern nur verbessern. Wo ist Georgine und ihr Kind jetzt – in wessen Schutze?«

»Herr Baron,« sagte von Silberglanz, in dem Gedanken an ein Duell mit wirklich geladenen Pistolen innerlich erbebend, indem er zugleich einsah, daß alles weitere Leugnen fruchtlos sei, »ich – sehe vollkommen ein, daß Ihr Zorn gerechtfertigt ist – ich gestehe, daß ich gefehlt habe, und werde…«

»Davon später – bitte, kommen Sie zur Sache,« unterbrach ihn Georg kurz. »Wo wohnt Georgine – wo – wohnen Sie?«

»Lassen Sie mich ausreden,« bat von Silberglanz, der sich überdies zwingen mußte, seine Gedanken zusammen zu halten. »Sie haben das Recht, eine Erklärung zu fordern, und so weit, als ich sie Ihnen leisten kann, soll sie Ihnen werden. Für alles übrige muß ich Sie aber in der Tat bitten, sich an – Ihre Frau Gemahlin und – Herrn Royazet zu halten.«

»Royazet?« sagte Georg schnell, »so haben Sie für ihn…«

»Bitte, mißverstehen Sie mich nicht,« erwiderte von Silberglanz, schon bedeutend beruhigt, als ihm Georg weit kaltblütiger zu sein schien, als er ihn gefürchtet haben mochte. »Wollen Sie mich die ganze Sache einfach erzählen lassen, wie sie ist? Vielleicht finden Sie auch dann, daß ich weit weniger schuldig bin, als Sie jetzt zu glauben scheinen.«

»Reden Sie,« sagte Georg ruhig, »aber hoffen Sie nicht, mich zu täuschen.«

»Ich denke nicht daran,« erwiderte von Silberglanz, »um Ihnen aber einen klareren Ueberblick über alles zu geben, muß ich etwas weiter ausholen. Wollen Sie mich geduldig anhören?«

»Ja.«

»Ich wohne in ***. Ein Freund von mir hatte eine Reise in dieses Land gemacht, kam zurück und erzählte mir, daß er Sie und – Ihre Frau Gemahlin dort in stiller Einsamkeit gefunden.«

»Herr von Zühbig,« sagte Georg, während ein verächtliches Lächeln um seine festgeschlossenen Lippen zuckte.

»Erlauben Sie mir, daß ich nur dann Namen nenne, wenn es dringend nötig ist. Er sagte mir – jener Freund nämlich – daß sich Madame Ber – daß sich Frau Baronin von Geyfeln entsetzlich unglücklich fühle, und gab mir dabei deutlich zu verstehen, daß – daß ich – daß sie geäußert habe – ich – ich sei ein alter Freund von ihr – oder sie hege Zutrauen zu mir,« setzte er rascher hinzu, als er bemerkte, daß ihn Georg erstaunt ansah.

»Woher kennen Sie meine Frau?« fragte er ruhig.

»Ich – ich hatte das Vergnügen, sie in *** einigemal zu sehen.«

»Und Georgine hätte Ihrem Freunde zu verstehen gegeben, daß Sie ihr helfen sollten, aus ihrer unglücklichen Lage zu kommen?«

»Das war der Sinn.«

»Sonderbar! meine Frau hat mit Herrn von Zühbig keine drei Worte gesprochen, die ich nicht gehört hätte. Sie war nur beim Abendbrot gegenwärtig, und ich habe in der Zeit das Zimmer nicht verlassen. Ueberhaupt drehte sich das Gespräch, soviel ich mich erinnere, nur um ganz gleichgültige Dinge.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort als Kavalier, daß ich nur unter dieser Voraussetzung gewagt habe, der Dame meine Dienste anzubieten.«

»Gut – fahren Sie fort; die Sache ist überhaupt unwesentlich und wir verlieren Zeit.«

»Ich konnte nicht denken,« fuhr Herr von Silberglanz fort, »daß mir Herr von – daß mir mein Freund eine Unwahrheit gesagt habe, denn als ich nach Schildheim kam und Sie zufällig verreist fand…«

»War das in der Tat zufällig?«

»Ich kann den höchsten Eid darauf ablegen – Sie zufällig verreist fand, bestätigte mir die Frau Baronin durch ihr ganzes Benehmen nicht allein, nein, auch deutlich in Worten, daß ich mich nicht geirrt, und bat mich, sie zu begleiten.«

»In der Tat?« flüsterte Georg leise zwischen den fest zusammengehaltenen Zähnen durch.

»Es änderte allerdings meinen ganzen Plan. Ich war auf einer Reise nach Paris begriffen.«

»Von *** über Schildheim?«

»Geschäfte hatten mich genötigt, den Umweg zu machen,« log von Silberglanz, »aber den Bitten einer Dame konnte ich keine Weigerung entgegenstellen.«

»Und Sie entführten Sie?«

»Will ich aufrichtig sein, Herr Baron,« versicherte der kleine Mann verlegen, »so – wurde ich von ihr entführt, denn die – gnädige Frau ordnete alles selber an, bestimmte Zeit und Ort, sorgte für Geschirr und alles, und ich – hatte eigentlich weiter nichts zu tun, als mitzufahren – ja, wenn ich alles zusammenrechne, so habe ich bis zu diesem Augenblick auch in Wirklichkeit nichts weiter getan, als daß ich eben mitgefahren bin, wobei mir die gnädige Frau als einzige Vergünstigung gestattete, die Passage zu zahlen.«

»Und das Kind?«

»Baron, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort,« rief Herr von Silberglanz rasch, »ich hatte keine Ahnung davon, daß uns das gnädige Fräulein begleiten sollte. Ja, ich war im höchsten Grade überrascht und be– und erstaunt darüber. Im Schlitten saß ich dabei hinten auf der Pritsche bei neun Grad Kälte; auf der Eisenbahn setzte sich Frau von Geyfeln mit ihrer Tochter in ein Damenkupee, wohin ich ihr nicht folgen durfte, und endlich in Altona angekommen…«

»Nun? fahren Sie fort.«

»In Altona angekommen,« sagte Herr von Silberglanz, und es war augenscheinlich, daß er über diesen Teil seiner Erzählung nicht gern mit der Sprache herausrückte, denn wenn es ihn auch in den Augen des Gatten entschuldigen mußte, so schien er sich doch »als Kavalier« der Rolle etwas zu schämen, die er dabei gespielt – aber er durfte nicht schweigen, und fuhr deshalb etwas verlegen fort: »in Altona angekommen, entließ mich Frau von Geyfeln mit freundlichem Dank und – quartierte sich ohne weiteres bei Monsieur Royazet ein, den sie jedenfalls schon von früher her kennen mußte.«

»Sie täuschen mich nicht?«

»Ich habe nicht den geringsten Grund dafür, irgend welche Rücksicht auf die Dame zu nehmen, da sie nicht die geringste auf mich genommen hat. Nach allem, was ich gesehen und erlebt, war ich nur ein Werkzeug, das sie benutzte, solange sie es brauchte, und es dann – beiseite warf. Sie werden es daher erklärt finden, mein bester Herr Baron, wenn ich es nicht für gerechtfertigt halten würde, daß Sie nach allem, was Sie jetzt gehört, und was, wie Sie mir fest glauben mögen, die reine, lautere Wahrheit ist, noch von mir Satisfaktion verlangen sollten. Ich würde dabei wahrhaftig auf das Unschuldigste von doppelten Ruten gepeitscht. Es ist mir außerdem schon sehr unangenehm, Ihnen das alles erzählen zu müssen, und ich tue es allein in der Ueberzeugung, Ihnen es einmal schuldig zu sein – und dann auch auf Ihre Diskretion rechnen zu können.«

Baron von Silberglanz würde sich noch weit mehr, als es schon der Fall war, gedemütigt gefühlt haben, hätte er den Ausdruck von Verachtung sehen können, den Georgs Züge annahmen. Schweigend schritt dieser eine Zeitlang neben ihm her, endlich sagte er, ohne auf die letzte Anrede ein Wort zu erwidern: »Folgte das Kind der Mutter willig?«

»Im Anfange, ja,« antwortete von Silberglanz rasch, denn er fand eine große Beruhigung darin, daß sein Begleiter auf etwas anderes übersprang; in der Frage lag überhaupt für ihn das geringste Kompromittierende, »das junge Fräulein schien zu glauben, daß die Reise nur eine gewöhnliche kurze Spazierfahrt sei.«

»Und nachher, als sie erfuhr, um was es sich handle?«

»Ich konnte nicht deutlich verstehen, was ihr die gnädige Frau sagte. Es war kurze Zeit vorher, ehe wir die Eisenbahnstation erreichten, und Sie werden sich erinnern, daß ich auf der Pritsche saß. Aber die Kleine weinte dann und bat die Mama, sie nicht mitzunehmen.«

»Das tat sie?«

»Ja, wahrhaftig! Ich erbot mich auch, als ich das bemerkte, die junge Dame sicher wieder nach Hause zurückbegleiten zu lassen, die gnädige Frau antwortete mir aber gar nicht auf den Vorschlag.«

 

»Und sind Sie später nicht mehr mit ihr zusammengetroffen? – Haben Sie verstanden, was ich Sie fragte?«

»Ich? – ja – vollkommen, sehr werter Herr. Ich – muß gestehen, ich suchte noch einige – wenigstens einmal wollte ich suchen, ihr zu nahen, was aber in ihrer Wohnung nicht möglich war. Die Leute dieses Monsieur Royazet sind ein außerordentlich rohes und ungebildetes Volk. Ich wußte mir dann heute morgen Zutritt zu einer der Proben zu verschaffen; aber auch ohne den geringsten glücklichen Erfolg. Frau von Geyfeln behandelte mich wie einen vollständig fremden Menschen.«

»Und Josefine?«

»Ihre Fräulein Tochter – ja – sie war auch in der Probe. Das arme Kind wollte erst nicht reiten – sie fürchtete sich jedenfalls und weinte, aber die gnädige Frau waren sehr böse, und es ging nachher recht gut, ja, ich kann wohl sagen, vortrefflich.«

»Und Ihre Absicht jetzt?«

»Meine Absicht? – Hamburg morgen früh mit dem Schnellzug wieder zu verlassen, um nach Paris zu gehen. Ich habe dort so dringende Geschäfte, daß ein versäumter Zug den Verlust eines Vermögens nach sich ziehen könnte,« rief von Silberglanz sehr rasch.

»Ich will Sie nicht aufhalten,« sagte Georg kalt. »Nach allem, was ich von Ihnen gehört habe – und ich glaube, daß Sie die Wahrheit sprechen, denn Ihr Hiersein bestätigt es schon, sind Sie genug mit der traurigen Rolle bestraft, die Sie gespielt haben. Aber, bitte, geben Sie mir Ihre Karte.«

»Meine Karte?« sagte von Silberglanz, der bei dem Anfang der Rede neue Hoffnung geschöpft hatte, erschreckt, »ich – ich bedaure sehr, ich habe gar keine bei mir.«

»Ich bitte Sie um Ihre Karte,« wiederholte Georg kalt und ruhig. »Sie werden mich nicht glauben machen wollen, daß eine Persönlichkeit wie Sie auch nur einen Schritt aus dem Hause ohne Karte gehe. Ich werde Sie dieser Sache wegen, wenn sich in der Tat alles so verhält, wie Sie sagen – nicht weiter belästigen. Verhält es sich aber nicht so, dann müßte ich doch suchen, näher mit Ihnen bekannt zu werden. Ich bitte um Ihre Karte oder ich begleite Sie bis in Ihre Wohnung.«

»Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich mein Etui eingesteckt habe,« sagte von Silberglanz in äußerster Verlegenheit. »Sie können sich fest darauf verlassen, daß ich Ihnen kein falsches Wort gesagt habe.«

»Bitte, sehen Sie nach…«

Der Baron fand, daß er den Mann nicht los wurde, ohne ihm zu willfahren. Flucht war unmöglich – der gewandte Kunstreiter hätte ihn in wenigen Sätzen eingeholt. Er blieb stehen und suchte erst eine Zeitlang in allen den Taschen, in denen er genau wußte, daß das Etui nicht stak.

»Wenn ich Ihnen nun vielleicht meinen Namen aufschriebe,« bemerkte er dabei, als letzte Hoffnung auf Ausflucht.

»Ich muß und will Ihre Karte haben,« lautete die unerbittliche Antwort, und von Silberglanz brachte endlich das verlangte Etui zum Vorschein.

»Ah, wahrhaftig – da ist es doch – ich werde Ihnen gleich…«

»Bitte, erlauben Sie es mir,« sagte Georg ruhig, nahm ihm das Etui aus der Hand und wählte sich selber eine Karte aus, von der er überzeugt war, daß es keine fremde, erhaltene sei. Sie standen gerade unter einer der zahlreichen, hell brennenden Gasflammen, und er las den Namen laut:

Baron Hugo von Silberglanz,

»sagten Sie mir nicht vorhin, daß Sie Seltendorf hießen?«

»Ich?« wiederholte verlegen von Silberglanz, »wohl kaum – die Namen klingen so ähnlich – Sie haben sich vielleicht verhört.«

»Möglich – noch eins. Kann man leicht in Royazets Wohnung gelangen?«

»Es ist ganz unmöglich,« versicherte der Baron schnell. »Sie müßten denn vorher durch einen ganzen Saal seiner Bereiter und – Tänzer hindurch. Ihre Frau Gemahlin ist mit Fräulein Tochter in dem hintersten Teile der Wohnung einquartiert, und zwar drei Etagen hoch.«

»Es ist gut. – Herr Baron, wie Sie mir jetzt gegenüber stehen, fühlen Sie jedenfalls selbst am besten; es bedarf keiner weiteren Worte. Ich hatte anfangs im Sinne, Sie nicht so leicht zu entlassen, aber ich sehe, daß ich von Ihnen keine weitere Satisfaktion verlangen kann. Gehen Sie; das aber schwöre ich Ihnen zu, begegne ich Ihnen noch morgen, nach Abgang des ersten Zuges, hier in Hamburg oder in Altona, so befehlen Sie Ihre Seele Gott.«

»Wenn ich den Zug versäumte, würde ich einen Extrazug nehmen, von hier fortzukommen,« rief von Silberglanz rasch. »Ich bedaure unendlich, Ihnen in dieser bösen Sache…«

Georg drehte sich kalt von ihm ab und schritt die Straße wieder zurück, dem Hotel zu, den Baron sich selbst und seinen eigenen, nichts weniger als angenehmen Gefühlen überlassend.

28

Am nächsten Morgen erhob sich Georg früh von seinem Lager, auf dem ihn der Schlaf die ganze lange Nacht geflohen hatte. Unzählige Pläne entwarf er dabei, aber nur um immer wieder zu fühlen, daß sie unausführbar wären, und keine Ruhe im Zimmer findend, kleidete er sich an, nach Altona zurückzugehen. Dort wollte er einen dänischen Advokaten als letzte Zuflucht aufsuchen, ihm den ganzen Fall erzählen und sehen, was er von ihm für Hilfe erhoffen durfte. Konnte der ihm nicht helfen, dann beschloß er, Gewalt zu brauchen. Wie das geschehen könne, wußte er freilich nicht, aber er vertraute auf sich und seine Kraft; für das übrige ließ er den Himmel sorgen. Den alten Forstwart konnte er jetzt natürlich nicht mehr gebrauchen. Er ließ ihn im Hotel zurück, schrieb ihm dessen Adresse genau auf und riet ihm dann, an den Hafen hinunter zu gehen und sich die Stadt anzusehen, bat ihn aber, um Mittag jedenfalls wieder zurück zu sein, da er nicht wüßte, was bis dahin vorfallen möchte. Dann ging er aus alter Gewohnheit zu dem Stalle, wo er sein Pferd stehen hatte, nach diesem zu sehen, ob es ordentliche Pflege habe, und darüber beruhigt, schritt er langsam und recht schweren Herzens nach Altona hinüber.

Es war noch früh, und obgleich er in Hamburg selber schon den besten und geschicktesten Advokaten Altonas erfragt, konnte er diesen doch noch nicht sehen. Der Herr hatte seine Sprechstunde von zehn bis zwölf Uhr – vorher nahm er niemanden an. Der Advokat wohnte ganz in der Nähe des Zirkus, und obgleich Georg nicht zu fürchten brauchte, zu so früher Stunde irgendwelchem von den Leuten zu begegnen, vermied er doch die allernächsten Restaurationen und ging in eine andere Straße, um in einem dortigen Café sein Frühstück zu nehmen und Zeitungen zu lesen, bis die anberaumte Stunde schlug. – Zeitungen zu lesen – lieber Gott! er überflog die Blätter; die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen, die Zeilen schwammen durcheinander, und er vergaß den Platz selbst, wo er saß. Nur eine Ankündigung fesselte wieder und wieder seinen Blick – die von Royazet, in der er dem Publikum verkündete, daß er nur noch drei Tage in Altona verweilen und unabänderlich am nächsten Montag die Stadt verlassen würde, um mit seiner Gesellschaft nach Petersburg zu gehen. – Nach Petersburg! – das Wort schon gab ihm einen Stich durchs Herz, und unruhig sprang er auf und trat ans Fenster. Aber dort gingen viele Menschen vorbei, von denen manche hereinsahen; fast unwillkürlich trat er wieder zurück und verbrachte die Zeit in einer Unruhe, die an fieberhafte Qual grenzte.

Und, o, wie langsam rückte der Zeiger vor – noch keine Zeit war ihm so lang geworden, wie diese wenigen Stunden, die er in dem Café verbrachte! Endlich war es zehn – noch fehlten Minuten daran, aber auch diese mußten ja endlich vergehen – und würde ihm der Rechtsgelehrte Trost und Hilfe geben? – Wenn nicht, so hilf dir selbst, flüsterte da der alte Trotz in ihm, und mit dem festen Entschlusse knüpfte er seinen Paletot bis oben hin zu, drückte seinen Hut in die Stirn und wollte eben, als die große Wanduhr die ersten Schläge der zehnten Stunde tat, das Zimmer verlassen, als draußen auf der Straße lustig schmetternde Musik erschallte und die Leute vor den Fenstern zusammenliefen.

»Was ist das?« fragte er, stehen bleibend, den Kellner, dem er eben seine Zeche bezahlt hatte und der ihm beim Anziehen seines Paletots behilflich gewesen war.

»O, bloß die Kunstreiter,« antwortete der junge Bursche, »sie halten ihren Umzug, weil heute wieder große Vorstellung ist.«

Georg schlug das Herz, als ob es ihm die Brust zersprengen wollte, aber er besaß Gewalt genug über sich, das den Fremden nicht merken zu lassen.

»So?« sagte er, während der Kellner die Augen schon draußen auf der Straße hatte, um nichts von dem Schauspiel zu versäumen, »dann werde ich mir das erst von hier mit ansehen. Ziehen sie lange herum?«

»Eine oder zwei Stunden manchmal, bis sie durch die ganze Stadt sind.«

»Und kommen sie nachher hier noch einmal vorbei?«

»Nein, zurück kommen sie durch die andere Straße da drüben, damit sie sich soviel wie möglich überall zeigen. Sehen Sie, das da vorn ist die neue Dame, die gestern zum erstenmal geritten ist – die kann's! Royazet wird sie heiraten. Sie soll ihrem Manne davongelaufen sein, nur um hierherzukommen.«

Georg fühlte, wie alles Blut sein Angesicht verlassen hatte; die Aufmerksamkeit des Kellners wie aller im Zimmer befindlichen Gäste war aber in diesem Augenblick einzig und allein auf die Straße gerichtet, und Georg trat zu einem der Seitenfenster. Vor diesem stand ein grünes Drahtgitter, so daß man wohl hinaussehen konnte, aber von draußen völlig unbemerkt blieb, und vor ihm vorbei, kaum zwanzig Schritt entfernt, bewegte sich der ganze Zug. Voran ritt die Musik, wie immer aufgeputzt in grellen Uniformen mit buntgefärbten Federbüschen und riesigen Epauletten; hinter dieser, die einen lustigen Reitermarsch spielte, kam der Herr des Zuges, der berühmte Royazet, und an seiner Seite, siegesstrahlend und Glück und Triumph in den hellen Zügen – ritt sein Weib. – Aber er sah sie kaum – nur einen flüchtigen Blick warf er auf die Treulose, von der er sein Herz schon lange losgerissen. Sein Blick suchte das Kind, sein armes, geraubtes Kind, und als er es nicht mit unter den ersten des Zuges fand, durchzuckte ihn ein plötzlicher Strahl von Hoffnung. War sie zu Hause geblieben – befand sie sich nicht beim Zuge, dann war es möglich, in dieser Zeit unbemerkt, wenigstens ungehindert, zu ihr zu gelangen, und während der Zug… Auch dieser Plan fiel, kaum aufgebaut, zu Trümmern – dort ritt sie – seine liebe, liebe Josefine, sein Kind, an dem sein Herz mit allen Fasern blutend hing – dort, aufgeputzt mit buntem Flittertand, der ihm nie so schal, so entsetzlich vorgekommen war, wie eben jetzt – die bleichen Wangen geschminkt, die Augen niedergeschlagen – eine gebrochene, halbwelke Blume, mit Farbe übermalt. Das andere kleine Mädchen an ihrer Seite lachte und sprach mit ihr, aber sie antwortete ihm nicht; ihr Auge hing an der Mähne des Ponys, den sie ritt – ihre Gedanken waren weit, weit fort von hier.

Mit Georg war plötzlich eine wunderbare Veränderung vorgegangen. Sein Auge haftete wohl noch auf dem Zuge, aber er sah ihn nicht mehr; sah nicht die faden Späße, die der wie früher dahinterher reitende Klown, der alte Mühler, mit der Stadtjugend trieb, sah nicht das Volk, das lärmend, schreiend, vorbeidrängte. Er blieb still und regungslos am Fenster stehen, bis die letzten Reiter vorüber waren und sich die Zuschauer wieder dahinter schlossen. Dann drehte er sich langsam um, verließ das Lokal und schritt auf die Straße hinaus, wo er stehen blieb und sich umsah. Eine zweispännige Droschke kam eben den Weg langsam daher gefahren. Er winkte, und der Kutscher hielt neben ihm.

»Nach Hamburg – Hotel de l'Europe.«

»Sehr wohl.«

»Du bekommst doppeltes Fahrgeld, wenn du mich so rasch dahin bringst, wie deine Pferde laufen können.«

»Soll ein Wort sein,« sagte der Mann vergnügt. Georg stieg ein, und fort rasselte der Wagen über das Pflaster. Die Pferde liefen vortrefflich, und in verhältnismäßig kurzer Zeit hatten sie den bestimmten Platz erreicht.

Georg, der schon vorher dem Kutscher das Fahrgeld gegeben, sprang aus dem Wagen und stand wenige Sekunden später im Stalle neben seinem Rappen.

»Den Sattel – den Zaum!« war alles, was er sagte, als einer der Leute dienstfertig herbeisprang, ihm zu helfen. Er nahm das Geschirr aber nur aus seiner Hand und legte es selber dem Pferde an. Er selber schnallte auch den Gurt und befahl dann, als er alles in Ordnung wußte, dem Knecht, das Pferd vor das Haus zu führen.

»Wollen Herr Baron ausreiten?« sagte einer der geschäftig herbeieilenden Kellner.

»Ja, bitte, lassen Sie mir aus meinem Zimmer die Reitpeitsche und den Plaid herunter holen, die zusammen auf dem Fauteuil liegen.«

»Sehr wohl; Charles, Reitpeitsche und Plaid für den Herrn Baron – auf dem Fauteuil Nr. 21.«

Der junge Bursche flog die Treppe hinauf und war wenige Minuten später mit den verlangten Sachen wieder unten. Georg festigte den zusammengeschnallten Plaid an seinem Sattel, nahm die Reitpeitsche mit ihrem schweren, bleigefüllten Griff, faßte den Zügel und flog im nächsten Augenblick die Straße hinunter. Sein wackeres Tier brauchte er auch nicht anzutreiben, denn durch den vollen Tag, den es im Stalle gestanden, war es schon ungeduldig und rastlos geworden. Aber er wollte es auch nicht vor der Zeit anstrengen, um seine Kräfte zu schonen. Ueberdies durfte er, sobald er in die engen Straßen einbog, nicht so rasch reiten, und sein Tier deshalb einzügelnd, trabte er, so schnell er hier noch vorwärts rücken konnte, seinem Ziel entgegen.

 

Bald hatte er Altona erreicht, und um ja den günstigen Moment nicht zu versäumen, ritt er augenblicklich dem Zirkus zu, dem Zuge dort, wenn er etwa schon auf dem Rückwege wäre, zu begegnen – aber noch war alles still. Ein Briefträger, den er anredete und nach der Kavalkade fragte, sagte ihm, daß er die Kunstreiter vor kaum zehn Minuten dort irgendwo rechts hinunter gehört hätte. Wo sie jetzt wären, wüßte er nicht, aber jedenfalls müßten sie hier wieder vorbei. Georg wartete nicht darauf; er hielt der bezeichneten Richtung zu und heftete seine ganze Aufmerksamkeit dabei nur auf die abzweigenden Straßen, um nicht in diesen irre zu werden und seinen Weg im entscheidenden Augenblick zu verfehlen. Sein Plan war gefaßt; ernst und ruhig ritt er im Schritt die Straße nieder, dann und wann haltend, ob er die laute Blechmusik durch das Gerassel der Wagen und das Gelärm der lebendigen Stadt nicht hören könne. Noch ließ sich kein derartiger Laut unterscheiden; als er aber wieder eine Straße entlang geritten war, kalt und umsichtig dabei jedes mögliche Hindernis erspähend, und eben wieder um eine Ecke bog, schlugen die fernen Klänge der Trompeten deutlich an sein Ohr. Fast unwillkürlich zügelte er sein Tier ein, den willkommenen Tönen zu lauschen – deutlich unterschied er die Richtung, näher und lauter wurde der Lärm – es war kein Zweifel mehr, sie kamen gerade auf ihn zu. Das aber lag nicht in seinem Plane, mit dem er fest mit sich im reinen war; aber er dachte auch nicht daran, sich zu übereilen. Ruhig erwartete er das Näherkommen des Zuges, sein Herz klopfte dabei fast hörbar in der Brust, sein Gesicht war aschfahl geworden, aber keine Muskel regte sich, und erst als er die voranreitenden Trompeter nach sich einbiegen sah, lenkte er sein Pferd in eine kleine Gasse hinein, die hier schräg abbog und ihn vollständig verdeckt hielt. Dort ließ er den Zug, der wieder dem Zirkusplatze zuhielt und jedenfalls seinen Rundritt vollendet hatte, vorüber, und schon klangen die Trompeten, da der Schall durch eine neue Biegung der Straße gebrochen wurde, wie aus weiter Ferne, als das Pferd den leichten Schenkeldruck des Reiters fühlte.

Der Zeitpunkt war gekommen, in dem er handeln mußte, und ein trotziges Lächeln zuckte zum erstenmal wieder seit langer Zeit um die fest zusammengepreßten Lippen des Mannes. Das Pferd bog in einem leichten Trab in die Hauptstraße ein, und eben konnte er noch die letzten des Zuges, die Klowns, erkennen, die mit dem Volke ihre Späße trieben. Mühler war der tollste von allen. Aber nicht diesen fürchtete er mehr, denn wenn er ihn auch erkannte, was tat's? Ehe er die vorn im Zug Reitenden warnen konnte, war sein Plan schon gelungen – oder mißglückt, und mit der Gefahr, der er sich aussetzte, wuchs ihm auch der Mut. So kaltblütig hielt er jetzt in scharfem Trabe auf die voranziehende Kavalkade zu, als ob es sich nur um einen Spazierritt handle, und mit raschem Blick sich dabei orientierend, war er auch sicher, keinen Zoll breit seiner Bahn zu vergeben.

Der Zug war gerade in eine der Hauptstraßen der Stadt eingebogen, die direkt auf den breit und hoch aufgeführten Zirkus des Monsieur Royazet zuführte; von weitem ließ sich schon das aus neuen Brettern aufgestellte Gebäude mit seinem schräg zulaufenden spitzen Dache erkennen. Georg übersah das alles; er hatte sein Terrain an diesem Morgen genau rekognosziert. Fest hielt er sein Tier im Zügel und lenkte jetzt um den Menschenschwarm herum, der die Hanswurste lachend und jauchzend umtobte. Allerdings hatten sich schon einige Reiter dem Zuge heute morgen angeschlossen, meist Neugierige, die ihn eine kurze Strecke begleiteten und dann wieder, durch das Schauspiel ermüdet, davon abbogen. Die zu den Kunstreitern gehörenden Personen interessieren sich aber natürlich für jedes Pferd, das sie sehen, besonders wenn es von edler Rasse ist, und der alte Mühler machte keine Ausnahme davon. Mitten in seinen Sprüngen und Neckereien, bei denen er rechts und links mit seiner klappernden Holzpritsche Schläge austeilte, haftete sein Auge an dem Pferde und fuhr erschreckt von ihm empor zum Reiter. Den Rappen konnte er nicht verkennen, und der leise Schreckensruf entfuhr seinen Lippen: »Beim Teufel – Georg!«

So geschickt Mühler auch bisher gewußt hatte, trotz allen ausgeteilten Hieben, Angriffen auf ihn selber zu entgehen und die Lacher auf seiner Seite zu behalten, so ganz aus aller Fassung brachte ihn die plötzliche Erscheinung des Mannes, den er von allen auf Erden in diesem Augenblick am meisten fürchtete. Er hatte in der Tat alles andere um sich her in dem einen Angstgedanken vergessen, was der Mann jetzt mit Georginen beginnen würde. Die mußte er warnen, und er sprang nach seinem Pony, fühlte sich aber auch in demselben Augenblick wieder zurückgerissen, denn drei oder vier Jungen hingen an seinen Schößen und hielten ihn jauchzend fest. Wie der Blitz fuhr er freilich mit seiner Pritsche herum, aber die Jungen waren durch die früher erhaltenen Hiebe schon gewitzigt worden, und sich fest an ihn drängend und ihn mit ihren Armen umfassend, gaben sie ihm keinen Raum, sie ordentlich zu treffen. Das half ihnen indes nicht viel, denn die anderen Klowns ließen ihren Kameraden nicht im Stich. Von beiden Seiten sprangen sie zu, und so derb hagelten diesmal die Prügel auf die ihnen verlockend genug zugedrehten Rückteile, daß die Bande, sehr zum Ergötzen des übrigen Publikums, heulend und schreiend auseinander stob. Mühler war aber dadurch in seinen Bewegungen gehemmt worden, und Minuten vergingen, ehe er seinen Pony wieder erreichte. In zitternder Hast warf er sich auf dessen Rücken, und seine Flanken mit den Hacken bearbeitend, sprengte er den Zug entlang, Royazet die gefährliche Nähe seines Nebenbuhlers zu melden und Georginen zu warnen.

Lange vorher aber hatte Georgs wackerer Rappe seinen Herrn am Zuge hinaufgetragen. Die Blicke des Vaters suchten dabei und fanden das Kind, und wenige Sekunden später war er an dessen Seite.

Josefine hatte an dem Morgen vergebens ihre Mutter gebeten, sie nicht mit auf die Straße zu nehmen. Bitten wie Tränen blieben gleich erfolglos: sie mußte, denn sie sollte sich wieder an das lustige Reiterleben gewöhnen und nicht allein daheim sitzen, zu denken und zu grübeln und zu weinen. Natürlich gehorchte sie – wie sie ihr kleines munteres Tier aber bestiegen hatte, so saß sie noch, die Blicke an der Mähne desselben haftend, das Antlitz bleich, der ganze kleine Körper zitternd, und die Gedanken waren weit von da. Nicht an den glänzenden Umzug dachte sie, an die schmetternde Musik und das gaffende Volk, sofern an die freundliche Heimat im Walde dort – weit von hier – an den Vater, dem sie entrissen worden und an dem ihre ganze Seele hing, an ihre liebe, freundliche Erzieherin, die sich jetzt ihretwegen sorgen und um sie weinen würde. Und konnten sie je erfahren, wo sie sei? – und wenn das, würde die Mutter sie je wieder freilassen aus diesem Leben, dessen ganze Qual sie erst am gestrigen Abend durchgekostet? Rasche Hufschläge neben ihr weckten sie aus ihren Träumen, und eine hohe, dunkle Gestalt warf ihren Schatten über sie hin.