Die Ratten. Textausgabe mit Kommentar und Materialien

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JOHN.

Jette, bei de Frau Mauermeester ihre Milch, womit sie die Zwillinge uffziehen dut, wird et ooch sterilililililisiert.

(Die Schüler des Direktors Hassenreuter, Käferstein und Dr. Kegel, zwei junge Leute im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig, haben angeklopft und die Tür geöffnet.)

DIREKTOR HASSENREUTER

(der seine Schüler bemerkt hat). Geduld, meine Herren, ich komme gleich. Ich arbeite hier einstweilen noch im Fache der Säuglingsernährung und Kinderfürsorge.

KÄFERSTEIN

(ausgesprochener Kopf, große Nase, bleich, ernster Gesichtsausdruck, bartlos, einen immer schalkhaften Zug um den Mund. Mit Grabesstimme, weich, zurückhaltend.) Wir sind nämlich die drei Könige aus dem Morgenlande.

DIREKTOR HASSENREUTER

(der noch immer den Milchkochapparat hoch in den Händen hält). Was sind Sie?

KÄFERSTEIN

(wie vorher). Wir wollen das Kindelein grüßen.

DIREKTOR HASSENREUTER.

Ha ha ha ha! Wenn Sie [49]schon Könige aus dem Morgenlande sind, meine Herren, dann fehlt doch, soweit ich sehn kann, der dritte.

KÄFERSTEIN.

Der dritte ist unser neuer Mitschüler auf dem Felde dramaturgischer Tätigkeit, Kandidat der Theologie Erich Spitta, der durch einen gesellschaftspsychologischen Zwischenfall einstweilen noch Ecke Blumen- und Wallnertheater-Straße festgehalten ist.

DR. KEGEL.

Wir machten uns eiligst aus dem Staube.

DIREKTOR HASSENREUTER.

Sehen Sie, es steht ein Stern über Ihrem Hause, Frau John! – Aber sagen Sie mal, hat sich etwa unser braver Kurpfuscher Spitta wieder mal öffentlich an die Heilung sogenannter sozialer Schäden gemacht? Ha ha ha ha! Semper idem! das ist ja ein wahres Kreuz mit dem Menschen.

KÄFERSTEIN.

Es war ein Auflauf, und da hat er wohl, wie es scheint, in der Volksmenge eine Freundin wiedererkannt.

DIREKTOR HASSENREUTER.

Meiner unmaßgeblichen Meinung nach würde der junge Spitta viel besser zum Sanitätsgehilfen oder zum Heilsarmeeoffizier geeignet sein. Aber so ist es; der Mensch wird Schauspieler.

FRAU DIREKTOR HASSENREUTER.

Der Lehrer der Kinder, Herr Spitta, wird Schauspieler?

DIREKTOR HASSENREUTER.

Wenn du erlaubst, Mama, hat er mir die Eröffnung gemacht. – Aber nun, wenn Sie Weihrauch und Myrrhen bringen, packen Sie aus, lieber Käferstein. Sie sehen, Ihr Direktor ist vielseitig. Bald verhelfe ich meinen Schülern, die ihr nach dem Inhalt der Brüste der Musen durstig seid, zu geistiger Nahrung, Nutrimentum Spiritus! bald …

KÄFERSTEIN

(klappert mit einer Sparkasse). Nun, ich stelle [50]also das Ding, es ist eine feuersichere Sparkasse, hier neben die Equipage des jungen Herrn Maurerpoliers, mit dem Wunsche, dass er es mindestens mal bis zum Regierungsbaumeister bringen möge.

JOHN

(hat Schnapsgläschen auf den Tisch gestellt, nimmt und entkorkt eine unangebrochene Likörflasche). Na, nu muss ick det Danziger Joldwasser uffmachen.

DIREKTOR HASSENREUTER.

Wer da hat, Sie sehen, dem wird gegeben, Frau John.

JOHN

(während er eingießt). Det is nich jesacht, det for Mauerpolier John sein Kind nich jesorcht wäre, meine Herrn! Aber ick rechen et mir an, meine Herrn. (Frau Direktor und Walburga ausgenommen, ergreifen alle die Gläser.) Wohlsein! – Mutter, nu komm, wir wolln ooch ma anstoßen. (Es geschieht, sie trinken.)

DIREKTOR HASSENREUTER

(im Ton der Rüge). Mama, du musst selbstverständlich mittrinken.

JOHN

(nachdem er getrunken hat, aufgeräumt). Ick jeh nu ooch nich mehr nach Hamburg hin. D’r Meester mag ma’n andern hinschicken. Ick zerjle mir schonn mit’n Meester deswejen drei Dache rum. Ick muss mir nu wieder jleich mein Hut nehmen; hat mir wieder ma jejen sechs uffs Büro bestellt! Wenn er nich will, denn lasst er’t bleiben: det jeht nich, det’n Familienvater immer un ewich wech von seine Familie is. Ick ha’n Kollegen … et kost mir een Wort, da wer ick, wo se de Fundamente lejen, bei’t neue Reichstagsjebäude einjestellt. Zwölf Jahre bin ick bei meinen Meester! Et kann ja ooch ma woanders sind.

DIREKTOR HASSENREUTER

(klopft John ebenfalls auf die Schulter). Sessa! ganz Ihrer Ansicht, Herr Maurerpolier. [51]Unser Familienleben ist eine Sache, die man uns mit Geld und guten Worten nicht abkaufen kann.

(Kandidat Erich Spitta tritt ein. Sein Hut ist beschmutzt, sein Anzug trägt Schmutzflecken. Er ist ohne Schlips. Er sieht bleich und erregt aus und säubert mit dem Taschentuch seine Hände.)

SPITTA.

Verzeihung. Könnte ich mich bei Ihnen mal eben ’n bisschen säubern, Frau John?

DIREKTOR HASSENREUTER.

Ha ha ha! Um Gottes willen, was haben Sie denn angebahnt, guter Spitta?

SPITTA.

Ich habe nur eine Dame nach Hause begleitet, Herr Direktor, weiter nichts.

DIREKTOR HASSENREUTER

(der an einem allgemeinen Lachausbruch ob der Worte Spittas teilgenommen hat). Na hören Sie mal an! Und da setzen Sie noch hinzu: »weiter nichts«? Und verkünden es offen vor allen Leuten?

SPITTA

(verblüfft). Wieso nicht? Es handelte sich um eine gutgekleidete Dame, die ich hier im Hause auf der Treppe schon öfters gesehen hatte und die leider auf der Straße verunglückt ist.

DIREKTOR HASSENREUTER.

Ach, was Sie sagen: erzählen Sie mal, bester Spitta. Augenscheinlich hat die Dame Ihnen Flecke auf den Anzug und Schrammen auf die Hände gemacht.

SPITTA.

Ach nein. Das war wohl höchstens der Janhagel. Die Dame erlitt einen Anfall. Ein Schutzmann griff sie dabei so ungeschickt, dass sie auf den Straßendamm, und zwar dicht vor einem Paar Omnibuspferde, niederfiel. Ich konnte das absolut nicht mit ansehen, obgleich der Samariterdienst auf der Straße im Allgemeinen, wie ich zugebe, unter der Würde gutgekleideter Leute ist.

[52](Frau John schiebt den Kinderwagen hinter den Verschlag und kommt wieder mit einem Waschbecken voll Wasser, das sie auf einen Stuhl setzt.)

DIREKTOR HASSENREUTER.

Gehörte die Dame vielleicht jener internationalen guten Gesellschaft an, die man je nachdem nur reglementiert oder auch kaserniert?

SPITTA.

Das war mir in diesem Falle ebenso gleichgültig, wie ich sagen muss, Herr Direktor, wie dem Omnibusgaul, der seinen linken Vorderhuf geschlagene fünf, sechs oder acht Minuten lang, um die Frau nicht zu treten, die unter ihm lag, in der Schwebe gehalten hat. (Spitta erhält eine Lachsalve zur Antwort.) Sie lachen! Für mich ist das Verhalten des Gauls nicht lächerlich. Ich konnte ganz gut verstehen, dass einige Leute ihm Bravo zuriefen, Beifall klatschten, andre eine Bäckerei stürmten und Semmeln herausholten, womit sie ihn fütterten.

FRAU JOHN

(fanatisch). I, hätt er man feste zujetreten! (Die Bemerkung der John löst wieder allgemeines Gelächter aus.) Und ieberhaupt, wat die Knobben is: die jehört öffentlich uff’n Schandarmenmarkt, öffentlich uff de Bank jeschnallt und jehörig mit Riemen durchjefuchtelt! Stockhiebe, det det Blut man so spritzt.

SPITTA.

Ich habe mir niemals eingebildet, dass das sogenannte Mittelalter eine überwundene Sache ist. Es ist noch nicht lange her. Man hat eine Witwe Mayer noch im Jahre achtzehnhundertundsiebenunddreißig hier in Berlin, auf dem Hausvogteiplatz, von unten herauf geradebrecht. (Er zieht Scherben einer Brille hervor.) Übrigens muss ich sofort zum Optiker.

JOHN

(zu Spitta). Entschuldijen Se man! Se haben die feine Dame doch hier am Flur jejenieber rinjebracht? Na ja! [53]Det hat Mutter ja jleich jemerkt, det det keen andrer Mensch wie de Knobben jewesen is, wo bekannt for is, det se Mädel mit zwölf uff de Jasse schickt, selber fortbleibt, trinkt und allerhand Kundschaft hat, um Kinder nich kümmert und, wo berauscht is und uffwachen dut, allens mit Fäuste und Schirme durchpriejelt.

DIREKTOR HASSENREUTER

(sich raffend und besinnend). Allons, meine Herren, wir müssen zum Unterricht. Es fehlt uns schon eine Viertelstunde. Meine Zeit ist gemessen. Unser Stundenschluss muss leider heute ganz pünktlich sein. Komm, Mama. Auf Wiedersehn, meine Herrschaften. (Der Direktor gibt seiner Frau den Arm und geht, gefolgt von Käferstein und Dr. Kegel, ab. Auch John nimmt seinen Kalabreser.)

 

JOHN

(zu seiner Frau). Adje, ick muss ooch zum Meester hin. (Auch John geht.)

SPITTA.

Könnten Sie mir mal einen Schlips leihen?

FRAU JOHN.

Ick will mal sehn, wat sich bei Paul in de Schublade vorfinden dut. (Sie öffnet den Tischschub und verfärbt sich.) Jesus! (Sie nimmt ein durch ein buntes Band zusammengehaltenes Büschelchen Kinderhaar aus der Schublade.) Da hab ick ja’n Büschelschen Haar jefunden, wo mein Jungeken, wo mein Adelbertchen schon in Sarch mit Vaters Papierschere abjeschnitten is. (Tiefe, kummervolle Traurigkeit zieht plötzlich über ihr Gesicht, das sich aber ebenso plötzlich wieder aufhellt.) Un nu liecht et doch wieder in Kinderwachen! (Sie geht mit eigentümlicher Fröhlichkeit, das Haarbüschel in der Hand den jungen Leuten vorweisend, zur Tür des Verschlages, wo der Kinderwagen, zwei Drittel sichtbar, sich befindet. Dort angelangt, hält sie das Haarbüschel an das Kinder[54]köpfchen.) Na nu kommt mal, kommt mal! (Sie winkt mit seltsamer Heimlichkeit Walburga und Spitta, die auch neben sie an den Kinderwagen treten.) Seht mal det Härchen und det! –? ob det nich detselbichte … ob det nich janz und jänzlich een und detselbichte Härchen is.

SPITTA.

Richtig! Bis auf die kleinste Nuance, Frau John.

FRAU JOHN.

Jut so! jut so! mehr wollt ick nich! ( Sie verschwindet mit dem Kinde hinter dem Verschlag.)

WALBURGA.

Findest du nicht, Erich, dass das Betragen der John eigentümlich ist?

SPITTA

(fasst Walburgas Hände und küsst sie scheu und inbrünstig). Ich weiß nicht, weiß nicht – … oder ich zähle heut nicht mit, weil ich alles von vornherein subjektiv düster gefärbt sehe. Hast du den Brief bekommen?

WALBURGA.

Jawohl. Aber ich konnte nicht herausfinden, warum du so lange nicht bei uns gewesen bist.

SPITTA.

Verzeih, Walburga, ich konnte nicht kommen.

WALBURGA.

Warum nicht?

SPITTA.

Weil ich innerlich zu zerrissen bin.

WALBURGA.

Du willst Schauspieler werden? Ist’s wahr? Du willst umsatteln?

SPITTA.

Was schließlich noch mal aus mir wird, steht bei Gott! Nur niemals ein Pastor! niemals ein Landpfarrer!

WALBURGA.

Du, ich habe mir lassen die Karten legen.

SPITTA.

Das ist Unsinn, Walburga. Das sollst du nicht.

WALBURGA.

Ich schwöre dir, Erich, es ist kein Unsinn. Sie hat mir gesagt, ich hätte einen heimlichen Bräutigam, und der sei Schauspieler. Natürlich hab ich sie ausgelacht, und gleich darauf sagt Mama, du wirst Schauspieler.

SPITTA.

Tatsächlich?

[55]WALBURGA.

Tatsächlich! Und dann hat mir die Kartenlegerin noch gesagt, wir würden durch einen Besuch viel Not haben.

SPITTA.

Mein Vater kommt nach Berlin, Walburga, und das ist allerdings wahr, dass uns der alte Herr etwas zu schaffen machen wird. – Vater weiß das nicht, aber ich bin mit ihm innerlich längst zerfallen, auch ohne diese Briefe, die mir hier in der Tasche brennen und mit denen er meine Beichte beantwortet hat.

WALBURGA.

Über unserm verunglückten Rendezvous hat wirklich ein böser, neidischer, giftiger Stern geschwebt. Wie habe ich meinen Papa bewundert! Aber seit jenem Sonntag werde ich aller Augenblick’ rot für ihn, und sosehr ich mir Mühe gebe, ich kann ihm seitdem nicht mehr gerade und frei ins Auge sehn.

SPITTA.

Hast du mit deinem Papa auch Differenzen gehabt?

WALBURGA.

Ach, wenn es bloß das wäre! Ich war stolz auf Papa! Und jetzt muss ich zittern, wenn du es wüsstest, ob du uns überhaupt noch achten kannst.

SPITTA.

Ich und verachten! Ich wüsste nicht, was mir weniger zukäme, gutes Kind. Sieh mal: ich will mit Offenheit gleich mal vorangehn. Eine sechs Jahre ältere Schwester von mir war Erzieherin, und zwar in einem adligen Hause. Da ist etwas passiert … und als sie im Elternhaus Zuflucht suchte, stieß mein christlicher Vater sie vor die Tür. Er dachte wohl: Jesus hätte nicht anders gehandelt! Da ist meine Schwester allmählich gesunken, und nächstens werden wir beide mal nach dem kleinen sogenannten Selbstmörderfriedhof bei Schildhorn gehn, wo sie schließlich gelandet ist.

[56]WALBURGA

(umarmt Spitta). Armer Erich, davon hast du ja nie ein Wort gesagt.

SPITTA.

Das ist eben nun anders: ich spreche davon. Ich werde auch hier mit Papa davon sprechen, und wenn es darüber zum Bruche kommt. – Du wunderst dich immer, wenn ich erregt werde und wenn ich mich manchmal nicht halten kann, wo ich sehe, wie irgendein armer Schlucker mit Füßen gestoßen wird, oder wenn der Mob etwa eine arme Dirne misshandelt. Ich habe dann manchmal Halluzinationen und glaube am hellichten Tage Gespenster, ja meine leibhaftige Schwester wiederzusehn.

(Pauline Piperkarcka, ebenso wie früher gekleidet, tritt ein. Ihr Gesichtchen erscheint bleicher und hübscher geworden.)

DIE PIPERKARCKA.

Jun Morjen.

FRAU JOHN

(hinter dem Verschlage). Wer ist denn da?

DIE PIPERKARCKA.

Pauline, Frau John.

FRAU JOHN.

Pauline? – Ick kenne keene Pauline.

DIE PIPERKARCKA.

Pauline Piperkarcka, Frau John.

FRAU JOHN.

Wer? – Denn wachten Se man ’ne Minute, Pauline.

WALBURGA.

Adieu, Frau John.

FRAU JOHN

(erscheint vor dem Verschlage, schließt sorgfältig den Vorhang hinter sich). Jawoll! Ick ha mit det Freilein wat zu verabreden. Seht ma, det ihr naus uff de Straße kommt. (Spitta und Walburga schnell ab. Frau John schließt die Tür hinter beiden.) Sie sind et, Pauline? Wat wollen Se denn?

DIE PIPERKARCKA.

Wat werde wollen? Et hat mir herjetrieben. Habe nich länger warten können. Muss sehn, wie steht.

[57]FRAU JOHN.

Wat denn? Wat soll denn stehn, Pauline?

DIE PIPERKARCKA

(mit etwas schlechtem Gewissen). Na, ob jesund is, ob jut in Stand.

FRAU JOHN.

Wat soll denn jesund, wat soll denn in Stande sind?

DIE PIPERKARCKA.

Dat sollen woll wissen von janz alleine.

FRAU JOHN.

Wat soll ick denn von alleene wissen?

DIE PIPERKARCKA.

Ob Kind auch nich zujestoßen is.

FRAU JOHN.

Wat for’n Kind? Un wat zujestoßen? Reden Se deitsch! Se blubbern ja man keen eenziget richtiget deitsches Wort aus de Fresse raus.

DIE PIPERKARCKA.

Wenn ick nur sagen, was wahr is, Frau John.

FRAU JOHN.

Na wat denn?

DIE PIPERKARCKA.

Mein Kind …

FRAU JOHN

(haut ihr eine gewaltige Backpfeife). … Det sache noch mal, un denn kriste so lange den Schuh um de Ohren, bis et dir vorkommt, det du ’ne Mutter von Drillinge bist. Nu raus! Un nu lass dir nich wieder blicken!

DIE PIPERKARCKA

(will fort. Rüttelt an der Tür, die aber verschlossen ist). Hat mir jeschlagen, zu Hilfe, zu Hilfe! Brauche mir nich jefallen zu lassen! (Weinend.) Aufmachen! Hat mir misshandelt Frau John!

FRAU JOHN

(vollkommen umgewandelt, umarmt Pauline, sie so zurückhaltend). Pauline, um Jottes willen, Pauline! Ick weeß nich, wat in mir jefahren hat! Sein Se man jut, ick leiste ja Abbitte! Wat soll ick tun? Pauline, soll ick fußfällig uff de Knie, Pauline, Pauline, Abbitte tun?

DIE PIPERKARCKA.

Was haben mir ins Jesicht jeschlagen? [58]Ick jehe zu Wache und zeigen an, det mir hier ins Jesicht jeschlagen hat. Ick zeigen an, ick gehen zu Wache.

FRAU JOHN

(hält ihr Gesicht hin). Da! hauste mir wieder in’t Jesicht! denn is et jut! denn is et verjlichen.

DIE PIPERKARCKA.

Ick jehe zu Wache …

FRAU JOHN.

Denn is et verjlichen. Ick sache, Mächen, denn is et, Mächen, sag ick, akkurat mit de Waage verjlichen! Wat wiste nu, Mächen? Nu jeradezu.

DIE PIPERKARCKA.

Wat soll mich nützen, wenn Backe jeschwollen is.

FRAU JOHN

(haut sich selbst einen Backenstreich). Da! Meine Backe is ooch jeschwollen. Mächen, hau zu, und jeniere dir nich. – Un denn komm, denn raus, watte uff’n Herzen hast. Ick will mittlerweile … ick koche inzwischen for Sie und for mir, Freilein Pauline, ’n rechten juten Bohnenkaffee, Jott weeß et, und keene Zichorientunke.

DIE PIPERKARCKA

(weicher). Warum sin denn auf einmal so niederträchtig und jrob zu mich armes Mächen, Frau John?

FRAU JOHN.

Det is et! det mecht ick alleene wissen! Komm Se, Pauline, setzen sich. So! Scheeneken sag ick! Setzen sich! Scheen, det Se mich ma besuchen komm! Wat ha ick von meine Mutter deswejen schon for Schmisse jekricht, ick bin doch aus Brickenberch jebürtig! weil ick mir manchmal ja nich jekannt habe. Die hat mehr wie eemal zu mich jesacht: Mädel, pass uff: du machst dir ma unglücklich. Det kann ooch sin, det se recht haben dut. Wie jeht’s, Pauline, wat machen Se denn?

DIE PIPERKARCKA

(legt Scheine und Silbergeld, die Hand [59]voll, ohne zu zählen, auf den Tisch). Hier is det Jeld: ick brauchen ihm nicht.

FRAU JOHN.

Ick weeß doch von keenen Jelde, Pauline.

DIE PIPERKARCKA.

Oh, werden woll janz jut wissen von Jeld! Et hat mir jebrannt. Et war mich wie Schlange unter Kopfkissen …

FRAU JOHN.

I wo denn …?

DIE PIPERKARCKA.

Is vorjekrochen, wo ick müde bin einjeschlafen. Hat mir jepeinigt, hat mir umringt! hat mir jequetscht, wo ick habe laut aufjeschrien, und meine Wirtin hat mir jefunden, wo ick fast abjestorben längelang auf Diele jelegen bin.

FRAU JOHN.

Lassen Se det man jut sind, Pauline! – Trinken Se erst ma’n kleenen Schnaps! (Sie gießt ihr Kognak ein.) Un dann essen Se erst ma’n Happenpappen: mein Mann hat jestern Jeburtstag gehat.

(Sie holt einen Streuselkuchen, von dem sie Streifen schneidet.)

DIE PIPERKARCKA.

I wo denn, ick mag nich essen, Frau John.

FRAU JOHN.

Det stärkt, det dut jut, det mussen Se essen! Aber ick muss mir doch freuen, Pauline, det Se doch wieder mit Ihre jute Natur bei Ihre Kräfte jekommen sin.

DIE PIPERKARCKA.

Nu will ick et aber mal sehn, Frau John.

FRAU JOHN.

Wat denn, Pauline? Wat wolln Se denn sehn?

DIE PIPERKARCKA.

Hätt ick laufen jekonnt, war’ ick früher jekomm. Das will jetzt sehn, warum jekommen bin.

(Frau John, deren fast kriechende Freundlichkeiten von angstvoll bebenden Lippen gekommen sind, erbleicht auf [60]eine unheilverkündende Weise und schweigt. Sie geht nach dem Küchenschrank, reißt die Kaffeemühle heraus und schüttet heftig Kaffeebohnen hinein. Sie setzt sich, quetscht die Kaffeemühle energisch zwischen die Knie, fasst die Kurbel und starrt mit einem verzehrenden Ausdruck namenlosen Hasses zur Piperkarcka hinüber.)

FRAU JOHN.

So? – Ach! – Wat wiste sehen? – Wat wiste nu jetzt uff eemal sehn? – Det, det watte hast mit deine zwee Hände erwürjen jewollt.

DIE PIPERKARCKA.

Ick? –

FRAU JOHN.

Wiste noch liejen? Ick werde dir anzeijen.

DIE PIPERKARCKA.

Nu haben mir aber jenug jequält und bis auf’t Blut jemartert, Frau John. Mir nachjestellt! mir Schritt und Tritt nich Ruhe jelassen. Bis haben Kind auf Oberboden auf Haufen alter Lumpen zu Welt jebracht. Mich Hoffnung jemacht, mit schlechten Spitzbubenjungen Angst jemacht. Mich Karten jelegt von wegen mein Bräutigam un weiterjehetzt, bis bin wie verrückt jeworden.

FRAU JOHN.

Det bist du ooch noch! Jawoll: du bist janz und jar verrückt! Wat, ick hab dir jequält? Wat hab ick? Ick habe dir aus’n Rinnstein jelesen! Ick hab dir jeholt bei Schneejestöber, bei de Normaluhr, wo de hast mit verzweifelte Oochen – un wie de hast ausjesehen! – hintern Lanternanzünder herjestarrt. Jawoll: denn ha ick dir nachjestellt, det dir der Schutzmann, det dir der jrüne Wachen, det dir der Deibel nich hat holen jekonnt! Ick habe dir keene Ruhe jelassen, ick ha dir jemartert, bis det de nich sollst mit dein Kind unterm Herzen in’t Wasser jehn. (Äfft ihr nach.) Ick jeh im Landwehrkanal, Mutter John! Ick erwürje det Kind! Ick ersteche det Wurm mit [61]meine Hutnadel! Ick jeh, ick lauf, wo der Lump von Vater sitzen un Zither spielen dut, mitten in’t Lokal, und schmeiß ihn det tote Kind vor die Fieße. Det haste jesacht, so haste jesprochen, so jing et den lieben langen Dach, un manchmal de halbe Nacht noch dazu, bis ick dir hab hier ins Bette jebracht un so lange jestreichelt, det de bist endlich injeschlafen un bist mittags um zwölf, wie die Glocken von alle Kirchen jeläut’t haben, an andern Dache erst wieder uffjewacht. Jawoll, so ha ick dir Angst jemacht, wieder Hoffnung jemacht, so ha ick dir keene Ruhe jelassen! Haste det allens verjessen, wat?

 

DIE PIPERKARCKA.

Aber et is doch mein Kind, Mutter John …

FRAU JOHN

(schreit). Denn hol et dir aus’n Landwehrkanale! (Sie springt auf, läuft umher und nimmt bald diesen, bald jenen Gegenstand in die Hand, um ihn sogleich wieder wegzuwerfen.)

DIE PIPERKARCKA.

Soll ick mein Kind nich ma sehen dürfen?

FRAU JOHN.

Spring in’t Wasser un such et! denn haste et! Weeß Jott, ick halte dir nu weiter nich.

DIE PIPERKARCKA.

Jut! Meejen mich schlachen, meejen mir prügeln, meejen mir schmeißen Wasserflasche an Kopp: eh nich weiß, wo Kind is, eh nich haben mit Augen jesehn, bringen mich keiner und niemand von Stelle fort.

FRAU JOHN

(einlenkend). Pauline, ick ha et in Flege jejeben.

DIE PIPERKARCKA.

Lieje! Ick hör et doch schmatzen, wo et janz jenau hintern Vorhang is! (Das Kind hinter dem Tapetenverschlag beginnt zu schreien. Die Piperkarcka [62]eilt auf den Vorhang zu, dabei nicht ohne falsche Note ein wenig pathetisch weinerlich rufend.) Weine nicht, armes, armes Jungchen, jutes Mutterchen kommen schon! (Frau John, fast von Sinnen, ist vor den Eingang gesprungen, den sie der Piperkarcka verstellt. Die Piperkarcka, ohnmächtig wimmernd, mit geballten Fäusten.) Soll mir jetzt zu mein Kinde reinlassen.

FRAU JOHN

(furchtbar verändert). Sieh mir ma an, Mächen! Mächen, sieh mir ma in’t Jesicht! – Jloobst du, det mit eene, die aussieht wie ich … det mit mir noch zu spaßen is? (Die Piperkarcka hat wimmernd Platz genommen.) Setz dir! flenne! wimmere! bis dir, ick weeß nich wat … jammere, bis det dir die Jurjel verschwollen is! det, wenn de hier rinwillst – denn bist du tot, oder ick bin tot – un denn is ooch det Jungchen nich mehr am Leben!

DIE PIPERKARCKA

(erhebt sich entschlossen). Denn jeben acht, was jeschehen, Frau John!

FRAU JOHN

(wiederum einlenkend). Pauline, die Sache is zwischen uns richtig un abjemacht. Wat wollen Se sich mit det Kindchen behängen, wo jetzt mein Kindeken und in beste Hände jeborjen is? Wat wollen Se denn mit det Kindeken uffstellen? Jehn Se zu Ihren Breitijam! da sollen Se woll mit den Besseres zu tun haben als Kinderjeschrei, Kindersorjen und Kimmernis.

DIE PIPERKARCKA.

Erst recht! Nu jerade! Nu muss er mir heiraten! – Haben alle … hat Frau Kielbacke, als ick mir mussen haben behandeln lassen, zu mich jesacht. Soll nich nachjeben! Muss mir heiraten. Auch Standesbeamte gab mich Rat. Hat jesacht, janz wütend, als ick haben erzählt, wohin jekrochen un habe Kind auf Dachboden [63]Welt jebracht … schreit janz wütend: ick muss nich nachlassen. Hat jesacht arme jeschundene Kreatur zu mich, Tasche jejriffen, Taler zwei Jroschen Jeld jeschenkt. Jut! lasse mir weiter nich ein, Frau John. Adje! Bin bloß jekommen, sowieso, dass morjen Nachmittag fünf zu Hause sind. Warum? weil morjen einjesetzter Pfleger von Jemeinde nachsehn kommt. Ick werde mir weiter hier noch rumärgern.

FRAU JOHN

(starr, entgeistert). Wat? du hast et jemeld uff’t Standesamt?

DIE PIPERKARCKA.

Etwa nich? Ick soll woll Jefängnis komm?

FRAU JOHN.

Wat hast du jemeldet beim Standesbeamten?

DIE PIPERKARCKA.

Sonst janischt, als det mit Knaben niederjekommen bin. Ick hab mir jeschämt, o Jott! bin über un über rot jeworden! Mir is, ick sink jleich in de Erde rin.

FRAU JOHN.

So! – Wenn de dir so jeschämt hast, Mächen, warum haste’s denn aber anjezeigt?

DIE PIPERKARCKA.

Weil mich meine Wirtin und ooch Frau Kielbacke, wo mich hinjeführt hat, mich partout nich Ruhe jejeben.

FRAU JOHN.

So! – Denn wissen se’t also uff’t Standesamt?

DIE PIPERKARCKA.

Na ja, det mussen se wissen, Frau John.

FRAU JOHN. …

Aber ha ick dir dat nich einjeschärft …? …

DIE PIPERKARCKA.

Det muss man melden! Soll ick denn abjeführt Untersuchung und Plötzensee gesteckt?

FRAU JOHN.

Ick ha doch jesacht: ick jeh et anmelden.

[64]DIE PIPERKARCKA.

Habe jleich bei Standesbeamte jefracht. Is keene jekommen, hat anjemeld’t.

FRAU JOHN.

Un wat haste nu also anjejeben?

DIE PIPERKARCKA.

Dass Aloisius Theophil heißen soll un dass bei Sie, Frau John, in Pflege is.

FRAU JOHN.

Un morjen will eener nachsehn komm?

DIE PIPERKARCKA.

Det is een Herr von de Vormundschaft. Was is denn weiter? Nun sin doch ruhig un sin vernünftig! Haben mich wirklich vorher Schrecken in alle Jlieder jejagt.

FRAU JOHN

(abwesend). Nu freilich: det is nu nich mehr zu ändern. Det is ja nu ooch in Jottes Namen nu jroß weiter nischt.

DIE PIPERKARCKA.

Gelt, un kann nu mein Kindchen auch sehn, Frau John?

FRAU JOHN.

Heute nich! Morjen, morjen, Pauline.

DIE PIPERKARCKA.

Warum nich heut?

FRAU JOHN.

Weil det det Beschreien nich jut dut, Pauline! Also morjen, um Uhre fünfen nachmittag?

DIE PIPERKARCKA.

Steht jeschrieben, sagt mir Wirtin, dass Herr von die Stadt Uhren fünfen morjen nachsehn kommt.

FRAU JOHN

(indem sie die Piperkarcka hinausschiebt und selbst mit hinausgeht, im Tone der Abwesenheit). Jut so. Lass er man kommen, Mächen.

(Frau John ist einen Augenblick auf den Flur hinausgetreten und kommt ohne die Piperkarcka wieder herein. Sie ist seltsam verändert und geistesabwesend. Sie tut einige hastige Schritte gegen die Verschlagstür, steht jedoch plötzlich wieder still mit einem Gesichtsausdruck vergeblichen Nachsinnens. Dieses Grübeln unterbricht sie, heftig [65]gegen das Fenster zu eilend. Hier wendet sie sich, und wieder erscheint der hilflose Ausdruck schwerer Bewusstlosigkeit. Langsam, wie eine Nachtwandlerin, tritt sie an den Tisch und lässt sich daran nieder, das Kinn in die Hand stützend. Nun erscheint Selma Knobbe in der Tür.)

SELMA.

Mutter schläft, Frau John. Ick ha solchen Hunger. Kann ick’n Happen Brot kriejen? (Frau John erhebt sich mechanisch und schneidet ein Stück von einem Laib Brot, wie unter dem Einfluss einer Suggestion. Selma, der die Verfassung der Frau auffällt.) Ick bin’s! – Wat is denn? – Schneiden sich man bloß nich etwa mit Brotmesser.

FRAU JOHN

(mit trockenem Röcheln, das sie mehr und mehr überwältigt, indem sie Brot und Brotmesser willenlos auf den Tisch gleiten lässt). Angst! – Sorje! – Da wisst ihr nischt von! (Sie zittert und sucht einen Halt, um nicht umzusinken.)

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