Die Zeit auf alten Uhren

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Anna Kolik

Die medizinische Bibliothek meiner Tante Mirtel enthielt manchen Band, der mir in Kindertagen besonders rätselhaft und furchteinflößend erschien. Jahre später bin ich beim Entrümpeln auf eine Schwarte gestoßen, die mir bereits damals einigen Schauder über den Rücken gejagt hat. Es handelte sich um Hufelands gelehrte Abhandlung über den Scheintod. Sobald ich darin zu blättern begann, erinnerte ich mich an meine Begegnung mit Anna Kolik, einer Flüchtlingsfrau, die kurz nach dem Krieg von der Gemeindeverwaltung in einem verlassenen Bauernhaus untergebracht war, dessen einstige Besitzer ohne Nachkommen verstorben waren. Das Anwesen war deshalb an die Gemeinde übergegangen und wurde nur noch vom Straßenwart und Wegemacher Hans Nicolussi bewohnt. Ich war Anna Kolik einen Entschuldigungsbesuch schuldig, weil ich ihr mit der Steinschleuder eine Fensterscheibe zerschossen hatte. Meine Tante hatte mir dringend zugeredet, die Sache umgehend aus der Welt zu schaffen.

Die grün gestrichene Holztür zu Anna Koliks Behausung konnte nicht einmal abgesperrt werden. Lediglich eine altmodische Schnalle hielt sie notdürftig am Rahmen, durch die Ritzen fiel schräg das Licht in den gemauerten Gang, der mit einer Türe zur einstigen Waschküche, mit der anderen, einem Lattengitter, dessen Schloss aus einem quergelegten, in die Öffnung geschobenen abgebrochenen Kochlöffel bestand, aber zum Kellerloch führte, welches völlig finster war. Dies war der Hausgang von Anna Kolik, die von einem wacklig an die Wand genagelten Zigarrenkistchen eine Packung Streichhölzer nahm, ein Zündholz anriss und damit einen aus dem Kistchen hervorgezauberten Kerzenstummel entzündete, um den unverhofften Besuch anzuleuchten. Sobald ich in Anna Koliks Verschlag stand, glaubte ich, in einer Gruft zu sein und Verwesendes zu riechen. Ein feuchter Kuchen, auf einem Teller auf dem in der Mitte des Raumes stehenden rohen Waschtisch liegend, moderte vor sich hin. Daneben stand eine sehr große Tasse mit einem aufgemalten Enzian, ein blechern schimmernder Kaffeelöffel steckte in einer Art Kakao oder Schokoladenpudding, welcher gleichfalls schon einige Tage alt zu sein schien, über den Tisch verteilt lagen Brotrinden, teils angenagt, teils mit dem Messer flach geschabt. Auf einer bräunlich schäbigen Kommode entdeckte ich neben schmutzigem Geschirr einen kleinen Brotkasten, dessen Schuber aus schmalen, eng aneinander liegenden Brettchen wie der Verschluss des Armaturenbrettes im Schienenbus aussah, mit dem ich täglich als Fahrschüler unterwegs war. Anna Kolik war in einen schwarzen Schal gehüllt, so dass nach orientalischem Vorbild nur die Augen sichtbar waren. Sie schlurfte voraus und hieß mich mit einer Bewegung ihres Krückstockes, an dem mich die vom einseitigen Belasten schräg abgewetzte Gummikappe faszinierte, auf einem der beiden Holzstühle Platz zu nehmen. Sie selbst versank ächzend in einem knarrenden Korbsessel mit schwarzen Knöpfen an beiden Enden der durchgezogenen Armlehne, den sie energisch neben ihr gewaltig aufgetürmtes Bett gerückt hatte, welches mit einer Art schwerem Vorhang bedeckt war, seinem Muster zufolge vermutlich türkischer Herkunft. Die zu Sehschlitzen verengten Augen fragten, ob ich einen Schluck von dem bräunlichen Gebräu oder ein Stück von dem feuchtmarmornen Kuchen wolle, was ich mit beflissenem, krampfhaft höflichem Kopfschütteln quittierte.

Noch war kein Wort gefallen, noch hörten wir nur das Tropfen des drohend aus der Wand wachsenden Wasserhahnes, unter dem auf einem krummen Hocker eine Schüssel mit verwittertem Emailleboden stand. Mein trotz aller Furcht neugierig umherschweifender Blick blieb an dem Nachtkästchen, genauer an dem gestickten Deckchen über der Glasplatte hängen, die von vier Nasen gehalten wurde. Dort lag ein dickes Buch. Gerade in der Sekunde, da ich es entdeckt hatte, schien sich Anna Kolik dieser Nachlässigkeit wegen zu schämen, griff mit gichtigen Fingern hinüber zu dem in braunes Packpapier eingeschlagenen Band und meinte halblaut, Schriften über den Tod seien nichts für einen Jungen in meinem Alter, auch wenn er auf die Lateinschule gehe, wie sie wisse. Ich für meinen Teil wollte meine lästige Pflicht der Entschuldigung so schnell wie möglich loswerden, doch auch dies schien Anna Kolik sofort bemerkt zu haben. Immer stärker setzte sich in mir der Verdacht fest, sie habe eine ähnliche Gabe des Vorhersehens wie meine Tante Mirtel, auch sie besitze ein unbestechliches Gedächtnis, welches alles aufbewahre, nach dessen Verlust aber sich jemand wie ich in solcher Lage sehnte. Noch ehe ich meinen Entschuldigungssatz, den ich den halben Vormittag auswendig gelernt hatte, ausstoßen konnte, war mir Anna Kolik schon nach Art alter Leute blitzschnell zuvorgekommen. „Geschenkt“, winkte sie ab, und ich glaubte in meiner Verzweiflung, sie hinter dem schwarzen Strickschal, den sie unentwegt vor ihren Mund hielt, lächeln zu sehen: ein furchterregendes Lächeln, das sich über die ausgefransten Mundwinkel hinaus zu verlängern schien.

Halbverkrüppelte Finger mit Knorpeln, Schrunden und Warzen, Auswüchsen und kleinen, rötlich-violett schimmernden Geschwüren unter den Nagelbetten blätterten jetzt in dem Buch, dessen Titel von fettigem Papier verborgen wurde. Der bedrohlich wirkende Krückstock lehnte schräg und sprungbereit wie ein Kettenhund am knirschenden Korbsessel, ein dunkler Rock streifte den kalten Steinboden, auf dem ein löchriger, an den Rändern provisorisch eingenähter Flickenteppich lag, demütig wie ein Fußabstreifer. Unter dem Rock lugten schwarze, überraschend große knöchelhohe, durch eine schmale Blechschließe zusammengehaltene Filzpantoffeln mit absatzloser Sohle hervor, bewegungslos nebeneinander stehend, wie Wachsoldaten, tot verharrend. Von märchenhexenhaftem Kichern begleitet langte Anna Kolik ruckartig nach dem Kuchenteller und riss ein Stück von dem backpulverfarbenen Mehlklumpen ab, um es zwischen ihren gelblich schimmernden, in großem Abstand auseinander stehenden Zähnen verschwinden zu lassen. Erst jetzt sah ich, dass Anna Kolik Handschuhe trug, eine Art verlängerter Pulswärmer, die bis zu den mittleren Fingerknöchelchen reichten, wo schwarze Fransen wie ungekämmte Haare fischhäutig abstanden. Meine Eltern, hob Anna Kolik schnaufend an, seien Herbergseltern gewesen, Wirtsleute, welche unter eine Lawine geraten seien. Ich wusste auf der Stelle, dass dies glatt gelogen war. Aber warum erzählte mir die alte Frau solche Schauermärchen? Auch die nächsten Sätze ihres zwischen Zahnschluchten zischend hervorgestoßenen Berichtes ließen mich wieder frieren: meine Eltern seien erstickt, sagte die Flüchtlingsfrau, deren entstelltes Gesicht ich nun gerne ganz gesehen hätte. Erstickt, wiederholte sie mehrmals, spitz und eine Spur zu hämisch. Ächzend erhob sie sich vom Korbstuhl, um eine Runde in dem dunklen und kalten Waschraum zu drehen und sich endlich wieder mit einer stützenden Hand auf dem Stock, der anderen, aufstöhnend, flach auf die linke Hüfte gepresst am Fenstersims zwischen zwei verzweifelt grünenden Geranienstöckchen auszuruhen, als sei es zu dem ersehnten Stuhl noch meilenweit zu gehen. Wortlos hatte sie diesen nach der theatralischen Verschnaufpause erreicht, ließ sich erneut ächzend nieder, das Jammern des Stuhles in die eigene Klage mischend. Als man meine armen Eltern geborgen habe, wusste Anna Kolik mit krumm gestrecktem Zeigefinger zu korrigieren, seien sie in Wirklichkeit noch gar nicht richtig tot gewesen, sondern hätten in tiefer Bewusstlosigkeit auf Wiederbelebungsversuche gehofft; sie selbst kenne das von ihrer Flucht über die Kurische Nehrung, wo sie in die Gesichter zerfetzter Greise, gemarterter Kinder und geschändeter Mädchen und Frauen geblickt habe. Ihr könne man nichts mehr vormachen, sie habe alles gesehen und noch mehr, meine Eltern seien – und hier durchfuhr es mich eisig lähmend – scheintot begraben worden, scheintot, scheintot, erst im Sarg seien sie wirklich erstickt, erst im Sarg, unter der Erde, die man auf sie geworfen habe. Jawohl, sie seien nicht verschollen geblieben, man habe sie schon nach einer halben Stunde nach Niedergehen der Lawine ausgegraben, auf Hörnerschlitten ins Tal gebracht und scheintot begraben. Scheintot. Sie hätten noch geatmet, noch gelebt, als der Pfarrer über ihnen das Kreuz gemacht habe zum Zeichen des Eintritts in alle Ewigkeit, Amen. Hierin kenne sie sich aus, denn das Buch, und Anna Koliks gichtige Finger mit den schmutzigen, entzündeten Nägeln klopften auf den schweren Band, welches in schützendes Papier, das sie vom Metzger habe, gehüllt sei, aus gutem Grund überdies, sei die Geschichte des Scheintodes, verfasst von einem spanischen Privatgelehrten, von dem sie einst im Osten, sie wisse nicht mehr, ob es in Dorpat, Riga oder Reval gewesen sei, vierzehn Tage lang jeden Abend einen Vortrag gehört habe: Auszüge aus seinen Forschungen, wie er sie später in jenem bestürzenden Werk niedergelegt habe. Wieder stopfte sie ein Stück von dem abscheulichen Kuchen in ihren Mund, lüftete hierzu blitzschnell das schwarze Tuch, um sofort die halbbehandschuhten Finger darunter verschwinden zu lassen. Erneut gelang es mir nicht, einen Scherben der Hässlichkeit, einen Beweis der Verunstaltung damals auf der Kurischen Nehrung zu erheischen. Noch einmal wagte ich zaghaft, nach einigem Räuspern jedoch mutiger werdend, einen Versuch, um Verzeihung wegen der zerschossenen Fensterscheibe zu bitten, doch energisch wischte sie meinen Versuch diesmal mit dem Stock beiseite, eine Steigerung also des Signals, dass sie keinerlei Unterbrechung noch irgendeinen Widerspruch dulde.

Anna Koliks Finger griffen knorpelig und verwachsen zu dem Buch. Die Geschichte des Scheintodes. Cronica de la Muerte aparente. Von Don Jaime Bonfante, aus dem verzweigten Geschlecht spaniolischer Devotionalienhändler. Der erste Mann ihres Lebens sei ebenfalls Spanier gewesen. So sei es: Dummheit und Ignoranz verwechselten den Todesschlaf der Jungfrau Maria vor ihrer Himmelfahrt mit einem Scheintod, wie er das Mädchen befallen habe, welches, unterwegs im Wald, Wegelagerer zu vergewaltigen versucht hätten, hob Anna Kolik sich rechtfertigend an, obwohl ihr niemand widersprochen hätte bei solch herrischer Stimme.

 

Als ich mich einmischen wollte, um zu zeigen, dass ich in der Schule aufgepasst hatte, wehrte sie ab: Barbarossas bartwuchsfördernder Schlaf im Kyffhäuser oder Dornröschen seien ungeeignete Lesebuchbeispiele. Der von ihr hochgeschätzte spaniolische Wissenschaftler, ein Kopf vom Kaliber Lenins, dessen historisches, achthundertzweiundzwanzig Seiten zählendes Lebenswerk ein Quell seltener Erkenntnis sei, arbeite reichhaltige Spezialliteratur zu den aus Gräbern und Grüften vernommenen Schreien sowie fressenden Leichnamen auf, um schließlich schlüssig zu beweisen, dass sämtliche pompösen, aber auch bürgerlich hilflosen Grablegungsriten letztlich nichts als Vorsichtsmaßnahmen gewesen seien, um vorschnelle Beerdigungen zu verhindern: Drei Tage gebe man dem dreimal laut Angerufenen Frist. Selbst Tolstoi habe man, nach Art der Päpste auf dem Sterbebett, als er auf einer gottverlassenen Bahnstation mit dem Tod gerungen, noch einmal dreimal beim Vornamen gerufen. Niemals habe man einem lärmend ausgeschmückten Leichnam das Gesicht verhüllt, wie sie, Anna Kolik, eine der namenlos Gedemütigten aus dem Osten, es aus gutem Grund tue. Das Geschrei der Klageweiber schließlich ziele in Wirklichkeit auf skeptische Kontrolle.

Aufgeregt wetzte ich auf meinem Stuhl hin und her, die einstige Waschküche des aufgelassenen Bauernhofes kam mir noch düsterer und feuchter vor, als sie beim Eintreten einschüchternd auf mich gewirkt hatte.

Schon im Sarg, als der Henkel gebrochen und die Kiste polternd auf das Pflaster geschlagen sei, habe sich ein schöner Jüngling noch einmal retten können. So mancher sei von der Bahre gesprungen, so manche Leiche habe das Tuch zerrissen, um aus der Grube zu fahren und ihrer Wege zu gehen, Scheintote hätten später nicht selten noch etliche Kinder gezeugt oder geboren. Aber wie oft habe man fahrlässig gehandelt oder nichts bemerkt und unübersehbare Zeichen als Einbildung krankhafter Betschwestern abgetan? Könne man ermessen, ereiferte sich Anna Kolik, jetzt flinker mit den Knorpelfingern in dem Buch blätternd, welcher Schrecken Leichenfledderern in die Glieder gefahren sei, als sie, eben noch mit dem Abstreifen der Ringe von den erstarrten Knöchelchen beschäftigt, den Beraubten sich regen sahen? Nicht wenige Erblasser hätten vor der Eröffnung des Testamentes verlangt, dass man sie mit glühenden Zangen verschiedener Proben unterziehe: eine französische Prinzessin habe sogar angeordnet, man solle ihr vor der endgültigen Grablegung Bambusspieße oder Zahnstocher zwischen die Zehennägel zaubern. Bei der zunehmenden Sehnsucht nach Ordnung sei man zuletzt der Idee verfallen, jedwedes Abscheiden durch Gesetz von zwei Zeugen beglaubigen zu lassen, ehe man den Corpus, wie Anna Kolik sagte, auf stacheligem Rosshaar in kalter Luft aufgebahrt habe: Abstellräume, Waschküchen, Asyle des zweifelhaften Lebens. Der spaniolische Gelehrte führe wundersam aufregende Belege an, Geschichten aus De miraculis cadaverum – auch sie habe Latein gelernt, einst, in einem heute zusammengeschossenen Kloster, befreundet mit den von strengen Institutsfräulein erzogenen höheren Töchtern des Ostens, welche unvergleichlich stolz ihre linnene Tracht zu tragen verstünden. Leichen, wie der Spaniole schreibe, die bluteten, bissen, schwitzten, bei denen Haare und Nägel unaufhörlich wüchsen: verzweifelte Beweise einer monströsen Anomalie, niedergelegt in den Debatten eifriger Gelehrter über die Existenz einer Todeszeit. In jenen Tagen habe man außerdem, beiseite gesprochen, das Vergessen kunstfertigen Einbalsamierens zugunsten einer neuen Medizin eingeleitet.

Ich suchte nach Halt in der eisigen Waschküche und hätte mich am liebsten zwischen zwei in die Blechschüssel schlagenden Tropfen des Wasserhahns an der Wand unter dem Kissengebirge von Anna Koliks Bett versteckt, hätte ich nicht auch dort die ekligen Reste des nassschweren Kuchens und Flecken erkalteten Kakaos vermutet. So hielt ich mich mit klammen Fingern am Stuhl und schickte meinen Blick auf das vor dem Fenster sorgfältig aufgeschichtete, kleingehackte Brennholz, das Anna Kolik mühsam mit Lederriemen und groben Stricken, Abfällen vermutlich aus dem Papierkorb der Postagentur, verschnürt aus dem Wald herbeigeschleppt hatte: jeder Schritt ein Wagnis, jeder gemeisterte Meter Beweis für die zappelnd zähe Überwindung der allen Lebewesen anhaftenden Schwerkraft.

Anna Koliks Augen weiteten sich, als blickten sie auf ein Meer, vielleicht auf das jenseits der Kurischen Nehrung, auf der man ihr Gewalt angetan und sie für ihr Lebtag entstellt hatte, ihre Hände suchten den Knoten am Hinterkopf, prüfend, ob das Geflecht in Ordnung sei, woraufhin wieder sorgfältig das schwarze Tuch über das Haar gebreitet wurde.

Ich hätte mich gerne hinter den über dem Kanonenöfchen entlang dem Ofenrohr quer durch den Raum auf ein Waschseil gespannten Lumpen, Handtüchern und Hemden verborgen, die schützenden Hände meiner Tante Mirtel sehnlichst herbeiwünschend. Konnte sie nicht auf der Stelle mit dem Hubschrauber wie Lurchi Salamander, der Held meiner Kindheit, einfliegen? Anna Kolik aber schlug, meine Gedanken ertappend, die letzte Seite des Folianten auf, legte das umfangreiche Werk in ihren Schoß, holte eine Drahtbrille aus einem schnappenden Etui, welches wie ein luxuriöser Sarg mit leuchtend grünem Filz ausgelegt war, setzte die Brille nach Art alter Frauen auf ihre stattliche Nase und las, ihr schützendes Tuch in einigem Abstand vor ihrem Mund, so dass sie die Worte in baltischem Singsang deutlich rollen lassen konnte, die letzten Sätze aus dem einzigen Buch vor, das sie besaß:

„In der Nähe der Schleusentore, durch welche die Natur in die Bezirke der Menschen eindringt, haben wir begonnen, schweigend Angst vor dem Tod zu haben. Denn alles Verlorene möchte wiedergefunden, will neu erschaffen und sich selbst zurückgegeben werden: aufgelesen auf einer langen Wanderung entlang der Strecke im Nebel, einer zügellosen Reise über den Schnee, in der flimmernden Erwartung, unter einem unbegreiflich hellen Himmel mit erhabenem Stolz einzusinken, und keiner würde wissen, wie tief.“

Anna Kolik schloss sanft das Buch und wandte sich ab, dem Fenster zu, sah hinaus und schwieg. Über mir hörte ich Schritte, jemand ging durch den Flur des aufgelassenen Bauernhofes, die dunkle Holzstiege hinauf, vorbei an den Regenmänteln und Lodenumhängen, eine Tür schlug: Der Wegemacher und Straßenwart Hans Nicolussi kehrte nach Hause zurück. Ich nahm dies als willkommenes Zeichen und schlich mich auf leisen Sohlen davon. Anna Kolik stand gedankenversunken noch immer am Fenster, hielt sich das Tuch vor den Mund und hatte weite Augen, sehr weit.

Walburg

Einmal, manchmal auch zweimal in der Woche kommt eine Frau namens Walburg in das Haus meiner Tante Mirtel, um aufzuräumen, mit dem Staubsauger durch die Räume zu fahren und die Wäsche zu waschen. Die Walburg ist eine Stille, eine ganz Bescheidene, die nicht viel Aufhebens von sich macht. Und sie ist fleißig, weswegen sie bei meiner Tante einen Stein im Brett hat.

Walburg stammt aus Nesselwang, sie ist Kaspars Frau und Mutter der Söhne Luis und Baptist und Firmian, welcher zur See fahren wird. Walburgs Lieblingslied ist das Lieblingslied des Prinzregenten Luitpold: „Fein sein, beinander bleib'n“. Fein sein, beinander bleib'n. Das wollte Walburg immer. Sie ist ihrem Mann eine brave Frau und den Söhnen eine gute Mutter. Walburg kennt die Arbeit, nie hat sie einen Bogen um sie geschlagen, nie ist sie ihr ausgewichen, schon als Kind ist sie mit den anderen neun Geschwistern dem Vater zur Hand gegangen, hat ihm das Zaumzeug gehalten, das Leder eingefettet und als Älteste nach dem frühen Tod der Mutter den Haushalt geführt und die Geschwister großgezogen. Die Walburg ist dünn wie ein Stecken, aber sie kann zupacken. Es macht ihr nichts aus, im Bahnhofhotel in der Küche zu helfen, es macht ihr nichts aus, bei fremden Herrschaften zu putzen oder zur Verstärkung geholt zu werden, wenn ein Fest gefeiert wird, um aufzutragen und abzuspülen. Jeden Pfennig legt sie auf die Seite, jeden Groschen liefert sie bei Kaspar ab, der sich den Bau eines Häuschens in den Kopf gesetzt hat: Fein sein, beinander bleib'n.

Und weil ich die Walburg gern habe, weil sie immer gut zu mir ist, frage ich eines Tages meine Tante, was es mit der Walburg auf sich hat. Die Tante aber vertröstet mich zuerst, weil ich jedoch nicht locker lasse und immer wieder frage und bohre, erzählt sie mir eines Abends aus ihrem Lehnstuhl heraus bei einem Zigarillo Walburgs Geschichte:

Die Geschichte von Walburg beginnt lange vor dem Krieg. Da sucht nämlich der Leiter des Reichsarbeitsdienstlagers drunten im Meilinger Bad an der Vils eines Tages eine zuverlässige Kraft für das, was so anfällt an Wäsche von seinen Männern. Die Walburg rechnet im Kopf schnell nach, macht ein Angebot und erhält sogleich den Zuschlag. Schon wird im Hof des Bahnhofrückgebäudes ein großer Kessel mit Ofenrohr aufgestellt, schon schichten die Söhne Luis und Baptist und Firmian das Schürholz auf, schon wächst die Holzbeige, schon wird die Waschküche hergerichtet für die schmutzige Wäsche aus dem Lager.

Meine Tante Mirtel erzählt, wie der erste Lastwagen heran rollt, wie die Männer in ihren Knobelbechern von der Ladefläche springen, wie sie Körbe prallvoll mit Unterhosen und Unterhemden, Jacken, Socken, Leibchen und Pullovern, Uniformblusen und Sonntagshemden vom Lkw hieven, indes Walburg ein Seil spannt kreuzquer über die Wiese. Die Frau füllt den großen Kessel Schaff um Schaff, bereitet eine Lauge, heizt und schürt, bis die Lauge kocht, in die sie die Schmutzwäsche wirft, um mit einem schon ausgebleichten breiten Holz langsam umzurühren und die einzelnen Stücke aus dem brodelnden Laugenwasser zu holen. Nie hat es ihr bislang etwas ausgemacht, anderer Leute Dreck aufzuräumen oder fremder Leute Wäsche zu waschen. Aber als sie die verstunkenen Fußlappen des Arbeitsdienstes in die Nase bekommt, als diese Beize aufsteigt und sich einfrisst, da spürt sie einen Widerwillen, da muss sie schlucken, dass es ihr nicht hochkommt, zwei-, dreimal muss sie schlucken und schlucken, dass es sie nicht würgt. Von der ersten Wäsche an widersteht ihr alles, was mit dem Reichsarbeitsdienst zusammenhängt. Aber sie traut sich nicht, es Kaspar, ihrem Mann, zu sagen. Sie glaubt, das sei nur eine Empfindlichkeit, die ihr nicht zustehe, sie denkt an den Wäschepfennig und was sie bekommt pro Kilo und daran, wie der Pfennig in das Häuschen wandert, das Kaspar mit Hilfe seiner Söhne bauen will: Fein sein, beinander bleib'n. Zeitweilig nimmt das Häuschen die Form einer Sparbüchse an, aber das ist der Walburg bloß recht. Sie weiß genau, was ihr Hausvorstand hält von Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit und dass man es damit zu etwas bringen kann, wenn man nur will. Deshalb schluckt sie und versucht, nicht länger an die Fußlappen des Arbeitsdienstes zu denken. Sie will sich die Männer auch gar nicht vorstellen: weder bei ihrer Arbeit noch abends, wenn sie die verschwitzten Füße lüften, die Socken ausziehen, Tarock spielen und ab und zu mit den Fingern zwischen den Zehen popeln oder die Fußnägel wegreißen.

Nein, sagt meine Tante Mirtel, das will sich die Walburg gar nicht erst ausmalen, weil sie sonst sofort wieder schlucken muss, und das will sie nicht, weil sie die Socken wegen des Häuschens waschen muss, weil sie die verseichten Unterhosen in die Brühe tauchen muss, weil sie die Wäsche aufhängen muss auf der Leine hinter dem Haus, Tag für Tag, für das Reichsarbeitsdienstlager, wegen des Häuschens, das da auch an der Leine hängt und im kochenden Kessel schwimmt wie die Hemden und die Fußlappen mit ihrem beizenden Geruch, der nicht mehr aus der Nase will: als wäre sie Fischverkäuferin. So stellt sich Walburg eine Fischverkäuferin vor: die Finger eisblau und ewig stinkend. Ewig. Aber die Walburg will keine Fischfrau sein. Wenn sie die schmutzige Wäsche gewaschen hat, will sie den Gestank der Fußlappen nicht aus der Waschküche in die Wohnung tragen, sie will nicht das Essen damit berühren, das sie ihren vier Männern kocht, wie sie gerne sagt. Es soll ihr keiner anmerken, wie sehr ihr die Wäscherei widersteht, wie ihr zuwider ist, was sie da auf sich genommen hat, bloß weil es in dem schönen Lied heißt: Fein sein, beinander bleib'n. Wieviele Dachziegel kann man vom Waschpfennig kaufen, wieviele Kilo Rafennägel, wieviele Schalbretter? Obgleich die Pläne für unser Oma ihr klein Häuschen immer schmächtiger werden und bescheidener, denkt die Walburg beim Umrühren des großen Kessels gerne daran, wie sie die Küche einrichten wird, wo das Sofa stehen soll, die Gautsche, wie man bei ihr daheim in Nesselwang dazu sagt, welches Bild über dem Ehebett hängen soll, ob es unser Herr am Ölberg ist oder die Darstellung der Muttergottes mit dem Schwert in der Brust.

 

Meine Tante Mirtel malt mir mit Worten die Walburg, wie sie sich auf der Veranda sitzen sieht in einem Korbstuhl, wie sie Wolle aufwickelt, um einem der Buben einen Janker zu stricken, wie sie mit besonderer Aufmerksamkeit auf Firmian blickt, weil er so unruhig ist, immer ein Treibauf und jäh und gach, denn die Walburg kann nicht wissen, dass Firmian eines Tages Schiffsoffizier und der Herr der sieben Meere werden wird.

Auch bei Regenwetter muss für den Reichsarbeitsdienst gewaschen werden. Zweimal die Woche fährt der Lkw vor und lädt ab, zweimal die Woche wird einer Frau schlecht vor dem Aufheizen des Kessels, der nur im Sommer im Freien steht, im Winter aber zwischen anderen seifenbleichen Schäffchen und Kübeln in der Waschküche, in der es nie richtig trocken wird, so sehr die Walburg auch lüftet. Kaspar hackt nach Feierabend das Holz, spaltet die Scheiter für den Waschkessel, während er die Söhne dazu anhält, sauber und ordentlich die Holzbeige zu errichten, denn Ordnung muss sein, wo kämen wir da sonst hin bei der Eisenbahn, bei der Kaspar beschäftigt ist, der er seine Seele verkauft hat.

Und immer wieder muss Kaspar auf seine Schweizeruhr schauen, immer will er, der Eisenbahner, wissen, wie spät es ist, immer muss er auf Zeiger und Zifferblatt starren wie ein Firmling und seine Söhne heimlich stoppen: welcher braucht am längsten für das Aufschichten des Kleingehackten, welcher macht es am ordentlichsten? Keine Frage: Es ist unser Baptist. Unser Baptist macht immer die schönsten Holzbeigen. Immer braucht er den Vater. Immer muss er gesagt bekommen, was er zu tun hat. Immer tut er, was der Stärkste von ihm verlangt. Walburg sieht mit Stolz und ein wenig Entsetzen, wie ängstlich ihr Baptist ist und wie ordentlich. Warum kann er nie für das geradestehen, was er getan hat? Warum muss er sich immer nach den anderen richten? Warum sagt er nie, was er denkt? Warum tut er nie, was er denkt? Luis dagegen ist verschlossen. Er rennt einfach los, wenn es ihm zu viel wird. Luis wird Langstreckenläufer. Schon jetzt nennen ihn seine Freunde nicht bei seinem richtigen Namen Luis, sondern Nurmi. In aller Frühe kann man ihn auf die Berge rennen sehen. Je dünner die Luft wird, desto wohler fühlt er sich. Luis wird Langstreckenläufer und Bergführer. Die Touristinnen können sich auf seinen starken Arm verlassen. Luis weiß das. Allmählich beginnt er, mit seinem Kapital zu wuchern. Firmian ist ein Hitzkopf'. Die Feinmechanikerlehre passt ihm überhaupt nicht. Wie oft hat er schon mit der Feile auf das in den Schraubstock gespannte Eisenstück geschlagen? Wie oft hat ihm der Meister deshalb eine Ohrfeige gegeben? Firmian will hinaus. Sein Kopf ist in den Wolken. Von seinem ersten Lohn hat er sich einen Atlas gekauft. Er war schon überall, und überall kommt er hin mit dem Finger auf der Landkarte. Aber das reicht ihm nicht.

Vorerst wird das Häuschen gebaut: koste es, was es wolle. Kaspar muss sein Häuschen haben. Er schaut auf die Uhr, als könne er ablesen, wie lange es noch dauern wird. Das Häuschen wird gebaut. Kaspar baut es mit der Uhr in der Hand, Walburg baut es beim Waschen der Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes, Luis baut es mit zusammengekniffenen Lippen, Baptist baut es aus Gehorsam, Firmian baut es mit Flüchen inwendig und nach außen. Wie lange noch? Stein auf Stein. Das Häuschen wird bald fertig sein.

Gegen die stinkenden Fußlappen kämpft Walburg mit Zungenbrechern. Während sie den Kessel heizt und die Lauge umrührt mit dem seifenbleichen Holz, sagt sie immer häufiger: Wir Wiener Weiber wollen weiße Wäsche waschen, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser wär. Fein sein, beinander bleib'n. Das summt sie dazwischen. Fein sein, wenn wir wüssten, wo warmes Wasser. Zeigt her eure Füßchen. Zeigt her eure Schuh. Wir schauen den fleißigen Waschfrauen zu. Aber der Gestank der Fußlappen widersteht Walburg trotzdem. Da hilft alles fein sein, beinander bleib'n nichts. Da helfen die Wiener Weiber nichts und nichts die fleißigen Waschfrauen. Die Fußlappen stinken. Die Unterhosen seicheln. Die Unterhemden schweißeln. Die Oberhemden müffeln. Manche Hosen sind vorne gelb und starr vor Urin. Aber das Häuschen muss gebaut werden. Die Kinder sollen es einmal besser haben. Eine Küche und eine gute Stube, ein Schlafzimmer und ein Zimmer für die Söhne, die sich ihren Anteil erarbeiten müssen: mit und ohne das Bedienungsgeld der leichten Frieda mit ihrem Mieder, an dem immer ein Knopf zu wenig geschlossen ist.

Wenn wir wüssten wo warmes Wasser wär. Das kalte Wasser kommt zuerst in den großen Kessel. Dort wird es zum Kochen gebracht. Die Lauge wird in kleinere Schäffchen umgefüllt: kübelweise. Ein Schäffchen für die Unterhosen, ein Schäffchen für die Fußlappen, ein Schäffchen zum Spülen. Die Lauge im Schäffchen für die Fußlappen muss besonders heiß sein, weil die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes besonders stinken. Jedes Schäffchen steht auf einem hölzernen Bock, der aussieht wie ein Kreuz. .Jedes Schäffchen hat links und rechts einen über den Rand hinausstehenden hölzernen Griff. Jedes Schäffchen enthält kochend heiße Lauge. Stein auf Stein, das Häuschen wird bald fertig sein. Kübelweise gießt Walburg aus dem Kessel die Lauge in die Schäffchen. An manchen Tagen ist der Gestank der schmutzigen Wäsche unerträglich. Schon in der Früh kann die Walburg nichts essen, weil ihr sofort alles widersteht. Als sei sie in anderen Umständen. Ihr ist, als liegen da keine Milchbrocken in der Schüssel, sondern die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes.

Da zaubert mir meine Tante Mirtel mit ihren Rauchwolken ein neues Bild. Wieder sehe ich Walburg. Sie trägt eine Wickelschürze, steht barfuß in Holzpantoffeln in der Waschküche. Sie verteilt die Schäffchen rund um den Kessel. Sie heizt den Kessel. Kübelweise schüttet sie die siedend heiße Lauge in die einzelnen Schäffchen. Der Lkw des Reichsarbeitsdienstes fährt vor. Zwei Männer springen von der Ladefläche, zwei Männer laden ab: körbeweise Fußlappen, körbeweise Unterhosen, körbeweise Hemden. Singend tragen die Männer die Körbe in Walburgs Waschküche. Die Reihen dicht geschlossen. Und noch einen Korb. Blüht ein Blümelein. Und das heißt. Noch einen Korb und noch einen. Eeerika. Schon widersteht es der Walburg. Schon springen die Männer auf den Lkw zurück, schon biegt er aus dem Hof. Stein auf Stein. Das Häuschen wird bald fertig sein. Die Holzpantinen klopfen. Schritt für Schritt. Und die erste und die zweite Hypothek. Zeigt her eure Füßchen, singen die Holzpantinen, zeigt her eure Schuh, wir schauen den fleißigen. Wir Wiener Weiber. Wenn wir wüssten.

Nur ganz leicht drehen sich die Rauchkringel des Zigarillos meiner Tante Mirtel. Und nur ganz zufällig wickelt sich die Wickelschürze nicht um Walburg, um die sie schon gewickelt ist größtenteils, nur ganz beiläufig ist da noch ein Stück Wickelschürze ohne Beschäftigung, nur ganz nebenher entdeckt dieses sich langweilende Stück Wickelschürze, nur ganz nebenbei und beiläufig und zufällig und ohne Absicht und ohne, ganz und gar ohne an etwas Böses zu denken wickelt sich ein Stück Wickelschürze um eine Entdeckung. Diese Entdeckung für die Wickelschürze heißt Holzgriff. Der Holzgriff gehört einem Waschschaff. Das Waschschaff steht auf einem Holzbock. Der Holzbock sieht aus wie ein Kreuz. Der du für uns das schwere Kreuz getragen hast. Die Wickelschürze wickelt sich. Sie wickelt sich eins, zwei, drei um einen Holzgriff eines Waschschaffs. In dem Waschschaff auf dem Holzbock schwimmt Lauge. Die Lauge ist für die Fußlappen des Reichsarbeitsdienstes. Die Fußlappen stinken. Der Walburg ist schon wieder schlecht. Weil die Fußlappen stinken, muss die Lauge kochen. Ergo: In dem Waschschaff auf dem Holzbock, der du für uns das schwere Kreuz, schwimmt siedend heiße, kochend heiße Lauge. Selbstverständlich für die Fußlappen. Selbstverständlich gegen den Gestank der Fußlappen. Die Wickelschürze wickelt sich um den Holzgriff. Sie hält ihn fest, denn ein Griff ist dazu da, um festgehalten zu werden oder um beim Wegtragen des Waschschaffes behilflich zu sein, ganz unabhängig davon, ob das Waschschaff mit heißer Lauge oder mit kaltem Wasser oder überhaupt nicht gefüllt ist. Die Wickelschürze besteht auf dem Wickeln und auf dem Wegtragen, der Holzgriff verhält sich so, wie sich ein Holzgriff verhält.

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