Das Spiel des Frauenmörders

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Das Spiel des Frauenmörders
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Gerhard Etzel

Das Spiel des Frauenmörders

Ein Spiel in Schäftlarn mit tödlichem Ausgang

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Vier Frauen vermisst

Der Ermittler

Zeugenbefragung

Ein fünfter Fall

Weitere Ermittlungen

Verdächtige

Ein Mord und eine Verhaftung

Verhöre und neue Erkenntnisse

Tobias Hartmann und die Ménage à Trois

Der Frauenmörder

Die Bombe platzt

Der letzte Akt

Einsichten

Nachwort

Der Autor

Impressum neobooks

Prolog

Plötzlich stand der Mann direkt hinter ihr, keine zwei Schritte entfernt. Er war vollkommen geräuschlos herangekommen.

Sie drehte sich erschrocken um. Sie stieß einen furchtsamen Schrei aus, so unheimlich war der Typ.

Er war offensichtlich bemüht, sein Gesicht zu verbergen, denn trotz des sehr warmen Abends trug er eine schwarze Skimütze, die nur die Augen freiließ, eine tiefdunkle Sonnenbrille und ein schwarzes Halstuch. Sie konnte eigentlich nur erkennen, dass er eine große Nase haben musste. Er war bekleidet mit einer schwarzen Jogginghose und einem schwarzen Rollkragenpullover. Er trug schwarze Lederhandschuhe.

Sie schluckte trocken.

»Was …?«, stammelte sie.

Da hatte er sich schon blitzschnell auf sie zubewegt. So unvermittelt, dass sie keine Chance zur Gegenwehr oder gar zum Ausweichen hatte. Ein nasses Tuch wurde auf ihr Gesicht gedrückt. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase, es schmeckte bitter-scharf im Rachen und reizte sie zu heftigem Husten. Der Geruch und der Geschmack verursachten ihr Schmerzen und Übelkeit. Sie zappelte kraftlos mit den Armen wie eine schlaffe Marionette an den Fäden, dann verlor sie auch schon das Bewusstsein.

Sie stürzte in die tiefe Finsternis einer endlosen Nacht.

»Na, wie findet ihr den Einstieg in meinen neuen Krimi?« Tobias Hartmann löste den Blick vom Bildschirm seines PC, von dem er den Text abgelesen hatte, und sah seine zwei Zuhörer fragend an.

»Super, einfach großartig.« Katharina Fromme war ganz enthusiastisch und himmelte Tobias geradezu an. »Du hast dich wieder mal übertroffen. Mir lief es beim Zuhören eiskalt über den Rücken.«

»Geschmackssache«, sagte Mario Eder.

Die Drei lebten in einer Wohngemeinschaft in einer großen Villa in der Aufkirchener Straße in Hohenschäftlarn.

Da war der hochgewachsene, sportliche Tobias Hartmann, hauptberuflicher Fitnesstrainer und »unabhängiger Schriftsteller«, wie er sich selbst nannte.

Dazu kam die schöne Katharina Fromme mit ihrem Engelsgesicht und goldbraunen, wild gelockten Haaren, Sekretärin – oder besser gesagt: »Mädchen für Alles« - in einer kleinen Unternehmensberatung. Seit längerer Zeit besuchte sie eine private Schauspielschule, um irgendwann vielleicht noch ihren Traum zu verwirklichen, ein Filmstar zu werden.

Und schließlich war da Mario Eder, mittelgroß, stämmig, aber nicht dick, ehemals IT-Spezialist bei einem großen Softwarehaus. Seit einem reichen Erbe vor ein paar Jahren bezeichnete er sich als »Privatier«. Er war der Besitzer der Villa und Finanzier eines beträchtlichen Anteils der gemeinsamen Haushaltungskosten.

Nach einer kleinen Pause fuhr Mario fort. »Ich sehe da ein Problem, wenn du diesen Text verwenden willst.«

»Ein Problem? Wieso denn? Gefällt es dir, oder gefällt es dir nicht?«, fragte Tobias.«

»Das ist doch irrelevant. Das Problem ist nur: Der Text stammt nicht von dir, das ist ein Plagiat. Das kannst du nicht verwenden.«

»So ein Quatsch. Wie kommst Du auf so eine abwegige Idee?«

Mario grinste Tobias an. »Komm, sei mal ehrlich. Welche Thriller hast du in letzter Zeit gelesen?«

»Gelesen? Gar nichts. Als ich gestern Abend am PC saß, hatte ich eine Inspiration, und da ist mir dieser Text einfach so zugeflogen. Ich musste nur noch tippen.«

Katharina strahlte. »Du bist wirklich ein Genie.« Dann richtete sie ihren Blick strafend auf Mario und ergänzte »leider ein immer wieder verkanntes.«

Mario stand kopfschüttelnd auf und verließ wortlos das Zimmer. Schon nach wenigen Augenblicken war er wieder zurück, in der Hand ein Buch. »Charlotte Link, Im Tal des Fuchses«, sagte er und hielt das Buch demonstrativ in die Höhe, so dass Katharina und Tobias den Titel sehen konnten. Dann blätterte er ein wenig, schlug eine Seite auf und las vor:

»Ein Mann stand direkt hinter ihr. Keine zwei Schritte von ihr entfernt. Er war geräuschlos herangekommen.«

Fragend sah er Tobias an. »Na, kommt dir das nicht bekannt vor? Soll ich weiter lesen?« Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Die von dir geklaute Passage endet so: ›Sie stürzte in völlige Finsternis. In eine endlose Nacht.‹ Jetzt solltest du die Stelle aber erkennen.«

»Das ist doch ein ganz anderer Satzbau, andere Wörter. Aber ich gebe zu, eine wirklich verblüffende Ähnlichkeit. Ich kann mir diese Übereinstimmung gar nicht erklären. So ein unglaublicher Zufall.« Tobias wollte sich herausreden.

Katharina versuchte, die Situation zu retten. »Du bist eben ähnlich inspiriert wie Charlotte Link. Irgendwann wirst auch du Erfolg haben wie sie.«

»Die Verlage werden dieses Manuskript ignorieren, wie sie bisher schon alles von Tobias ignoriert haben«, bemerkte Mario nüchtern. »Und wenn du das im Selbstverlag herausbringst, werden dich die ersten Leser in ihren Rezensionen bei Amazon zerreißen. Du wirst zum Gespött der ganzen Indie-Autoren Szene. Vielleicht verklagt dich auch der Verlag von Charlotte Link wegen eines Verstoßes gegen das Urheberrecht. Einen kommerziellen Erfolg kannst du dir dann abschminken.«

Das daraufhin einsetzende Schweigen wurde von Katharina unterbrochen. »Dann schreib die Szene halt um, dir wird mit Sicherheit noch etwas Besseres einfallen.«

»Klar, keine Frage, aber auch das wird die grundsätzlichen Probleme nicht lösen, die man als Indie-Autor hat«, seufzte Tobias.

Und er hatte recht. Bei wie vielen Verlagen hatte er seinen ersten Kriminalroman mit dem Titel »Ich, der Serienmörder« eingereicht? Er kam mit dem Zählen gar nicht mehr nach. Und wie viele hatten geantwortet? Ganze zwei. Im ersten Ablehnungsschreiben stand: »Unglaubwürdige Handlung, zu viel Fantasie, die handwerkliche Ausfertigung überzeugt uns nicht.« Im zweiten Schreiben konnte er lesen: »Der Plot ist zu alltäglich, hat zu wenig überraschende Momente. Die Dialoge sind zu trocken.« Es war ihm klar, dass die Verlage nur das prüften, was ihnen ein gutes Geschäft versprach: Entweder, man hatte einen schon bekannten Namen, oder ein Lektor im Verlag hatte zufällig gerade mal Langeweile und überflog das eine oder andere Exposé, und irgendetwas erweckte seine Aufmerksamkeit. Aber das meiste wanderte ungelesen in den Papierkorb.

Danach hatte er es mit Literaturagenten versucht, jenen Menschen, die sich für ihre angeblich so tollen Beziehungen zu Verlagen rühmen. Die verlangten schon im Vorfeld, das Manuskript exklusiv anpreisen zu dürfen, behielten sich aber in den meisten Fällen eine mehrwöchige Prüfungszeit vor. Zudem würden sie etwaige Ablehnungen nicht begründen.

Natürlich hielt sich Tobias nach seinen Erfahrungen mit den Verlagen nicht an das Exklusivitätsgebot. Fünf Agenturen gleichzeitig erhielten sein Exposé und die geforderten mindestens zehn Probeseiten. Weitere Agenten wurden in kurzen Abständen kontaktiert. Die Mühe hätte er sich sparen können. Von allen kamen Ablehnungen ohne inhaltliche Begründungen: »Für unsere Partnerverlage nicht geeignet«, war der Tenor.

Jetzt erst recht, hatte er sich gedacht. Auch Joanne K. Rowling hat den ersten Band von Harry Potter vielen Verlagen angeboten, und immer wieder Absagen bekommen. Am Ende wurde es dennoch ein Welterfolg ohnegleichen.

Schließlich hatte Tobias seinen Krimi über eine Selbst-Publisher-Seite im Internet als E-Book herausgebracht. Das war vor zwei Jahren gewesen. Gerade mal knapp dreihundert Exemplare hatten seither einen Käufer gefunden.

Mit seinem zweiten Roman »Wie ich zum Mörder wurde« hatte er es zunächst wieder über die Literaturagenturen versucht, aber schnell frustriert aufgegeben. Vor sechs Monaten dann war das Werk als E-Book erschienen, bei derselben Selbst-Publisher-Seite wie das Erste. Der Verkauf lief schleppend.

 

»Du musst dich als Indie-Autor zwar nicht dem höchst fragwürdigen subjektiven Diktat eines Verlags und seiner Lektoren beugen, aber du hast auch kein unterstützendes Marketing. Ich habe unzählige Pressenotizen geschrieben. Ich habe alle einschlägigen Blogger angemailt. Ich habe einen Facebook- und einen Twitter-Account eingerichtet. Alles leider ohne Erfolg. Es soll ja mittlerweile mehr als siebzigtausend Indie-Autoren in Deutschland geben. Wie soll man da auffallen?«

Katharina riss die Augen auf. »Mensch, da hab ich doch neulich etwas gelesen.« Sie griff sich an die Stirn und dachte einen Augenblick konzentriert nach. »Genau, das war’s: Ein begabter, aber unbekannter Autor hatte genau das gleiche Problem. Dann hat er eine geniale Idee dazu entwickelt.«

Tobias schüttelte den Kopf. »Patentrezepte für das optimale Marketing habe ich schon jede Menge gelesen. Auch Bücher wie ›So schreiben Sie einen verdammt spannenden Roman‹ findest du hier in meinem Regal. Das ist alles graue Theorie, und außerdem haben alle die siebzigtausend unabhängige Autoren genau das auch gelesen. Das hilft alles nichts.«

»Nein, das war nichts von dieser Art«, entgegnete Katharina. »Warte mal einen Moment, ich hab‘s gleich.« Sie schaltete ihren E-Book-Reader ein und scrollte durch das umfassende Verzeichnis ihrer Bücher. Bei einem Titel stoppte sie, hielt Tobias den Reader vor die Nase und sagte »das ist es, das musst du lesen. In diesem Roman wird ein geniales Spiel inszeniert, um einen jungen Autor bekannt zu machen.« Zu Mario gewandt ergänzte sie »du solltest das auch lesen, und dann überlegen wir gemeinsam, wie wir so ein Spiel inszenieren könnten, damit Tobias endlich so bekannt wird, wie er es verdient.«

*

Ich liebe sie. Sie ist so herrlich jung, so naiv, so unglaublich begeisterungsfähig. Ich studiere ihr Gesicht, ihr strahlendes Lächeln, das erregte Blitzen ihrer Augen, als sie ihren Plan für das große Spiel im Detail erklärt.

Leider zeigt sie diesen Enthusiasmus auch immer wieder für andere Männer, wenn diese auch nur ein Minimum an Besonderheit aufweisen. Sie sagt, dass sie das brauche, die Unabhängigkeit und die Abwechslung. Das sei für sie so nötig wie die Luft zum Atmen.

Ich liebe sie wirklich, aber das kann ich auf Dauer nicht ertragen. Wie soll das nur weitergehen? Ich muss etwas ändern!

In meinen Kopf entsteht eine vage Idee. Ich spüre ein angenehmes Prickeln, der Gedanke ist faszinierend. Das Spiel kann beginnen.

Vier Frauen vermisst

Polizeiobermeister Achim Danner war der diensthabende Beamte in der Polizeiinspektion 13 in München Schwabing. Er schüttelte den Kopf. »Das ist seltsam«, sagte er, wobei sich seine schmalen Lippen in dem asketischen Gesicht kaum bewegten.

»Was ist seltsam?«, fragte sein Kollege Mair, der am Schreibtisch gegenüber in das Studium der Sportseite der Süddeutschen Zeitung vertieft war.

»Du erinnerst dich, heute Vormittag war doch eine Studentin hier und wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ihre Kommilitonin und Mitbewohnerin in der WG würde seit zwei Tagen vermisst.«

»Und, was ist daran seltsam? Du hast sie doch ganz richtig wieder nach Hause geschickt. Es lag ja keinerlei Hinweis auf eine Gefahr für Leib oder Leben vor. Die jungen Dinger führen heutzutage doch alle ein lockeres Leben und vergnügen sich mal ein paar Tage mit jemandem. Die wird früher oder später schon wieder auftauchen.«

»Das ist schon richtig, aber jetzt bin ich doch nachdenklich geworden«, meinte Danner stirnrunzelnd.

»Wieso?«

»Ich habe mal aufs Geratewohl das Stichwort ›Vermisstenanzeige‹ in unser Informationssystem eingegeben.«

»Und?«

»Seit der letzten Woche bis einschließlich heute ist jeden Tag eine Studentin in München als vermisst gemeldet worden, jede in einem anderen Bezirk, aber immer Studentinnen. Ob das noch ein Zufall ist?«

»So was kann schon mal vorkommen«, meinte Mair und wollte sich schon wieder in den Zeitungsbericht über die jüngsten Transfergerüchte bei Bayern München vertiefen. Dann aber sah er noch mal auf und sagte: »Du hast doch zu deinem früheren Chef beim LKA noch einen guten Kontakt. Ruf den doch mal an und frage, was er von der Sache hält.«

Danner schwenkte abwägend seinen Kopf hin und her und nickte dann. »Du hast recht, schaden kann das ja nichts.« Er griff zum Telefon.

*

»Vier vermisste Studentinnen also machen Ihnen Sorgen«, wandte sich Kriminaldirektor Curt Clausen im Gebäude des LKA München in der Maillingerstraße an seinen Gesprächspartner. Er zog die Augenbrauen in seinem etwas rundlichen Gesicht nach oben. Die schütteren, grauen Haare waren akkurat zur Seite gekämmt, der Scheitel war schnurgerade.

»Danner, Sie wissen, ich habe schon immer viel von Ihrer Spürnase gehalten. Schade, dass Sie dieses Verfahren am Hals hatten und in den einfachen Polizeidienst zurück mussten. Ich hoffe für uns alle, dass die Revision für Sie erfolgreich ausgeht. Aber zum Thema: Wieso glauben Sie, dass das Verschwinden dieser Frauen ein Fall ist, dem wir nachgehen sollten?«

»Ich habe mir gestern, gleich, nachdem ich von den vier Fällen Notiz genommen hatte, die leider nur sehr knappen Protokolle der Anzeigen angesehen. Zum Glück waren es pflichtbewusste Kollegen und Kolleginnen, die wenigstens Namen und Telefonnummern der Anzeigenden aufgenommen haben. Ich habe bei denen heute Vormittag angerufen und nach Details gefragt. Kurzum: Bei den vier Fällen gibt es Gemeinsamkeiten.«

Clausen nickte. »Verstehe, Gemeinsamkeiten sind wichtig. Dann zeigen Sie mal Ihre Aufzeichnungen.«

Achim Danner blickte ihn einen Augenblick unbeweglich an und sagte dann: »Sie sollten sich eigentlich erinnern, dass ich selten etwas aufschreibe oder zum Vorzeigen produziere. Ich verlasse mich lieber auf mein Gedächtnis.«

Entschuldigend, aber auch etwas spöttisch, erwiderte Clausen »Richtig, das hatte ich nicht berücksichtigt, Sie sind ja ein Gedächtnis-Genie. Gut, Sie haben also nichts zum Vorzeigen, aber erzählen Sie doch endlich, was Ihre Befragung ergeben hat, welche Gemeinsamkeiten Sie sehen.«

Danner begann ohne weiteren Kommentar.

»Fall eins: Am 7. Juli, ist die Studentin Laura Müller als vermisst gemeldet worden. Sie wohnt in der Agnes-Bernauer-Straße in einem möblierten Zimmer, das von einer Frau Wiemann vermietet wird. Die hat auch die Vermisstenanzeige aufgegeben.«

Er berichtete weiter, Laura Müller habe am Vortag in der Frühe das Haus verlassen. Sie habe Frau Wiemann erklärt, sie fahre mit dem Vertreter einer Medienagentur zu einem interessanten Projekt nach Schäftlarn und sei am Abend sicher wieder zurück. Sie sei in ein Taxi gestiegen, in dem ein junger Mann saß. Nachdem sie das Zimmer am Morgen unbenutzt vorgefunden habe, und Frau Müller auch über ihr Handy nicht erreichbar gewesen sei, habe sie sich Sorgen gemacht und sei zur Polizei gegangen.

»Was ist daran ungewöhnlich?«, fragte Clausen irritiert. »Eine Studentin trifft sich mit einem Mann und fährt mit ihm weg. Ob der Medienagent ist oder nicht, das ist doch unerheblich. Die haben sich wahrscheinlich in einem Hotel in Schäftlarn vergnügt und verschlafen. Die taucht wieder auf.«

Danner sah seinen Exchef Clausen strafend an. »Sie urteilen vorschnell.«

»Nein«, antwortete der. »Ich bin einfach nur Realist. Wenn Sie sich beruhigen wollen, dann rufen Sie doch die Hotels in Schäftlarn an. Das werden ja nur wenige sein. Ich bin überzeugt, das Pärchen ist in einem abgestiegen.«

Doch Danner reagierte nicht auf dieses Ansinnen. »Ich komme nun zum Fall Zwei.«

Am 8. Juli sei die Studentin Katja Zeidler, wohnhaft in einem Studentenwohnheim in der Traunsteiner Straße, bei der Polizei erschienen und habe ihre Zimmernachbarin Sarah Jacobs als vermisst gemeldet. Sie sei ihr einen Tag vorher im Flur des Wohnheims begegnet, in Begleitung eines blonden jungen Mannes, den sie ihr als Agenten einer Medienagentur vorstellte, aber ohne seinen Namen zu nennen. Auch der Name der Agentur sei nicht genannt worden. Sarah habe voll Begeisterung etwas von einer tollen Chance erzählt, die sich bei einem Casting in Schäftlarn ergeben würde. Dann habe sie sich von ihr verabschiedet mit den Worten, dass man sich ja am nächsten Tag zur Ausarbeitung des gemeinsamen Referates für die Uni treffen würde. Dabei würde sie dann auch berichten, wie das Casting gelaufen sei. Seither fehle jede Spur von ihr, auch am Telefon melde sich nur ihre Mailbox.

»In der Tat, das ist eine verblüffende Übereinstimmung«, musste Clausen zugeben. »Aber trotzdem, vielleicht hat auch diese junge Dame sich mit einem Liebhaber getroffen, zufälligerweise auch in Schäftlarn. Nicht sehr wahrscheinlich zwar, aber immer noch im Bereich des Möglichen, Denkbaren. Wir sollten wirklich in den Schäftlarner Hotels recherchieren.«

»Wir?«, fragte Danner trocken.

»Vergessen Sie nicht, dass Sie wegen des uns beiden bekannten Vorfalls in den mittleren Dienst bei der Schutzpolizei strafversetzt worden sind. Sie sind nicht mehr bei der Kriminalpolizei.«

Danner reagierte beleidigt. »Wenn Sie ohne mich ermitteln wollen, dann sollte ich wohl gleich gehen.«

»Nun seien Sie nicht so mimosenhaft. Wir werden sehen, ob und wie Sie eingebunden werden können. Es fehlen noch die Fälle drei und vier. Was hat es mit denen auf sich?«

Danner setze den Bericht mit den Resultaten seiner Recherchen fort. Fall drei sei eine Studentin namens Anne Petersen, wohnhaft in einem Einzimmer-Appartement in der Hansastraße. Ihr Wohnungsnachbar, ein Herr Rainer Leitner, Rentner, sei am 9. Juli im zuständigen Polizeirevier erschienen. Er habe gesehen, wie seine Nachbarin am Vortag unten in ein Taxi gestiegen sei. Ein junger blonder Mann habe ihr die Tür aufgehalten und sei dann hinten neben ihr in das Taxi eingestiegen. Am Morgen darauf habe er die Katze der Nachbarin ganz schrecklich Miauen gehört. Er habe geläutet, aber niemand habe geöffnet. Auch ans Telefon sei sie nicht gegangen. Da er mit seiner Nachbarin die Wohnungsschlüssel für Notfälle ausgetauscht habe, sei er in ihr Appartement gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. In der Wohnung sei niemand gewesen, der Napf mit dem Katzenfutter leergefressen, ebenso die Trinkschale der Katze. Die habe er zunächst mit dem Nötigsten versorgt. Frau Petersen sei eine Katzennärrin und immer sehr besorgt um ihren Liebling. Nie würde sie ihre Minka hungern lassen oder sonst irgendwie vernachlässigen. Deswegen habe er gleich gedacht, dass da etwas nicht stimmen könne. Und dann habe er am Kühlschrank eine gelbe Haftnotiz entdeckt mit dem Text: ›Casting bei Agentur in Schäftlarn, 10:00 Uhr‹. Das habe er als sehr alarmierend eingestuft. Man lese ja immer wieder, dass dubiose Agenten unschuldige junge Dinger für ihre zweifelhaften Geschäfte missbrauchten, besonders wenn sie so attraktiv seien wie seine nette Nachbarin. Deswegen sei er mit dieser Notiz zum Polizeirevier gegangen, um sie als vermisst zu melden.

Ohne eine Reaktion von Clausen abzuwarten, fuhr Danner gleich fort mit seiner Fallschilderung.

»Die Anzeige zu Fall Nummer vier habe ich ja, wie Sie sich erinnern werden, selbst aufgenommen. Die Studentin Lisa Wanderer wurde von einer Mitbewohnerin in ihrer WG, sie heißt Vanessa Kohnen, als vermisst gemeldet. Auch hier gab es den Hinweis auf ein ominöses Medienprojekt in Schäftlarn und auf einen blonden Mann, mit dem sie weggegangen ist. Der Mann ist Frau Kohnen aufgefallen, weil er – mit ihren eigenen Worten – so ›retro‹ ausgesehen hat: blond gelocktes, bis auf die Schultern fallendes Haar und eine Brille mit kreisrunden Gläsern in einem dünnen Metallgestell. Wie John Lennon, hat sie gesagt.«

Danner stand auf, ging zum Fenster, sah kurz hinaus, drehte sich um und blickte Curt Clausen fragend an. »Und, was halten Sie davon?«

Clausen blinzelte, streckte die Beine weit aus, schob sein Handy auf dem Schreibtisch hin und her und sagte: »Ich bin wirklich erstaunt, was Sie sich alles gemerkt haben.«

Das schlanke Gesicht des Achim Danner, das mit seinem Dreitagebart einem bekannten Fußballstar ähnelte, wirkte gelassen. Er überging das scheinbare Erstaunen und wartete.

Dann antwortete Clausen doch auf seine Frage.

»Was ich davon halte? Nun, es könnte sich wirklich um vier Fälle handeln, die zusammenhängen.«

 

Danner sah Clausen auffordernd an. »Dann soll ich also den Fall übernehmen?«

Clausen zögerte. »Ich bin mir noch nicht sicher, ob wir von einer Straftat ausgehen können. Sie wissen ja, das ist Voraussetzung für Ermittlungen.«

Die Gelassenheit von Danner schien zu schwinden. »Mein Gott, das ist doch eine Ermessensfrage von Ihnen. Was brauchen Sie denn noch? Vier Frauen sind verschwunden, alle wurden zuletzt mit demselben Mann gesehen, auf dem Wege zu einem ominösen Projekt oder Casting in Schäftlarn«, fuhr er Clausen an.

Der fixierte seinen Gesprächspartner. »Selbst wenn ich Ihnen inhaltlich folge und Ermittlungen veranlasse, bedeutet das noch lange nicht, dass ich Sie damit beauftrage. Noch sind Sie nicht rehabilitiert, noch sind Sie nicht zurück bei der Kriminalpolizei.«

Nun wurde Danner wirklich ärgerlich. Laut fuhr er seinen Gesprächspartner an. »Das ist mein Fall, den können Sie mir doch nicht wegnehmen. Und die Vorwürfe gegen mich haben sich inzwischen ja als haltlos herausgestellt. Es fehlt nur noch die endgültige offizielle Bestätigung.«

»Beruhigen Sie sich doch«, versuchte Clausen den aufgeregten Danner zu beschwichtigen. »Ich wollte Ihnen ja nur zu verstehen geben, dass diese Entscheidung für mich nicht leicht ist. Es könnte falsch ausgelegt werden, wenn ich Sie schon vor der offiziellen Rehabilitation mit Ermittlungen beauftrage.« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Aber doch, das mache ich trotzdem, Sie haben den Fall. Ich werde Sie gleich offiziell anfordern, und ich möchte den sehen, der diese Anforderung abzulehnen wagt.«

Danner war glücklich. Er hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass ihm Clausen den Fall entziehen würde. Dazu war die Erfahrung aus ihrer früheren Zusammenarbeit zu positiv. Er erläuterte sofort die ersten Schritte seines Schlachtplans. Als Erstes würde er die vier Personen, die die Anzeigen aufgegeben haben, morgen hier im Präsidium befragen wollen. Bei dieser Gelegenheit könnte auch ein Phantombild dieses blonden angeblichen Medienagenten erstellt werden. Bis dahin werde er zunächst sein Glück bei den diversen Hotels in Schäftlarn versuchen.

Auch Curt Clausen war zufrieden. Er wusste, wenn Achim Danner erst mal einen Plan entwickelte, dann nahm er Drehzahl auf und war bald nicht mehr zu bremsen. Er würde nicht locker lassen, bis das Rätsel der verschwundenen Studentinnen gelöst war.