Buch lesen: «Ketzer»
Gerd Lüdemann
Ketzer
Die dunkle Seite des Urchristentums
2., verbesserte Auflage
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Umschlaggestaltung: GROOTHUIS. GESELLSCHAFT DER IDEEN UND PASSIONEN MBH für Kommunikation, Marketing und Gestaltung
Satz: Germano Wallmann ∙ Gronau ∙ www.geisterwort.de
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
Dieses Buch ist zuerst 1996 im Radius Verlag unter dem Titel
Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums erschienen.
ISBN 978-3-86674-478-3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
Verständigung mit der Leserschaft
Kapitel 1: Einleitung, Methode und Interesse
Kapitel 2: Irenäus von Lyon und Tertullian von Karthago, die wichtigsten Ketzerbestreiter aus der christlichen Frühzeit
Kapitel 3: Wie aus Ketzerbestreitern Ketzer wurden oder: Die Jerusalemer Judenchristen in den ersten beiden Jahrhunderten
Kapitel 4: Der einzige Ketzer aus der ältesten Zeit oder: Ein menschlicher Paulus
Kapitel 5: Ketzereien um das Pauluserbe
Kapitel 6: Der Erzketzer Markion und seine Zeit
Kapitel 7: Ketzereien im johanneischen Schrifttum
Kapitel 8: Die Entstehung des apostolischen Glaubensbekenntnisses
Kapitel 9: Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons
Kapitel 10: Das Christentum der ersten beiden Jahrhunderte, Jesus und wir
Anhänge:
1. Justin, Dialog mit dem Juden Tryphon 46,1–2; 47,1–5
2. Der 3. Korintherbrief
3. Der Rheginusbrief aus Nag Hammadi
Beigaben zur Forschungslage:
1. Die Aufnahme von Walter Bauers Buch über Rechtgläubigkeit und Ketzerei
2. Die Jerusalemer Judenchristen
3. Paulus
4. Falsche Verfasserangaben im frühen Christentum
5. Die Pastoralbriefe
6. Der 3. Korintherbrief
7. Markion
8. Johanneische Schriften
9. Das apostolische Glaubensbekenntnis
10. Die Entstehung des neutestamentlichen Kanons
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Vorwort
Auf vielfachen Wunsch lege ich hiermit die 2. Auflage meines Buches »Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums«. (1. Aufl. 1995) vor. Ich nutze dabei die Gelegenheit, einen neuen Untertitel einzuführen. Er lautet nun: »Die dunkle Seite des Urchristentums« und betont so dessen Anteile am Irrationalen in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr.
Für den Druck habe ich die 1. Auflage durchgesehen sowie Literatur ergänzt und gestrichen. Abgekürzt zitierte Titel sind im Literaturverzeichnis jeweils vollständig nachgewiesen.
Die Arbeit ist in mancher Hinsicht ein Fachbuch mit einem reichen Anmerkungsapparat, der jetzt unter dem Haupttext steht. Ich habe die Schrift so abgefasst, dass interessierte Nicht-Theologen die Gedanken nachvollziehen und sich ein eigenes Urteil bilden können. Angesichts der rechtlichen Bindung der deutschen universitären Theologie an das Dogma der Kirche ist das auch bitter nötig.
Walter Höfig danke ich für eine kritische Durchsicht des Textes.
Gerd Lüdemann
Verständigung mit der Leserschaft
Der Gegenstand dieses Buches beschäftigt mich seit der Promotion in Göttingen im Jahr 1975 über Simon den Magier1. Von ihm ist zuerst in Apg 8 die Rede. Er gilt als erster christlicher Ketzer. In der Folgezeit habe ich das Thema in mehreren Monographien und Aufsätzen weiter vertieft.2
Einzelne Kapitel entstanden während der Mitarbeit am McMaster-Forschungsprojekt über »Normative Selbstdefinition im frühen Christentum und Judentum« in Hamilton/Ontario (1977 – 1979), andere bildeten die Grundlage von Vorträgen in der June Ramsey Sunday School Class der First Presbyterian Church in Nashville/Tennessee und wurden später in Vorlesungen sowie Seminaren an der Vanderbilt Divinity School und in Göttingen weiter ausgearbeitet.
Die z. T. heftigen Auseinandersetzungen in Kirche, Theologie und Öffentlichkeit um mein Buch »Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie«3 sind der Kontext, dem dieses Werk angehört. In der genannten Kontroverse wurde eine schwerwiegende Unwissenheit4 der Kritiker im geschichtlichen Bereich deutlich, gleichzeitig aber auch ein Auseinanderbrechen von Glaube und Wissenschaft. Aus Interesse an der historischen Wahrheit und am Christentum selbst schien es nötig, nach der Auferstehung einen weiteren Pfeiler von Kirche und Theologie, und zwar die Heilige Schrift und ihre Autorität, unter die Lupe zu nehmen.
Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die bereits von Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) in seinem Streit mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717 – 1786) entwickelte Einsicht, dass christlicher Glaube und christliche Kirche bereits bestanden, bevor es eine heilige Schrift des Neuen Testaments gab.5 Demnach ist »das Neue Testament … ein Werk der katholischen Kirche, und die Berufung auf neutestamentliche Schriften als an sich glaubensverbindlich … ein Dogma der katholischen Kirche. Daraus mag … jeder den Schluss ziehen, den er für gut und richtig hält.«6
Demgegenüber kann man den Eindruck gewinnen, dass dies in Kirche und Theologie zwar bekannt, aber in seinen Konsequenzen nicht erfasst und der Öffentlichkeit verschwiegen worden ist.
Es steht aber nun einmal fest: Die Heilige Schrift ist eindeutig Menschenwort (und nicht Gotteswort), von Menschen zu einer Zeit zusammengestellt, als das Christentum seine Anfänge bereits hinter sich gelassen hatte. Sie ist die Sammlung der siegreichen Partei, die die Dokumente der unterlegenen Gruppen aussortiert, unterdrückt und schließlich vernichtet hat.7
Gerade unter diesem Gesichtspunkt sind die aufsehenerregenden Funde im oberägyptischen Nag Hammadi von 1945, welche über die jüngste Diskussion um die Schriftrollen vom Toten Meer8 in den Hintergrund getreten und seit 1977 vollständig in englischer Übersetzung zugänglich sind9, ein unentbehrliches Korrektiv, um bei gleichzeitiger Berücksichtigung der schon vorher vorhandenen Quellen eine unparteiliche Sicht der christlichen Anfänge zu gewinnen. Während die Forschung sich vor dem Nag-Hammadi-Fund fast ausschließlich damit begnügen musste, aus polemischen Traktaten der Kirchenväter die von ihnen bekämpften Lehren zu erschließen, hat sich die Lage nunmehr gründlich geändert. Die »Ketzer« sprechen für sich selbst, und wir erhalten Gelegenheit, ja, sind in die Pflicht genommen, unsere Vorstellungen von den christlichen Ursprüngen zu prüfen und zu korrigieren.10
Fast möchte man in Anlehnung an Friedrich Nietzsche sagen, dass wir uns durch diese Funde in Bezug auf die Geschichte des Urchristentums wieder im Jugendzeitalter der Wissenschaft befinden und der Wahrheit wie einer schönen Fee, die uns geradezu verzaubert, nachgehen können. »(W)ie anders reizt dies an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrigbleibt (welche Empfindung man in einigen historischen Disziplinen kennenlernen kann).«11
Ich habe das vorliegende Buch aber auch publiziert, um den Blick auf Jesus zu lenken, und zwar aus der Überzeugung heraus: Das Christentum aller Zeiten muss sich zu Jesus von Nazareth in eine Beziehung setzen können, wenn es glaubwürdig sein will. Dies gilt für die Anfänge der christlichen Religion, die an Jesus zu messen sind, ebenso wie für alle späteren Entwicklungen. Diese Berufung auf Jesus kann heute allerdings nicht ohne Folgen sein, sondern verlangt der theologischen Wissenschaft und der Kirche nach Jahrzehnten massiver Beeinflussung durch Kerygma- bzw. dialektische Theologie Veränderungen ab.12
Im Folgenden geht es aber auch darum, eine andere, unbekannte Seite des Christentums nachzuzeichnen. Ich möchte neugierigen Christen ihr Eigenes als ein Fremdes zeigen, um so zum eigentlich Christlichen hinzulenken.
Kapitel 1:
Einleitung, Methode und Interesse1
Die Geschichte des Urchristentums2 will den historischen Ablauf der ersten beiden christlichen Jahrhunderte darstellen. Sie behandelt die durch Jesu Auftreten eingeleitete erste Phase der Kirchengeschichte. Ihr Ende3 liegt dort, wo der Konsolidierungsprozess der frühchristlichen Gruppen abgeschlossen ist, dogmatische und ethische Normen über richtig und falsch, gut und böse sowie der Kanon entwickelt worden sind, mit der Entstehung des monarchischen Episkopats eine Machtstellung der frühchristlichen Gemeinden bzw. ihres Bischofs gegenüber Gegnern ausgebildet ist und sich Sanktionen wirklich durchsetzen lassen.4 Diese Abgrenzung lässt sich weiter historisch damit begründen, dass gegen Ende des 2. Jh.s ein Versiegen der mündlichen, mit Jesus genetisch zusammenhängenden Traditionen festzustellen ist und sich wissenschaftliche christliche Theologie – wenn sie mehr als bloße Rekonstruktion von Vergangenheit ist – durch Rückbezug auf Jesus ihrer Ursprünge vergewissern5 muss.6 Das trifft selbst angesichts des Befundes zu, dass nicht geringe Teile der frühchristlichen Literatur, wie z. B. die Briefe des Ignatius von Antiochien7, ohne Rückgang auf den historischen Jesus auskommen, denn dieser bleibt – geschichtlich gesehen – der entscheidende Auslöser der christlichen Bewegung.8
In dieser Phase des frühen Christentums wurden die Weichen für das gestellt, was man später als christlich ansah. In ihr schälte sich das Christentum als eigene Erscheinung heraus. Für sie gilt, was Johann Salomo Semler (1725 – 1791) zuerst entdeckt9 und Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) weiter vertieft hat, dass es in dieser Zeit schon christlichen Glauben und eine christliche Kirche gegeben hat, bevor überhaupt ein Neues Testament existierte.10 Insofern behält die Geschichte des Urchristentums eine herausragende Bedeutung gegenüber den nachfolgenden Epochen. An ihr können grundlegende christliche Prinzipien erkannt werden, und nur in dieser Phase des Christentums finden sich Jesustraditionen, die nicht ausschließlich literarisch (etwa durch Evangelien) vermittelt sind. Diese Frühzeit des Christentums ist rein historisch zu erforschen – fast könnte man sagen, sie sei zunächst unsere Bibel –, ist doch das Schriftprinzip11 durch die Auflösung des Inspirationsdogmas für die wissenschaftliche Theologie ein für allemal zur vergangenen Größe geworden.
Dies sei in enger Anlehnung Wolfhart Pannenbergs Aufsatz »Die Krise des Schriftprinzips« aus dem Jahr 1962 erläutert.12 Unter Berufung auf den exegetisch eindeutigen Wortsinn der Schrift habe Luther den Kampf gegen das päpstliche Lehramt aufgenommen, und zwar in der Überzeugung, seine eigenen exegetischen Ergebnisse seien identisch mit der »›Sache‹ der Schrift, wie sie in der Person und Geschichte Jesu Christi zusammengefaßt und in den Dogmen der Kirche entfaltet ist«. (S. 14). Diese Gewissheit lag seinem hermeneutischen Grundsatz von der Selbstevidenz oder Klarheit der Schrift zugrunde.13
»Die Lehre von der Klarheit der Schrift führte notwendig zu der Forderung, daß jeder theologische Satz durch historisch-kritische Schriftauslegung zu begründen sei«. (S. 14 f). Gleichwohl habe die historisch-kritische Exegese die Grundlagenkrise heraufbeschworen, vor der wir heute ständen. War für Luther der Wortsinn der Schriften noch identisch mit ihrem historischen Gehalt, so sei hingegen für uns beides auseinandergerückt; »das Bild der verschiedenen neutestamentlichen Verfasser von Jesus und seiner Geschichte kann nicht mehr ohne weiteres als identisch mit dem tatsächlichen Hergang der Ereignisse gelten … Luther konnte noch seine eigene Lehre mit dem wörtlichen Inhalt der biblischen Schriften gleichsetzen. Für uns hingegen ist der historische Abstand jeder heute möglichen Theologie vom urchristlichen Zeitalter unübersehbar und zur Quelle der uns am meisten bewegenden theologischen Probleme geworden«. (S. 15).
Anders gesagt: Die Kluft zwischen historischem Faktum und seiner Bedeutung, zwischen Historie und Verkündigung, zwischen Geschichte Jesu und dem vielfältigen Bild von seiner Geschichte im Neuen Testament14 macht es unmöglich, die Inspiriertheit der ntl. Schriften ernsthaft weiter zu vertreten oder gar Wort Gottes und Heilige Schrift gleichzusetzen.15
Abgrenzungen und positive Konstruktion
Aus diesen Einsichten ergeben sich drei polemische Abgrenzungen und entsprechende Konsequenzen für den Ansatz des vorliegenden Buches:
Die erste Abgrenzung bezieht sich auf eine Wort-Gottes-Theologie, nach der »eine methodisch zu erhebende autoritative Offenbarung dem christlichen Lehrvortrag einen objektiven Grund verleihe.«16 Hier werden dogmatische Inhalte vorausgesetzt, die der geschichtlichen Frage gar nicht mehr zugänglich sind, und jegliche historische Untersuchung sieht sich zur Hilfswissenschaft herabgestuft. Denn solche verobjektivierende Theologie gerät früher oder später in den Bann des Supranaturalismus und überspringt damit nicht nur die Geschichtlichkeit antiker Menschen, von denen die biblischen Schriften verfasst wurden, sondern auch die Geschichtlichkeit heutiger Zeitgenossen, die das Wort von damals vernehmen. Für solche dogmatische Theologie ist das schillernde, funkelnde Leben, das zu erfassen sich die historische Betrachtung bemüht, dann nur noch farb- und bedeutungslos.
Die zweite Abgrenzung betrifft eine Kerygmatheologie17, nach der Theologie im wesentlichen Schriftauslegung ist.18 Ihre Vertreter lehnen es ab, schwerpunktmäßig auf die Geschichte hinter den Texten zu sprechen zu kommen19, in der die ntl. Verkündigung wurzelt. Dies sei historisch vielleicht interessant, theologisch aber illegitim, da »alle den Text hinterfragende Rekonstruktion nur so lange ihr Daseinsrecht behält, als sie sich der den Text respektierenden Interpretation kompromißlos unterordnet.«20 Statt der Aufgabe einer historischen Rekonstruktion wollen sie sich bewusst der Anrede und dem Anspruch der ntl. Zeugen stellen und beziehen hieraus das Unterscheidungskriterium zwischen Theologie und Historie.21 Nicht zufällig hat diese Richtung auch keine eigentliche Geschichte des Urchristentums hervorgebracht.22
Die dritte Abgrenzung richtet sich gegen eine Forschungsrichtung, die historisch-kritische Arbeit mit einer heilsgeschichtlichen Sicht verbinden will. So setzt z. B. Leonhard Goppelt23 voraus, dass allein die »heilsgeschichtliche« Schau das Verhältnis von Christentum und Judentum zutreffend in den Blick bekommen könne. Aber so historisch Goppelts Werk auch angelegt und so lehrreich »die Entwicklung des Verhältnisses von Christentum und Judentum bis zum Werden der katholischen Kirche am Ende des 2. Jh.s«. (S. 15) gezeichnet ist – sein Vf. postuliert eine heilsgeschichtliche Kontinuität, eine Erfüllung des alten Bundes in Christi Werk (S. 319) und damit eine bloße Ersatztheorie.
Z. B. heißt es: »Tatsächlich ist die Ablehnung des Evangeliums durch Israel als Volksgemeinde die letzte entscheidende Wende seiner Geschichte und die … letzte Ursache der zweiten Tempelzerstörung«. (S. 311). Eine solche für alle Juden der Folgezeit niederschmetternde Sicht ist doch nur ein dogmatisch-triumphalistisches Postulat christlicher Theologie und keineswegs Ergebnis historischer Forschung, sosehr anzuerkennen bleibt, dass hier wenigstens anders als in der Kerygmatheologie die Erforschung der Geschichte der ersten beiden Jahrhunderte als Aufgabe erkannt und über die Grenze des Kanons hinausgegangen wurde.24
Das Kanonprinzip25 führt im Übrigen ja trotz aller Differenzierungsversuche (z. B. »Kanon im Kanon«) praktisch dazu, den in ihm eingeschlossenen Schriften eine größere Würde zuzuschreiben (vgl. die Anzahl der zu den einzelnen kanonischen Schriften verfassten Kommentare im Vergleich zu denen über nichtkanonische Schriften) und die Geschichte zu einer Geschichte der Sieger zu machen. In dieser Hinsicht behält Gustav Krüger Recht:
»Die Existenz einer neutestamentlichen Wissenschaft oder einer Wissenschaft vom Neuen Testament als einer besonderen theologisch-geschichtlichen Disziplin ist ein Haupthindernis erstens einer fruchtbaren, zu gesicherten und allgemein anerkannten Ergebnissen führenden Erforschung des Urchristentums, also auch des Neuen Testaments selbst, und zweitens eines gesunden theologisch-wissenschaftlichen Unterrichtsbetriebes.«26
Denn es ist ein Gebot geschichtlicher Gerechtigkeit, zunächst alle uns aus der Anfangsphase des Christentums erhaltenen Schriften zu akzeptieren und nicht von vornherein geschichtliches Verstehen durch die dogmatische Setzung einer heiligen Schrift zu verhindern. Das ist aber heute leider der Fall, da die zeitgenössische theologische Literatur zum großen Teil parteilich, d. h. kirchlich bzw. klerikal ausgerichtet ist.27
Diese Klerikalisierung wird erstens dadurch begünstigt, dass Althistoriker und Altphilologen sich hierzulande, von Ausnahmen abgesehen, im Allgemeinen nicht an der Exegese beteiligen, und zweitens dadurch, dass Nicht-Getauften der Zugang zur theologischen Universitätslaufbahn verschlossen ist. Man beachte zusätzlich, dass Menschen ohne Taufschein nicht die staatliche (!) theologische Diplomprüfung an den theologischen Fachbereichen ablegen dürfen und z. B. Juden nicht den theologischen Doktorgrad über ein ntl. Thema an einem theologischen Fachbereich erwerben können. Drittens wird vielfach vorausgesetzt, die Theologie sei eine kirchliche Wissenschaft.28 Diese weitverbreitete Auffassung hat die Forschung mehr behindert als gefördert.29
Demgegenüber gilt ein Satz, der zunächst brutal klingt: »(E)ine Wissenschaft vom christlichen Glauben ist so wenig christlich, wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch ist.«30 Denn Theologie als Wissenschaft ist zunächst einmal unkirchlich31, indem sie nach der Wahrheit sucht.
Im Übrigen bejaht protestantisches Christentum die radikale Wahrheitsforschung aus vollem Herzen, und »so viel weiss man bei allen kirchlichen Richtungen von evangelischem Christenthum, dass es da ein Ende hat, wo die Furcht vor der Wahrheit anfängt, zu herrschen.
Eine Kirche, die sich um der Seligkeit willen gegen die Forschung nach der Wahrheit absperrt, gründet zwar tief in der menschlichen Natur, aber nicht in Jesus Christus. Sie ist überhaupt nicht christliche Kirche.«32
Viertens zielen die meisten exegetischen Beiträge heutzutage künstlich auf den theologischen Sinn, den Skopus der ntl. Texte. Die Kanonfrage bleibt stillschweigend unerörtert, so als ob ihr Sinn auch ohne solide historische Grundlagen zu finden wäre. Sie setzen oft unbewusst voraus, die Vernunft sei durch die Offenbarung bzw. durch das Kerygma zu belehren und zu begrenzen. Das bedeutet dann »in der Praxis nichts anderes als Klerikalismus. Denn Vernunft gilt entweder ganz oder gar nicht.«33
In diesem Zusammenhang wird oftmals betont, dass Exegese eine Sache des Gehorsams sei.34 Aber wenn schon Predigtsprache einfließt, dann würde ich eher Wolfgang Schenk darin folgen, dass Exegese »zuerst und vor allem Sache der Liebe (sc. ist), die jeden Menschen und jeden Text ausreden und das sagen läßt und zu verstehen sucht, was er selbst meint, ohne ihn damit zu überfahren.«35
Es ist in der Tat so, dass viele Werke heutiger Exegese blutleer wirken und über der Ermittlung der Absicht des Textes, dem Vergleich der einzelnen Evangelien untereinander und einer säuberlichen Trennung von Redaktion und Tradition vergessen machen, dass die frühchristlichen Schriften einer Bewegung entstammen, die – vor Vitalität nur so strotzend – innerhalb von eineinhalb Jahrhunderten das ganze Römische Reich fast überrannt hat. Ein Anflug von Unwirklichkeit liegt so über den meisten Arbeiten zum Neuen Testament.36 Vielfach zieht man es vor, dunkle religiöse Abstraktionen zu gebrauchen, statt in den historischen Einzelheiten konkret zu werden.37 Man kann sich deshalb des Eindrucks nicht erwehren, dass die herkömmlich angewandte Methode die Texte ihrer Kraft beraubt.
Andererseits ist mit Gerhard Ebeling zu fragen, »ob nicht die weit verbreitete entsetzliche Lahmheit und Abgestandenheit der kirchlichen Verkündigung, ob nicht ihr Unvermögen, den Menschen der Gegenwart anzureden, ob nicht ebenso die Unglaubwürdigkeit der Kirche als solcher in hohem Maß damit zusammenhängt, dass man sich davor fürchtet, die Arbeit der historisch-kritischen Theologie in sachgemäßer Weise fruchtbar werden zu lassen.«38 Dabei braucht man die Bejahung der historisch-kritischen Methode gar nicht in einen inneren Zusammenhang mit der Rechtfertigungslehre zu bringen (so Ebeling), sondern wird sie als profanes, christliches Gebot der Wahrhaftigkeit bzw. der »Sittlichkeit des Denkens«. (Friedrich Albert Lange, 1828 – 1875) auffassen.
Meine Arbeit setzt in ihrer Darstellung urchristlicher Geschichte absichtlich »unten« an, d. h., ich bemühe mich um eine Humanisierung der Geschichte des Urchristentums, damit heutige Zeitgenossen sich in ihr wiedererkennen. So hat bereits der erste Kanzler der Universität Göttingen, Johann Lorenz von Mosheim (1694 – 1755), von der Aufgabe der Kirchengeschichtsschreibung ähnlich gedacht.39
Dieser »Vater der neueren Kirchengeschichtsschreibung« hält z. B. die Bekehrung der vielen Menschen vom Heidentum zum Christentum nicht für eine Folge der Wunder – wie damalige supranaturale Kirchengeschichtsschreibung weismachen wollte –, sondern für die Folge der Furcht vor Strafen und der Hoffnung auf ein glückliches Leben im Jenseits. Die so gehandhabte pragmatische Methode hat bei Mosheim eine ungeheure Vermenschlichung des kirchenhistorischen Prozesses zur Folge gehabt. Eine solche quasi anthropologische Kirchengeschichtsbetrachtung bedeutete auch für die Geschichte des Urchristentums eine kopernikanische Wende40, denn fortan war auch hier ein Rekurs auf den heiligen Geist oder den erhöhten Christus als supranaturale Größen unmöglich gemacht worden41, umso mehr, als im »Sinne Mosheims … die Kirchengeschichte ein innerweltlicher und insoweit durchschaubarer eher pragmatischer Geschehenszusammenhang«42 ist.
Allerdings rechnet eine so verstandene Kirchengeschichtsschreibung43 nicht mit einem besonderen Einwirken Gottes zu einzelnen Zeitpunkten der Geschichte. Den in diesem Zusammenhang oft zu hörenden Einwand44, jede Geschichtsschreibung habe ihre Voraussetzungen, und so setze die theologische Kirchengeschichtsschreibung voraus, dass Gott in den Geschichtslauf eingreife, halte ich für verfehlt. Natürlich ist jede Geschichtsschreibung subjektiv gefärbt. Doch ist daraus lediglich die Forderung abzuleiten, sich dieser Voraussetzung bewusst zu werden45, nicht aber unter der Hand quasi zu einem deus ex machina Zuflucht zu nehmen.
Auch wird gefordert: Wer die Geschichte des Christentums erforsche, müsse gläubig, konfessionell sein. Doch schließt eine solche Forderung die Augen vor dem wirklichen historischen Geschehen.
Der Historiker, der beständig ein dogmatisches Gewicht in die Waagschale legt, um seinen historischen Gegenstand zu wägen, entbehrt des eigentlichen geschichtlichen Verständnisses, das vor allem erforschen, entdecken, aufspüren, prüfen und verstehen will und – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie wertet. Z. B. ähneln die Beurteilungen der Kirchenväter nach einem bestimmten dogmatischen Maßstab eher einem nachträglichen Herumdoktern, dem nicht mehr Sinn beizumessen ist als dem Unternehmen eines Arztes, der heutzutage die alten Griechen und Römer von den Krankheiten heilen will, an denen sie gestorben sind. Ein solches Unternehmen kann nur als Ausbund von papierener Gelehrsamkeit bezeichnet werden.46
Echte Geschichtsforschung will vor allem ihrem Gegenstand gerecht werden, ihn lebendig beschreiben, statt ihn nach von außen bezogenen Kriterien zu richten. Das schließt aber die Beschreibung des inneren Problemgehalts, der internen Spannungen des Betrachteten nicht aus, sondern ein.
Die Wissenschaft lebt in und von ihren Methoden, aber das heißt nicht, dass sie in diesen Methoden aufgeht und dass »sie ohne weiteres ihr ihren Wert verleihen. Denn es gibt gute und schlechte Methoden, und nur die kritischen sind gut, vor allem diejenigen, deren Bevorzugung die Wissenschaft ihre Selbstkritik verdankt.«47 Eine allgemeingültige Methode, die für jede Quelle passt, gibt es nicht. Sie ist in der Geschichtsforschung auch gar nicht zu erwarten, da diese nicht mit einer vorher feststehenden Meinung an den Stoff herantritt, sondern aus dem Gegenstand selbst erwächst und sich selbst ständig daraufhin überprüft, ob sie dem Objekt gerecht wird.
Dabei ist nichts lähmender für die historische Kritik, als die Lösung der geschichtlichen Probleme außerhalb ihrer oder gar in einem Eingreifen Gottes zu suchen. Es muss ein selbstverständlicher methodischer Grundsatz sein, das Unbekannte zunächst aus dem Bekannten herauszufinden. Wir setzen bei den Tatsachen ein48, um von dort auf weniger Sicheres zurückzuschließen.49
Meine im Anschluss an Franz Overbeck50 entwickelte Idee einer profanen Kirchengeschichte mündet ein in die Forderung: Entheiligt und gereinigt von allen kirchlich-theologischen Sonderbestimmungen und Erkenntnisprivilegien, »in reiner Weltlichkeit und, wie die wörtliche Übersetzung des Wortes profan lautet, in ›Ruchlosigkeit‹ soll der kirchenhistorische Prozeß verfolgt werden.«51
Damit ist noch nichts über die Wahrheit oder Unwahrheit, über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des zu beschreibenden Objektes ausgesagt. »Die profane Kirchengeschichte beruht nicht auf der Annahme, daß das religiöse Leben der Menschen ein Irrtum sei, wohl aber setzt sie voraus, daß es möglichst ohne Vorurteile erforscht werden müsse.«52
Allerdings meine ich, dass, wenn Gott sich in Jesus von Nazareth den Menschen gezeigt hat, die profane Kirchengeschichtsdarstellung als ehrliche Wahrheitsforschung ihrem Gegenstand nicht entgegenstehen wird. Im Anschluss an Erich Seeberg gesagt: »Ich möchte meinen, daß die geschichtliche Arbeit imstande ist, ein geschichtliches Bild vom Christentum zu erzeugen, das gewissermaßen wie ein Urbild selbst produktiv wirkt.«53
Nun ist klar, dass zur Verarbeitung des riesigen historisch-literarischen Materials – auch in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten – über die bereits gegebene Bestimmung einer Geschichte des Urchristentums hinaus die Aufgabe sinnvollerweise von einer bestimmten Fragestellung aus zu erfolgen hat. So könnte der leitende Gesichtspunkt z. B. der Kult bzw. der Gottesdienst oder die Liturgie sein54, ein anderer die Theologie55, ein weiterer die religionsgeschichtliche Frage, wie sich in den ersten beiden Jahrhunderten die Hellenisierung des Christentums als einer ursprünglich jüdischen Religion vollzog.56 Zugleich ist auf die Wichtigkeit der lokalen Frühgeschichte hinzuweisen (Rom57, Korinth58, Ephesus59, Philippi60, Antiochien61, Alexandrien62 usw.).
Ich möchte für meine Arbeit stattdessen als leitenden Gesichtspunkt den Aspekt der Ketzerei bzw. des Ketzers wählen.63 Ketzerei hat in der heutigen deutschen Sprache den Sinn von Abweichungen »von einer allgemein als gültig erklärten Meinung oder Verhaltensnorm«64 angenommen. Deshalb eignet sich der Begriff gut als leitender Gesichtspunkt einer auf allgemeines Interesse zielenden Darstellung. Demgegenüber ist der Ausdruck »Häresie« auf den kirchlichen Bereich beschränkt und kann den Leser daran hindern, Interesse für den behandelten Gegenstand zu entwickeln.65 Übrigens kommt das Wort Ketzer nicht etwa von Katze, wie man lange meinte, sondern von Katharer (griech. katharoi = die Reinen; ital. gazzari = Ketzer).66
Die letzte Ketzergeschichte des Urchristentums entstammt der Feder des Jenenser Professors Adolf Hilgenfeld aus dem Jahre 188467 und ist gewissermaßen Ausläufer einer Vielzahl von Ketzerhistorien, die allerdings z. T. die ganze Kirchengeschichte umspannen.68 Sein Werk orientiert sich daran, welche Gruppen von der katholischen Kirche als Häretiker angesehen wurden, und beginnt nach einem Überblick über die antihäretischen Schriften der ersten Jahrhunderte mit Simon, dann folgen Menander, Satornil, Basilides usw.69
Diese Vorgehensweise, die in etwa der seiner Vorgänger entspricht, strebe ich hier nicht an. Ich orientiere mich im Folgenden vielmehr an der Fragestellung des Göttinger Patristikers und Neutestamentlers Walter Bauer, der im Jahre 1934 ein wahrhaft denkwürdiges Werk veröffentlichte: »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum«. In der Einleitung dieses leidenschaftlich geschriebenen Buches führt Bauer aus:70
»Es ist für uns heute doch wohl keinem Streit mehr unterworfen, daß die neutestamentlichen Schriften wissenschaftlich nicht zu verstehen sind, wenn man vom Ende des kanonbildenden Prozesses auf sie als auf heilige Bücher zurückblickt und sie nun als Bestandteil der überirdischen Heilsurkunde mit allen daraus sich ergebenden Eigenschaften wertet. Wir haben uns längst angewöhnt, sie aus ihrer Zeit heraus zu begreifen, die Evangelien als mehr oder weniger gelungene Versuche, das Leben Jesu zu erzählen, die Paulusbriefe als Gelegenheitsschriften, an bestimmte, unwiederholbare Sachlagen gebunden mit örtlicher wie zeitlicher Beschränkung ihres Geltungsbereiches. So müssen wir auch den ›Ketzern‹ gegenübertreten. Auch sie wollen wir aus ihrer Zeit heraus erfassen und messen sie nicht an einer werdenden oder gar der späterhin fertiggewordenen Kirchenlehre als dem Normalmaßstab …