Buch lesen: «DUNKLE SONNE»

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Gerd Frey

DUNKLE SONNE

Fantastische Erzählungen

AndroSF 116

Gerd Frey

DUNKLE SONNE

Fantastische Erzählungen

AndroSF 116

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Oktober 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Lothar Bauer

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 261 4

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 836 4

Innenwelt

Begegnung

Es war kurz nach sieben. Ich hielt mich an einer der abgegriffenen Metallstangen der U-Bahn fest und schaukelte im Rhythmus der Fahrbewegung. Neben der Tür am anderen Ende des Waggons stand ein Wagenpolizist mit dunkelrotem, heruntergeklapptem Visier, hinter dem ein winziges Display flimmerte und ihn mit aktuellen Daten versorgte. Die Bahn schwenkte in eine Kurve und das Quietschen der Räder drang durch die angekippten Oberfenster ungedämpft in den Wagen. Um diese Zeit war es fast unmöglich, einen Sitzplatz zu bekommen. Die Leute standen körpernah beieinander, im Nacken spürte man den Atem des anderen.

Ich rückte meine altmodische Spiegelbrille zurecht, ein Relikt aus den Achtzigern, das gerade wieder in Mode kam, und blickte mich suchend um. Ich wusste nicht, an welcher Station sie die Bahn betreten würde. Vielleicht hatte sie ihre Meinung geändert und würde sich nie wieder bei mir melden. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, mir genau das zu wünschen.

Die U-Bahn hielt, ein neuer Schwall von Fahrgästen drängte sich in den Wagen. Ein schwitzender, fetter Mann in der Uniform eines Straßenwächters stellte sich neben mich. Sein saurer Geruch drang mir in die Nase, ich versuchte, von ihm wegzurücken. Eine vielleicht dreißigjährige Frau, die vor mir auf der schmalen Sitzbank saß, blickte von ihrem teuren, noch auf Papier gedruckten Buch auf und starrte mir sekundenlang in die Augen. Ein kalter, durchdringender Blick.

Die Bahn fuhr hart an, ich musste aufpassen, nicht den Halt zu verlieren. Hinter mir spürte ich eine Bewegung, drehte mich um und schaute in ihr Gesicht. Ich hatte sie noch nie so nah vor mir gehabt. Ihr Anblick jagte mir prickelnde Schauer durch den Kopf. Wenige Millimeter dicke, durchsichtige Schläuche überspannten ihren Nasenrücken, liefen über das Gesicht und verschwanden unter der dunklen, lederartigen Kleidung. Ich konnte deutlich erkennen, wie Blut und andere Flüssigkeiten durch die Schläuche flossen. Leicht nach oben gebogene Schmucknadeln, deren verdickte Enden hell und kalt auffunkelten, ragten in Höhe der Wangenknochen aus ihrer Haut. Die Augen waren reflektierende Kuppen, in denen sich das Rot des Mundes spiegelte.

Ihre schmalen Lippen zitterten. Sie ergriff mein Handgelenk und zog mich zur Tür. Die Lichter der nächsten Station wischten an den schmutzbedeckten Fenstern der Bahn vorbei, die Türen öffneten sich, sie schob mich hinaus. Ich rutschte plötzlich ab, stolperte auf den Bahnsteig und fiel. Sie fing meinen Sturz auf, und als ich sie berührte, fühlte ich das erste Mal ihren wirklichen Körper: Harte Formen, bis auf ein handgroßes Oval in der Bauchgegend, in dessen Vertiefung meine Hand weiche Wärme spürte. Ich zuckte zurück, während der Zug kreischend vorüberjagte, uns mit Papierfetzen und Staubwolken überschüttete und in der Dunkelheit des Tunnels verschwand. Es wurde still. Wir standen völlig allein auf dem Bahnsteig. Ich kannte die Station nicht. Sie lag zwar auf meiner Strecke, war mir aber bisher nicht aufgefallen. Um das ausgebrannte Überwachungshäuschen in der Mitte des Bahnsteigs häuften sich Abfall und Unrat. An einer Wand erkannte ich groß aufgesprayt das Symbol für Radioaktivität.

»Wohnst du hier?«, fragte ich.

»Komm!«, sagte sie und zog mich mit sich. »Wir müssen vom Bahnsteig weg.«

Ich folgte ihr und betrachtete von hinten ihren Körper. Ich wusste genau, wie sie unter der dunklen, leicht abgetragenen Kleidung aussah. Ich hatte wohl hundertmal ihren Körper berührt, meine Lippen auf die ihren gepresst und das Zittern ihres Fleisches gespürt. Nach einer zufälligen Partnervermittlung, bei der man seinen natürlichen Körper als Simulation freigab, hatten wir unsere Codes getauscht. Seitdem nahmen wir jede Woche miteinander Kontakt auf.

Wir verließen die Bahnstation und betraten einen Weg, der eine breite, dichtbefahrene Straße entlangführte. Ein Obdachloser hockte mit Plastikeinkaufstüten voll Lumpen in einem Autowrack am Straßenrand, kaute an einem schwarzen Etwas und kratzte sich die aufgedunsene Nase. Sein Gesicht war rot und mit eitrigen Pusteln bedeckt. Ich glaubte mich an Bilder aus dieser Gegend zu erinnern. Sie gingen damals über alle Kanäle: Der im Straßengraben liegende, aufgerissene und ausgebrannte Laster mit den radioaktiven Abfällen. Eine militante Umweltschutzorganisation feuerte eine Bodenlenkrakete auf ihn ab und wollte damit auf illegale Abfalltransporte aufmerksam machen. Man hatte überraschend schnell die für den Anschlag Verantwortlichen ermitteln können und überführt. Eine sich schnell formierende Bürgerwehr stürmte damals das Gerichtsgebäude und knüpfte die Angeklagten – drei Männer und eine Frau – an der Hochstraße auf. Drei Tage hingen die Leichen über den dahinfahrenden Autos. Diese Bilder waren jedem bekannt.

Ich blickte die dunklen Häuserfassaden hinauf. An einigen Fenstern war Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Ich hörte Kinderstimmen, ein Mädchen begann zu weinen, dann zu schreien. Ich hasste diese Stadtviertel.

An einer umgekippten Kommunikationssäule blieb sie stehen. »Du kannst es dir noch überlegen«, sagte sie. »Es ist illegal – und ich hätte auch nie die Genehmigung dafür erhalten.«

»Bist du strahlengeschädigt?«

Sie lachte lauthals. »Die ganze Stadt ist strahlengeschädigt – vielleicht sogar die ganze Welt. Was glaubst du eigentlich, was hier läuft? Hast du dir schon einmal die Krankenhäuser der Stadt angesehen. – Es sind bessere Krematorien.«

Ich blickte nach unten und schüttelte den Kopf. »Hör auf! Ich will nichts davon hören. Ich will …«

Sie ließ mich stehen und ging weiter. Ein Bettler kam auf mich zu und brabbelte unverständliche Beschimpfungen. Ich wich ihm aus und beeilte mich, sie einzuholen. Der Bettler grunzte und warf eine leere Flasche hinter mir her. Sie schlug neben mir auf den Boden und zersplitterte.

An einer Straßenkreuzung kamen wir an einem überfahrenen Hund vorbei. Große, quiekende Ratten fraßen an ihm. Als ich einen Stein nach ihnen warf, versuchten sie in einem Loch der Kanalisation zu verschwinden.

Nach etwa hundert Metern blieb sie vor einem fünfstöckigen Altbau stehen. Das Gebäude sah gut erhalten aus, alle Wohnungen schienen bezogen zu sein. Die meisten Fenster waren unbeschädigt und der Eingang nicht mit Müllsäcken zugestellt.

»Wir bringen das Zeug selbst zur Halde«, sagte sie auf meinen Blick. »Wir haben es sogar geschafft, die Ratten draußen zu halten.«

Ihre Wohnung lag im zweiten Stock. Sie schloss die Tür auf und wies mich an einzutreten. Die Wohnung war, abgesehen von Tischen, Stühlen und einigen technischen Geräten, fast leer. Große, in kraftvollen Farben gehaltene Zeichnungen bedeckten die Wände.

»Sieht nicht schlecht aus«, stellte sie mehr für sich selbst fest und öffnete Ihre Jacke. Mit einem elektrischen Knistern lösten sich die Kontakte. »Stammt noch vom Vormieter.«

Unter der Jacke war sie nackt, zumindest lag darunter ihr bloßer Leib. Ich erkannte, dass ein Teil ihres Körpers von Kunsthaut bedeckt war. Schwach konnte ich auch die schmalen, weißen Narbenlinien eines Laserskalpells ausmachen. Sie schienen den ganzen Körper zu umlaufen. An ihrer Computersimulation war mir Derartiges nie aufgefallen. Ihre Brüste waren klein und fest, die Brustwarzen aufgerichtet. Sie bemerkte, dass ich sie anstarrte.

»Zieh dich aus und leg dich dort hin«, sagte sie und wies mit der Hand auf eine Liege.

Ich entkleidete mich und ließ die Sachen auf den Boden fallen. Es war unangenehm kalt im Zimmer. Fröstelnd legte ich mich hin.

»Auf den Bauch«, sagte sie und hockte sich neben mich. Ihre zugeschliffenen Nägel kratzten über meinen Rücken. Sie stand auf, verließ das Zimmer und kehrte mit einem schwarzen, quadratischen Metallkasten auf Rollen, der ihr bis zu den Knien reichte, zurück. Sie verband mehrere Anschlüsse mit einem kleinen Monitor, löste ein bleistiftgroßes Gerät aus seiner Halterung und fuhr mir damit über den Rücken. Grüne Zahlenkolonnen erschienen auf dem Monitor, unterbrochen von grafischen Umrissen des menschlichen Körpers. Sie führte die Spitze des Gerätes meine Wirbelsäule entlang und drückte es zwischen die Schulterblätter. Heiß stieß mir ein plötzlicher Schmerz in den Schädel. Durch meine Wirbelsäule flutete geradezu stoffliche Kälte. Ich stöhnte. Ihre Hand glitt beruhigend über meinen Rücken.

»Ich muss erst die Blockade lösen«, sagte sie. »Sonst bekommst du keine Erektion. Das ist etwas anderes als im Cyberspace!«

Ich wollte den Arm hochziehen, doch ich konnte ihn nicht mehr bewegen. Ein dumpfes, taubes Gefühl lähmte mich.

»Gleich vorbei«, sagte sie leise. »Ich habe so etwas noch nie gemacht. Aber es sieht gut aus.«

Sie nahm den Stift von meiner Wirbelsäule und drehte mich auf den Rücken. Ich fühlte mich völlig unbeteiligt, beobachtete jedoch mit wachsender Faszination, was sie als Nächstes tun würde. Langsam wich das Gefühl der Taubheit. Ich rieb meine prickelnden Fingerspitzen.

Sie zog eine Spritze auf und injizierte mir vorsichtig einen Teil der gelblichen Flüssigkeit in den Oberarm. »Es wird deine Seele öffnen. Ich habe lange gebraucht, um den Stoff zu bekommen.« Sie zog die Nadel heraus und injizierte sich die zweite Hälfte.

»Schließ die Augen«, flüsterte sie.

Ich gehorchte, spürte aber ihre tastenden Hände. Meine Haut sog gierig ihre Wärme auf, ihre Berührungen. Als sie mich küsste, waren ihre Lippen trocken und kalt. Sie setzte sich langsam auf mich, und ich fühlte, wie ich in sie drang. Ihr Körper schmiegte sich an mich, ich verspürte die beginnende Wirkung der Droge. Sie begann mit langsamen kreisenden Bewegungen und ich bemerkte, wie sie sich mit den Händen rechts und links von meinem Kopf abstützte. Ich öffnete die Augen. Mein Blickfeld war seltsam eingeengt, verzerrt und wurde nach und nach von anderen Bildern überlagert.

»Ich habe vor zwei Wochen meine Regel erzwungen.« Ihre Stimme überlagerte ein lauter werdendes Rauschen. »Es wird sicher nicht beim ersten Mal klappen. Du darfst es dir auf keinen Fall wünschen …« Ihre Stimme wurde vom Rauschen verschluckt.

Ich versuchte, die fremden Bilder aufzunehmen. Verwaschene rot-gelbe Farben ohne Konturen zuckten in einem langsamen Rhythmus vor meinen Augen. Ich glaubte, die stark vergrößerten Umrisse von Zellformationen zu erkennen. Das Rauschen wurde zu einem dumpfen, gemächlichen Pochen. Im Hintergrund nahm ich ein fast unhörbares Flüstern wahr. Wie ein Seufzen der Luft über dem Wasser einer stillen See, kurz vor dem Sturm. Irgendwie fühlte ich ihre Lippen, meine Lippen, unsere sich berührenden Zungen und konnte beides nicht voneinander trennen. Es war eine Entkrampfung, als ich laut, fast tierisch aufschrie. Ein heißes, prickelndes Stechen quoll in mir auf, wild tanzten die Farben um mich herum. Als wir einander durchdrangen stockte mir der Atem, als hätte ich einen Schlag auf die Brust bekommen. Das Bild zerstob, es wurde dunkel. Ich wusste nicht, ob die Droge Traumsequenzen enthielt, aber ich begann einen sandigen, mit kleinen Steinen übersäten Boden unter mir zu fühlen.

»Ich liebe dich.« Ihre Stimme neben meinem Ohr. »Ich sehe unser Kind. Ein kleines zerknautschtes Etwas mit feuerroter Haut. Ich kann es riechen und fühlen. Es liegt ganz warm in meinen Armen.«

Ihr schwach leuchtendes, weiches Gesicht. Dahinter eine glatte Linie, sie trennte Wasser und Himmel. Es war still.

Einer der drei Polizisten stieß mit einem kräftigen Tritt gegen die Tür. Holz splitterte. Er trat ein zweites Mal dagegen, die Tür schlug auf. Sie betraten mit gezogenen Waffen die Wohnung und fanden die beiden sich umschlingenden Körper im Wohnzimmer. Die Frau bewegte sich, bäumte sich auf. Einer der Polizisten feuerte auf sie. Ein Schuss durchschlug ihre Brust und zerfetzte einen Lungenflügel, der andere traf ihre Schläfe. Sie war auf der Stelle tot.

Die Polizisten trennten die beiden Körper voneinander. Den unter Drogen stehenden Mann zwängten sie in ein Häftlingshemd und verschweißten es auf dem Rücken. Er wurde wegen Verstoßes gegen das Geburtenregelungsgesetz festgenommen. Sie überprüften die restlichen Zimmer, bevor sie die Wohnung verließen und die Tür versiegelten. Zwei schleppten den Mann nach unten, der dritte informierte die Organverwertung, um die Leiche abholen zu lassen.

»Wenigstens auf die Mithilfe der Nachbarschaft kann man sich noch verlassen«, sagte der Fahrer zu den drei in den Wagen steigenden Polizisten und fuhr langsam die Straße hinunter.

Terminiert

Rob ging langsam den Gang entlang. Vor und hinter ihm verschluckte Dunkelheit jegliche Raumkontur. Dennoch schien die alles verschlingende Schwärze lebendig und von noch dunkleren Schatten bevölkert zu sein. Hin und wieder glaubte er, die blassen Windungen gewaltiger Eingeweide zu erkennen, und rechnete jeden Augenblick damit, von etwas Monströsem angesprungen zu werden. Der Gang schien endlos und nur die spärlich verteilten Fackeln an den rußigen Wänden vermittelten ihm den Eindruck, voranzukommen. Es roch plötzlich nach verrottenden Pflanzen und Verwesung, sodass er unwillkürlich seinen Schritt beschleunigte.

Hinter sich glaubte er etwas atmen zu hören. Ein röchelndes Geräusch, so erschreckend nah, dass sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Er drehte sich vorsichtig um und sah einen länglichen Körper von der Decke baumeln. Die bläulich schimmernde Haut war von dickknotigen Adern überspannt, und in dem fast kreisrund klaffenden Maul rotierten blitzende Metallzähne.

Der Körper, der aus einem zackigen Loch herunterhing, zuckte mit schlagenden Bewegungen vor und zurück. Rob fühlte sich bedroht. Wirklich sehr eindrucksvoll! Mark musste monatelang an dem Monster gearbeitet haben. Die Polygone waren dicht gesetzt und die Texturen brillant. Er zog seinen Energiewerfer aus der Halterung und feuerte. Ein blau gleißender Impuls jagte der Kreatur in den Kopf, zerfetzte ihn und ließ einen Hagel blutigen Körpergewebes niedergehen. Rob schüttelte sich. Manchmal ging Mark zu weit.

Rob wollte sich gerade umwenden, als noch ein Monster aus dem Loch schnellte. Er kam kaum dazu, die Waffe erneut zu heben, als ihn das Wesen erreichte. Das Maul mit den rotierenden Zähnen schnappte um die Hand, in der er den Energiewerfer hielt, sodass er gerade noch Zeit hatte, einen Schuss auszulösen. Durch sein minimiertes Schmerzempfinden merkte er kaum, wie ihm die Hand abgebissen wurde. Eine Fontäne grünen Blutes schoss aus seinem ausgefransten Armstumpf, da explodierte vor ihm das zweite Monster.

»Sehr komisch, Mark!«, rief er in die Dunkelheit. Mit der unversehrten Hand zog er die Waffe aus der dampfenden Blutmasse. Weiter den Gang entlang. Er musste den Ausgang finden oder sterben, nur so konnte man den Level verlassen.

Nach einigen Metern veränderte sich die Wandstruktur. Eine klebrige Substanz überzog den massiven Stein. Darunter zeichneten sich organische Strukturen ab. Der niedrige Gang weitete sich. Aus kleinen Öffnungen sickerte trübes Licht in dunstigen Flecken zu Boden. Nebelschwaden trieben durch die Luft.

Er erreichte den Eingang einer riesigen Arena, in deren Mitte er den dunklen Leib eines Raumschiffes erblickte. Es ragte Hunderte von Metern in einen wolkenverhangenen Himmel. Wurde er erwartet? Rob lächelte. Selbst Mark gelang es nicht immer, hundertprozentigen Realismus zu erzeugen. Die Wolkenformationen zogen etwas zu gleichmäßig dahin, als dass sie einen geübten Betrachter täuschen konnten.

Nach einigen tiefen Atemzügen lief er langsam auf das Schiff zu. Es herrschte absolute Stille. Nicht einmal Windgeräusche waren zu vernehmen. Als er die Hälfte der Strecke hinter sich hatte, gab es ein Geräusch wie das Entriegeln eines riesigen Tors. Ein silbern glühender Faden schoss über die Länge der schwarzen Schiffshülle und verbreiterte sich. Es entstand eine gleißende Öffnung, die zuweilen unruhig flackerte. Rob schaltete seinen Schutzschild mit dem Oval des milchigen Energiefeldes ein.

In diesem Augenblick trat ein Schatten in das gleißende Lichtfeld des Raumschiffs. Die Kreatur war riesig und bewegte sich schwerfällig wie ein Urzeitwesen. Der Boden bebte, als ihm die Kreatur entgegenstapfte. Die Umrisse, die er ausmachen konnte, enthüllten gewaltige Hornplatten mit spitzen Dornen, die den Körper des Ungeheuers bedeckten, dazu unzählige stachel- und klauenbewehrte Auswüchse. Er musste sich zwingen, nicht Hals über Kopf davonzurennen. Schließlich war alles nur eine Simulation.

Die Erschütterungen wurden immer heftiger, die Kreatur kam schnell näher. An ihrem flachen, länglichen Kopf leuchteten drei rote Augen. Hier lag höchstwahrscheinlich der Punkt, an dem Mark das Monster verwundbar gelassen hatte. Er würde schon beim ersten Mal genau zielen müssen, oder es würde ein anstrengender Kampf werden. Rob schaltete sein Schutzfeld ab, hob langsam den unverletzten Arm mit der matt leuchtenden Waffe, visierte eines der Augen an und zog den Auslöser durch. Augenblicklich schloss sich das verspiegelte Lid des Auges, der Energieimpuls wurde reflektiert, jagte zu Rob zurück und schlug ihm ein zentimetergroßes, merkwürdig sauberes Loch in die Brust. Seine Gesundheitsanzeige sackte auf vierundzwanzig Prozent. Rob taumelte zurück. Sein virtueller Körper geriet aus dem Gleichgewicht. Er fiel auf den Rücken. Das Monster jagte auf ihn zu.

Rob verschlug es die Sprache. Mark hatte sich diesmal selbst übertroffen. Er hatte das Letzte aus dem Level-Editor herausgeholt – und noch ein ganzes Stück mehr. Das Monster kam über ihm zum Stehen. Es öffnete ein Maul und brüllte mit Marks Stimme ein erschütterndes GAME OVER. Eine Klauenhand hob sich zum letzten Schlag, und Rob rief QUIT.

Die Klauenhand traf ihn. Der augenblicklich einsetzende Schmerz ließ ihn aufbrüllen, bevor die Fratze des Monsters verblasste.

Rob streifte sich die Sensorelektronik vom Kopf und ließ sich in seinem Drehstuhl zurückfallen, während die imaginäre Wunde noch auf seinem Gesicht brannte. Es war eine Art Aberglaube, dass Rob das Spiel jedes Mal vor seinem virtuellen Exitus durch das Sicherheitscodewort beendete. Warum es dieses Mal nicht funktioniert hatte, war ihm ein Rätsel. Er brauchte etwas Zeit, um das Schwindelgefühl zu verlieren, nachdem er die Verbindung mit dem Rechner gekappt hatte. Rob berührte fast liebevoll die antiquierte Tastatur, die seinen Rechner noch zierte. Die alten Dinger waren unverwüstlich, wenn man nicht gerade seine Mahlzeiten hineinkrümeln ließ.

»Kontakt Mark«, rief er und sein Rechner stellte nach dem unvermeidlichen Werbeclip des Netz-Providers mit den 3-D-gerenderten Animationen die Verbindung her.

Er musste warten, bis Mark den Anruf bestätigte, und hatte dann dessen gestochen scharfes Bild auf dem Schirm.

»Hi!«, rief Rob und hob Marks Datendisk in die Höhe. »Ich kann nicht glauben, was du da zusammengezaubert hast. Genial! Ihr Informatiker habt wirklich ein Rad ab.«

Mark grinste mit schiefem Gesicht. »Ich hoffe, du hast nicht die Hosen voll! Bist du durchgekommen?«

»Bei dem Viehzeug, das du auf mich losgelassen hast? Bis zum Raumschiff hab ich’s geschafft, dann war Schluss … Keine schlechten Biester, die du dir da ausgedacht hast.«

Gelassen zuckte Markt mit den Schultern. »Ich hab ein paar Bildbände von Giger durchstöbert. Da bekommt man Inspiration pur. Der Mann hat wirklich Fantasie. Vor ein paar Jahren hatte ich mir mal ein Bild von ihm ins Zimmer gehängt. Nach zwei Wochen konnte ich es nicht mehr sehen. Du bekommst Albträume von dem Zeug.«

Rob begann zu lachen. »Du und Albträume! Deine Splattereffekte waren so widerlich, dass es mir fast den Magen umdrehte. Du solltest vielleicht nicht so ins Detail gehen. Außerdem gab es Probleme mit dem Sicherheitscodewort. Ich hab ‘ne volle Ladung abbekommen, und das bei eingeschaltetem Schmerzempfinden.«

Mark blickte entsetzt. »Das ist unmöglich, ich meine … Rühr’ das Programm bitte nicht an, solange ich keinen Blick darauf geworfen habe. Okay?«

»Ist mir auch lieber so«, erwiderte Rob.

»Ich werde aber in nächster Zeit kaum dazu kommen. Bin gerade einem verteufelt intelligenten Virus auf der Spur. Alte Programmiererehre, diese Dinger zu knacken! Als ich gestern meinen Rechner runterfuhr und kurz vom Netz löste, entdeckte ich ihn durch Zufall. Ich hab nämlich ein kleines Sicherheitsprogramm entwickelt, das den Zeitraum überprüft, den der Rechner benötigt, um alle Anwendungen zu beenden. Bei mir dauerte der Vorgang etwa zwölf Sekunden länger als vom Programm berechnet. Der Toleranzbereich liegt bei plus minus zwei Sekunden. Bleiben also noch immer zehn Sekunden, in denen Dinge passieren, die eigentlich nicht passieren sollten. Bisher konnte ich noch keine weiteren Veränderungen feststellen, aber ich nehme an, dass sich der Virus früher oder später bemerkbar machen wird. Meine aktuellen Virenscanner haben jedenfalls versagt. Vielleicht sehe ich auch nur Gespenster, und mein Rechner hat viel handfestere Probleme.«

»Klingt jedenfalls seltsam«, sagte Rob. »Für mich ist es zumindest beruhigend, dass auch ein Profi wie du an Grenzen stößt. Treffen wir uns heute Abend im Soul Reaver

»Punkt neun!«, bestätigte Mark. »Lass dir nicht wieder so viel Zeit wie beim letzten Mal.«

Das Soul Reaver war ein kleines Internetcafé, gleich bei Rob um die Ecke. Man konnte eine Kleinigkeit essen und trinken und danach an einem der freien Rechner ins Netz tauchen. Das Essen, überwiegend aus der Kühltruhe, war nicht besonders, aber Rob kam wegen der Leute hierher. Mark saß an einem Tisch in der Ecke und rauchte eine der neuen Designerzigaretten. Er konnte es an dem blauen Ring um den Filter erkennen. Die Dinger waren vollgepackt mit leichten Drogen und ließen jeden nach spätestens drei Minuten wie blöde grinsen.

»Schon was gegessen?«, fragte Rob.

»Nein, lass uns bestellen.« Mark schaute ihn an, als hätte er etwas Ungeheuerliches mitzuteilen.

»Mit dir stimmt doch was nicht«, sagte Rob. »Willst du es wieder mit Jana versuchen? Du weißt, wie ich darüber denke. Die Frau …«

»Hier, lies!« Mark schob ihm mehrere Blätter in Programmiersprache vor die Nase. »Erinnerst du dich an unser Gespräch von heute Nachmittag? Das Ding ist kein Virus, wie ich dachte.«

»Sondern?«

»Ein fremdes Programm. Äußerst raffiniert.«

Rob betrachtete die Blätter, zuckte mit den Schultern und schob sie zu Mark zurück. »Du weißt, davon verstehe ich keinen Deut. Versuch es mir zu erklären!«

Mark senkte die Stimme: »Ich habe den ganzen Nachmittag daran gesessen. Erst als ich anfing, Dateigrößenvergleiche anzustellen, bemerkte ich, dass bestimme Dateien größer waren als üblich. Betroffen waren besonders erweiterte systeminterne Konfigurationsdateien, die ohnehin ständigen Größenschwankungen unterliegen und in die der Anwender normalerweise nicht eingreift. Diesen Dateien waren Daten angehängt, die dort nicht hingehörten. Insgesamt, so meine Schätzungen, sind rund vierzig Megabyte meines Speichers durch solche Dateianhängsel belegt – eine Menge, die man bei den heutigen Gigabytesystemen ohnehin nicht mehr registriert. Als nächstes habe ich festgestellt, dass diese Daten Programmfragmenten ähneln und miteinander verzahnt sind. Sie kommunizieren sogar miteinander. Bemerkenswert sind jedoch zwei ganz andere Dinge. Diese Programmstrukturen funktionieren wie ein sich selbst fortpflanzender Organismus, oder genauer gesagt, wie genetisches Material. Man kann einen Teil der befallenen Dateien löschen, erreicht damit aber nur, dass nach kurzer Zeit andere Dateien beschrieben werden. Ähnlich wie in einem genetischen System: Zellen sterben ab, Zellen werden erneuert. Interessanterweise sind die neu erzeugten Programmstrukturen nur zum Teil identisch.«

»Wofür soll das gut sein?«, fragte Rob, als Mark eine kurze Pause einlegte.

»Kann ich noch nicht sagen. Ich werde es spätestens dann merken, wenn das Ding anfängt, im Rechner was kaputt zu machen.«

»Willst du das Programm nicht entfernen?«

Mark zündete sich eine neue blauberingte Zigarette an, blies eine süßliche Qualmwolke in die Luft und lächelte. »Das sind genau solche Herausforderungen, an denen ich nicht vorbeikomme. Aber vielleicht entpuppt sich dieser Virus als eine harmlose Sache.«

»Dafür scheint das Ding zu intelligent gebaut. Meinst du nicht?«, erwiderte Rob.

Rob gruppierte sämtliche Objekte, gab den Polygonbegrenzungen eine einheitliche Linienstärke und speicherte ab. Er hatte leichte Kopfschmerzen von der ständigen Arbeit am Bildschirm. Zwar hätte er auch mit den Virtual Glasses arbeiten können, doch die damit verbundenen Steuerungsvorgänge behagten ihm nicht. Ein Blick auf die Uhr – schon wieder weit nach achtzehn Uhr. Eigentlich ging seine Arbeitszeit bis sechzehn Uhr. Dennoch kam er selten früher hier weg. Dabei durfte er sich als einer der wenigen fest angestellten Grafiker in der Agentur noch glücklich schätzen. Die meisten mussten sich als sogenannte Freie auf dem immer dünner werdenden Arbeitsmarkt durchschlagen.

Rob wollte seinen Rechner gerade in den Stand-By-Modus schalten, als ein Anruf einging. Marks stoppelbärtiges Gesicht erschien auf der Bildplatte. Seine Augen blickten verstört.

»Hallo, Rob«, sagte er. »Ich muss mit dir reden. Kommst du zu mir?«

»Ich habe eigentlich schon etwas vor.« Rob lehnte sich leicht zurück. »Es müsste schon etwas sehr Wichtiges sein …«

»Es ist verdammt wichtig«, erwiderte Mark schnell, und sagte dann beinahe flehend: »Bitte!«

»Okay, ich kann aber nicht lange bleiben. Auf diese Verabredung habe ich lange hingearbeitet.«

»Ich warte auf dich.« Mark lächelte gequält. »Danke!«

Mark wohnte in einem der Altbauviertel. Es stank nach Hundekot, an den Straßenrändern lagen Müllsäcke. Die Stadtreinigung hatte sich hier schon seit Monaten nicht mehr sehen lassen. Drei etwa zehnjährige Kinder standen am Ende der Straße und hielten einen großen Hund an der Leine. Der Köter kläffte ihn an. Die Kinder lachten und riefen Schimpfwörter. Rob ignorierte sie.

Mark hatte seine Wohnung im dritten Geschoss eines noch halbwegs intakt aussehenden Gebäudes. Die massive Wohnungstür war mit hellgrüner, schon abblätternder Farbe gestrichen. Dort, wo der Klingelknopf sein sollte, ragten zwei kurze Kabelenden aus der Wand. Mark hatte sich nie Mühe gegeben, aus dieser Wohngegend herauszukommen. Rob hätte es hier nicht ausgehalten. Er klopfte.

Mark öffnete die Tür und ließ ihn ein. Obwohl Rob das letzte Mal vor rund zwei Jahren hier gewesen war, hatte sich an der Einrichtung nicht viel geändert. Zentrum der Wohnung war das Wohnzimmer, in dem mehrere Rechner mit offenem Gehäuse ihren Platz hatten. Ein Tisch, drei alte Stühle und zwei Schränke waren lieblos im Zimmer aufgestellt.

Mark verschwand in der Küche und kam mit zwei riesigen Tassen Kaffee zurück. Seine Hände zitterten.

»Ich bin heute gekündigt worden«, sagte er plötzlich. »Fristlos! Laut Personalsoftware gelte ich als Risikofaktor für die Betriebssicherheit. Keine Ahnung, wieso. Entscheidungen der Personalsoftware stellt man nicht infrage. Das Mistprogramm wurde angeschafft, um die Korruption beim Personalmanagement einzuschränken. Jede größere Firma lasst ihre Personalentscheidungen über diese Software laufen. Sie berücksichtigt psychologische und physiologische Gutachten und das aktuelle Verhaltensmuster der betreffenden Person.«

»Du hast vier Jahre in dem Scheißladen gearbeitet!«, rief Rob. »Hast du keine Möglichkeit, die Entscheidung anzufechten?«

»Ich könnte einen Widerspruchsantrag einreichen. Doch bei solch einer Anschuldigung … Ich sehe kaum Chancen.«

»Warum? Man kann doch nicht einfach etwas behaupten, ohne dir eine Möglichkeit zur Richtigstellung zu geben.«

»Das Programm sorgt für ein Höchstmaß an Sicherheit. Ein Verdacht reicht aus, um deinen Job zu gefährden. Industriespionage zählt zu den häufigsten wirtschaftlichen Vergehen mit verheerenden Auswirkungen. Darauf reagiert eine Firma besonders empfindlich.

Ich habe zumindest einen Verdacht: Die Software wurde manipuliert! Ich habe dir doch von diesem merkwürdigen Virus erzählt. Hinter dem Ding steckt mehr, als ich dachte.«

Mark nahm einen Schluck Kaffee.

»Seitdem in Onlinesystemen dank der Einbindung von Werbeträgern keine Gebühren mehr anfallen, stehen die meisten Rechner in einem ständigen Kontakt mit dem Weltnetz. Der Virus nutzt diesen Zustand und kommuniziert über diese Verbindungen mit anderen befallenen Systemen. Das eigentliche Programm hinter dem Virus ist also viel größer, als ich dachte. Es ist vielleicht so gewaltig, dass es Intelligenz besitzen könnte!«

Rob starrte Mark fassungslos an. »Du spinnst!«

Mark schüttelte den Kopf. »Ich habe solche Programmstrukturen noch nie gesehen. Selbstregenerierend und in ein höheres System eingebettet. Einfach genial …«

»Aber welchen Zweck soll die Sache haben? Ein Spaß durchgeknallter Informatikstudenten?«

Mark schüttelte langsam den Kopf. »Es könnte vieles sein. Ein direkter Eingriff in unsere Privatsphäre, ein aus den Bahnen geratenes wissenschaftliches Experiment oder ein Megavirus mit eigener Intelligenz.« Mark lächelte traurig. »Such selbst heraus, was am wahrscheinlichsten ist.

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