Buch lesen: «Die Gedächtnislosen»

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GÉRALDINE SCHWARZ
DIE GEDÄCHTNISLOSEN

Erinnerungen

einer Europäerin

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

LES AMNÉSIQUES

© 2017 Flammarion, Paris

Dieses Buch erscheint im Rahmen

des Förderprogramms des Institut français.


Erste Auflage dieser aktualisierten Ausgabe

© 2019 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Christian Ruzicska

Lektorat: Joachim von Zepelin

Korrektorat: Rotkel Textwerkstatt

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Typografie: Erik Spiekermann

ISBN 978-3-906910-76-5

eISBN 978-3-906910-31-4

1Nazi oder Nicht-Nazi sein

2Deutschland im »Jahre Null«

3Das Phantom der Löbmanns

4Die Leugnung des Karl Schwarz

5Oma oder der diskrete Charme des Nationalsozialismus

6Kind von Mitläufern

7Von der Verdrängung zur Besessenheit

8Süßes Frankreich …

9Der Holocaust? Sagt mir nichts.

10Der Pakt

11Erinnerungen einer Deutsch-Französin

12Die Mauer ist tot, es lebe die Mauer!

13Österreich und Italien – kleine Übereinkünfte mit der Vergangenheit

14Nazis sterben nie

Für meine Eltern

VERWORREN IST DAS LABYRINTH des Gedächtnisses, leicht verliert man sich in seinen Versäumnissen und Lügen, in seinen toten Winkeln und in der überwältigenden Fülle seiner Irrungen.

Schwer zu bezwingen sind die Manipulatoren der Erinnerung, die Verfälscher der Geschichte, die Konstrukteure falscher Identitäten, die Schürer von Hass und die Züchter nazistischer Fantasien.

Ich muss meinen Weg im Dickicht der Vergangenheit finden, die Fäden aufgreifen, die meine Familiengeschichte bietet: die Erinnerungen einer gewöhnlichen deutschen und einer gewöhnlichen französischen Familie, ein Mitläufer der Nazis hier, ein Gendarm im Dienste von Vichy dort.

Diesen Fäden folge ich durch alle Risse und Lücken hindurch, von meinen Großeltern über die Generation meiner Eltern bis hin zu mir, einem Kind Europas, dem der Geruch des Krieges fremd ist. Und ich verwebe sie mit den Spuren der großen Geschichte, dem Suizid der europäischen Zivilisation – und dem, was darauf folgte: die grandiose Erhebung der Menschen über ihre Dämonen, des Friedens über den Krieg, der Demokratie über die Diktatur.

Es gilt, das Gedächtnis einer Familie dem Urteil der Weisheit der Historiker zu unterwerfen, diese Lügen- und Mythenjäger. Der Wissenschaft ein wenig Seele einzuhauchen, ihr das Fleisch und Blut einer Familienerzählung zu verleihen und mit ihr die Unschärfe der Conditio humana.

Ich will verstehen, was war, um zu wissen, was ist, Europa seine Wurzeln zurückgeben, die die Gedächtnislosen versuchen, ihm zu entreißen.


1Nazi oder Nicht-Nazi sein

ICH WAR NICHT WIRKLICH dazu berufen, mich für Nazis zu interessieren. Die Eltern meines Vaters standen weder aufseiten der Opfer noch aufseiten der Täter. Sie zeichneten sich nicht durch mutige Bravourakte aus, hatten sich aber auch nicht in blindem Eifer versündigt. Sie waren schlichtweg Mitläufer, Menschen, die »mit dem Strom schwammen«. Schlichtweg im Sinne einer Haltung, die der Mehrheit der Deutschen entsprach, einer Akkumulation kleinerer Blindheiten sowie feigherzigen und konformistischen Verhaltens, die in ihrer Summe die notwendige Voraussetzung für die schlimmsten staatlich organisierten Verbrechen schuf, die die Menschheit je erlebt hat. Nach der Niederlage und den auf sie folgenden Jahren fehlte meinen Großeltern wie den meisten Deutschen der nötige Abstand zur Einsicht, dass ohne die Teilhabe der Mitläufer, die auf individueller Ebene noch so gering ausgefallen sein mochte, Hitler nicht imstande gewesen wäre, Verbrechen solchen Ausmaßes zu verüben.

Der Führer selbst ahnte dies und fühlte seinem Volk regelmäßig den Puls, um zu prüfen, wie weit er gehen konnte, was gerade noch ging und was nicht mehr, wobei er das Land zugleich mit antisemitischer und nationalsozialistischer Propaganda überschwemmte. Die erste in Deutschland organisierte, groß angelegte Judendeportation, die dazu dienen sollte, die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung auszuloten, fand im Südwesten statt, genau in jener Gegend, in der meine Großeltern lebten: Im Oktober 1940 wurden mehr als 6.500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland nach Frankreich in das nördlich der Pyrenäen gelegene französische Internierungslager Gurs deportiert. Um die Bürger an ein solches Schauspiel zu gewöhnen, waren die Ordnungskräfte darauf bedacht, den Schein zu wahren, vermieden also Gewalt und setzten statt der später verwendeten Güterwaggons reguläre Reisezüge ein. Um Gewissheit darüber zu erlangen, mit wie viel Widerstandsgeist sie beim Volk zu rechnen hatten, schreckten die verantwortlichen Nazis nicht davor zurück, am helllichten Tage zu agieren, und trieben Gruppen mit Hunderten von Juden, beladen mit schweren Koffern, weinende Knirpse Seite an Seite mit erschöpften Greisen, durch die Innenstädte bis zum Bahnhof – und alles unter den Augen apathischer Bürger. Am nächsten Morgen ließen die Gauleiter stolz in Berlin verkünden, dass ihre Region als erste in Deutschland »judenrein« war. Der Führer dürfte sich gefreut haben, von seinem Volk so gut verstanden zu werden: Es war reif mitzulaufen.

Nur eine Episode, leider die einzige, hatte später gezeigt, dass das Volk nicht so machtlos gewesen war, wie es nach dem Krieg glauben machen wollte. 1941 konnten protestierende deutsche Bürger gemeinsam mit katholischen und protestantischen Bischöfen jenes Vernichtungsprogramm geistig und körperlich behinderter Menschen – oder solcher, die dergestalt eingestuft wurden – unterbrechen, welches Adolf Hitler mit dem Ziel befohlen hatte, die arische Rasse von diesen »minderwertigen Leben« zu reinigen. Obwohl die nach dem Krieg als Aktion T4 bezeichnete Geheimoperation bereits in vollem Gange war und schon 70.000 Menschen durch Vergasung mit Kohlenmonoxid in speziellen Zentren in Deutschland und Österreich ihr Leben gelassen hatten, gab Hitler angesichts dieser Empörung in der Bevölkerung klein bei und stoppte sein Vorhaben. Der Führer hatte begriffen, welches Risiko er einging, sollte er sich zu offenkundig als grausam erweisen. Es ist dies womöglich auch einer der Gründe, warum das Dritte Reich eine so unfassbar große Energie für den unendlich komplexen und mit hohen Kosten verbundenen Transport der europäischen Juden an den Tag legte, um sie in Polen, weit ab vom Blick ihrer Mitbürger, in isolierten Lagern zu vernichten.

Kurz nach Kriegsende aber stellte sich in Deutschland kaum jemand die Frage, was passiert wäre, wäre die Mehrheit nicht mit dem Strom geschwommen, sondern gegen eine Politik angegangen, die ihre Absicht, die menschliche Würde mit Füßen zu treten, als ob man Küchenschaben zermalmt, bereits sehr früh offenbart hatte. Mit dem Strom geschwommen zu sein wie mein Großvater war derart verbreitet gewesen, dass die Banalität dieses Übels zum mildernden Umstand gereichte – und zwar selbst in den Augen der alliierten Streitkräfte, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Deutschland zu entnazifizieren.

Nach ihrem Sieg hatten die Amerikaner, Franzosen, Briten und Sowjets das Land und seine Hauptstadt Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt, in denen sie sich jeweils darum bemühten, in Zusammenarbeit mit deutschen Schiedskammern die nationalsozialistischen Elemente der Gesellschaft aufzuspüren und zu bestrafen. Sie hatten die Verwicklung in die Verbrechen des Nationalsozialismus in vier Stufen eingeteilt, deren ersten drei theoretisch die Eröffnung eines Strafverfahrens rechtfertigten: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete und Mitläufer. Entsprechend der offiziellen Definition wurde mit Letzterem bezeichnet, »wer nicht mehr als nominell am Nationalsozialismus teilgenommen hat«, insbesondere, »wer als Mitglied der NSDAP […] lediglich Mitgliedsbeiträge bezahlte [und] an Versammlungen, deren Besuch Zwang war, teilnahm […]«. Tatsächlich überstieg in Deutschland mit seinen in den Grenzen von 1937 69 Millionen Einwohnern die Masse der Mitläufer die Zahl der acht Millionen Parteimitglieder der NSDAP. Millionen weitere waren angegliederten Organisationen beigetreten und viele mehr hatten den Nationalsozialismus begrüßt, ohne jedoch Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen zu sein. Meine Großmutter zum Beispiel, die kein Parteibuch besaß, fühlte sich Adolf Hitler stärker verbunden als mein Großvater, der eines besaß. Den Alliierten aber blieb nicht die Zeit, sich mit diesen Feinheiten auseinanderzusetzen. Sie hatten bereits genug zu tun mit den Minderbelasteten, den Belasteten und den Hauptschuldigen, mit der Unzahl an Beamten des höheren Dienstes, die ihre kriminellen Befehle in diesem bürokratischen Labyrinth, welches das Dritte Reich war, erteilt hatten, und all jenen, die diese dann nicht selten mit infamer Beflissenheit ausführten.

Einfache Mitglieder der nationalsozialistischen Partei wie mein Großvater kamen mehr oder weniger unbeschadet davon. Seine einzige Strafe bestand darin, dass er sich der Kontrolle über sein kleines Unternehmen, der Mineralölgesellschaft Schwarz & Co., enthoben sah, die für die Dauer einiger Jahre einem von den alliierten Autoritäten ernannten Verwalter anvertraut worden war. Es hätte ihm vermutlich auch einige Schwierigkeiten bereitet, einen Beamtenposten anzunehmen, wenn er dies denn gewollt hätte. Seine Tochter, meine Tante Ingrid, meint sich zu entsinnen, er wäre dazu verurteilt worden, »Steine zu klopfen«, doch merkwürdigerweise hat mein Vater keinerlei Erinnerung daran und hegt wenig Zweifel, dass im höchst unwahrscheinlichen Fall einer solchen Bestrafung mein Großvater, »schlau, wie er war«, es irgendwie erreicht hätte, einer solchen Fron zu entkommen. Ihm ist eher im Gedächtnis haften geblieben, dass sein Vater niemals bessere Geschäfte gemacht habe als in ebenjener Zeit des Arbeitsverbots, da er sich auf dem Feld der Schattenwirtschaft im Vergleich mit dem legalen Markt als weitaus gewiefterer Geschäftsmann erwies. Er entsinnt sich, dass bei der Familie Schwarz stets Wein aufgetischt wurde, Fleisch, Eier und Äpfel, Dinge, von denen viele im zerstörten Nachkriegsdeutschland sogar den Geschmack vergessen hatten. Dieses Auseinanderklaffen der Erinnerungen der beiden Kinder von Karl Schwarz ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die eine ihrem Vater ebenso sehr verbunden wie der andere ihm fern war.

Naturgemäß konnte man die acht Millionen Mitglieder der NSDAP nicht alle ins Gefängnis werfen, schon deshalb nicht, da in den Vollzugsanstalten nicht ausreichend Platz war. Seit dem Frühling 1945 hatten die Alliierten massenweise ehemalige Parteifunktionäre und Mitglieder der SS festgenommen, sodass etwa 300.000 Personen in Gefangenschaft saßen. Von allen Alliierten bemühten sich die Amerikaner mit größter Strenge, ihre Zone zu entnazifizieren, zumindest anfangs.

Mannheim, wo meine Großeltern lebten, befand sich just in der amerikanischen Zone, die den Norden Baden-Württembergs, Bayern und Hessen umfasste, wozu dann noch der Südwesten Berlins hinzukam sowie im Norden das Bremer Land, das aufgrund seiner Lage an der Nordsee strategisch wertvoll war. Die Amerikaner genossen einen guten Ruf und meiner Tante Ingrid bleibt bis heute ein Bild vor Augen, wie sie »stets lächelnd und vor Gesundheit strotzend in ihren Jeeps saßen, was ein wenig Frohsinn« in das unheilvolle Ambiente Nachkriegsdeutschlands mischte. Dennoch zeigte sich der Militärgouverneur über die US-Besatzungszone, der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, Dwight D. Eisenhower, wenig optimistisch und mutmaßte, dass es mindestens 50 Jahre intensiver Umerziehung bedurfte, um den Deutschen demokratische Grundprinzipien beizubringen. Diese Aufgabe übernahmen die neuen Medien, die für die Vorteile der Demokratie warben. Aber den allergrößten Ehrgeiz entwickelten die Amerikaner dabei, die Vergangenheit aller Deutschen, die älter als 18 Jahre waren, zu überprüfen. Dazu gaben sie Fragebögen mit etwa 130 Fragen aus, die einen Hinweis auf den Grad der Verstrickung mit dem NS-Regime und den ihrer ideologischen Indoktrination liefern sollten.

Mit extremer bürokratischer Konsequenz begannen sie, Millionen von Formularen zu verlesen, die sich in ihren Büros stapelten, hatten sie doch das Ziel vor Augen, die Schuldigen zu bestrafen und die Gesellschaft von den am stärksten von den Nazis indoktrinierten Personen zu reinigen. Jeder Beamte, der vor dem 1. Mai 1937 der NSDAP beigetreten war – und dies waren Hunderttausende –, wurde entlassen. Ende des Winters 1945/46 hatten in der amerikanischen Zone über 40 Prozent der Beamten ihre Anstellung verloren.

Ich habe keine Kopie des Entnazifizierungsfragebogens meines Großvaters finden können, doch er muss ihn ausgefüllt haben, da ein Brief der Besatzungsmächte darauf verweist, dass sie schon sehr bald um seine Mitgliedschaft in der Partei wussten.

Als er 1970 starb, suchte mein Vater in sämtlichen Papieren von Karl Schwarz nach den Spuren seines Mitgliedsausweises und etwaigen Parteiabzeichen, jedoch erfolglos. In Erwartung des Einmarsches der Alliierten in Mannheim im März 1945 hatte er wohl wie die meisten seiner Landsleute diese kompromittierenden Beweise ins Feuer des Küchenofens geworfen und mit ihnen gleich auch die Flagge der Nazis, die er – wie es der Brauch war an Festtagen – auf seinem Balkon gehisst hatte, und, wer weiß, vielleicht ja auch ein Porträt des Führers, das er in seinem Arbeitszimmer um des lieben Friedens willen aufgehängt oder das meine Großmutter in ihrer Verbundenheit in einer Schublade aufbewahrt hatte. Doch dies alles war vergebliche Mühe, da die örtlichen Anführer der NSDAP Reißaus genommen hatten, ohne sich die geringsten Sorgen darüber zu machen, auch das Register der Parteimitglieder in Mannheim zu zerstören, das die Amerikaner bei ihrer Ankunft unversehrt vorfanden.

Doch nicht alles hatte Karl verschwinden lassen. Unter seinen persönlichen Habseligkeiten entdeckte mein Vater eine äußerst merkwürdige Wappenzeichnung: ein schwarz-goldener Ritterhelm vor einem Hintergrund aus Pflanzen, zwischen denen ein Fabelwesen auftaucht, eine Art Kreuzung zwischen Ziege und Hirsch mit roten Hörnern und Hufen, dessen Nacken von einem Pfeil nämlicher Farbe durchbohrt ist. Darunter steht in einer ausschweifenden Kalligrafie der Name Schwarz geschrieben, die Jahreszahl 1612 und folgender Text: »Diese in Schwaben u. Franken in mehreren Linien blühende bürgerliche Familie leitet ihre Herkunft v. Rothenburg her.« Die Ahnenforschung erlebte in Zeiten des Nationalsozialismus einen gewaltigen Aufschwung und hatte den Status einer Quasi-Wissenschaft im Dienste des Regimes angenommen, das seinen schwammigen Rassentheorien eine Glaubwürdigkeit andichten musste, die ihm keine ernst zu nehmende Theorie hätte liefern können. Diese Zeichnung besaß einen rein dekorativen Wert, da für den Eintritt in die NSDAP ein ganz anderes Papier vonnöten war: ein besonders umfassender und detaillierter Arier-Nachweis, für den man eine Unmenge an Belegen beibringen musste, mit denen die arische Abstammung des Bewerbers und seines Ehepartners bis zurück ins Jahr 1800 bewiesen werden sollte. Dass Karl Schwarz darüber hinaus ohne jegliche äußere Notwendigkeit diese Tusche- und Aquarellzeichnung hatte anfertigen lassen, lässt mich ratlos zurück. Mein Großvater war kein überzeugter Nationalsozialist, dafür war er viel zu sehr in seine Freiheit verliebt. »Er hatte sie vielleicht im Büro der Firma aufgehängt, da gelegentlich vorbeischauende Kunden oder Nazi-Funktionäre dann weniger Fragen stellten und ihn in Ruhe ließen«, sagt mein Vater. In den Dreißigerjahren kursierten überall in Deutschland Gerüchte über Kaufleute, die verdächtigt wurden, ihre jüdische Abstammung zu verschleiern, womit eine Atmosphäre der Paranoia und Denunziation in einem Grade genährt wurde, dass einige dieser Händler sogar Anzeigen in Zeitungen schalteten, um jegliche Verbindung zum Judentum öffentlich zu dementieren. Opa hatte seinen Arier-Nachweis verschwinden lassen, merkwürdigerweise aber sein Aquarell verschont und bis zu seinem Tode aufbewahrt. »Ich denke, dass ihm diese Zeichnung gefiel, da sie die Illusion der Abstammung von einem glorreichen Geschlecht gewährte. Und mein Vater träumte gern von solcher Größe.« In gewisser Hinsicht war Karl Schwarz ein Mann seiner Zeit.

Angesichts der ungeheuren Dimension der Aufgabe, die sie sich gestellt hatten, entschlossen sich die Amerikaner, deutsche Behörden bei der Entnazifizierung einzubeziehen. Personen, die nach der Auswertung der Fragebögen einer tieferen Verstrickung verdächtig waren, mussten vor eine der deutschen Spruchkammern, von denen es einige Hundert gab. In Mannheim sichtete man 202.070 Formulare, danach wurden 169.747 Personen als »nicht betroffen« klassifiziert. Gegen insgesamt 8.823 Personen wurde bis zum September 1948 ein Spruchkammerverfahren eröffnet mit den folgenden Urteilen: 18 Hauptschuldige, 257 Belastete, 1.263 Minderbelastete, 7.163 Mitläufer, 122 Entlastete. Ich weiß nicht, ob mein Großvater vorgeladen wurde. Doch weil die Amerikaner aufgrund der Komplizenschaft vor allem der Juristen mit dem Nationalsozialismus nicht ausreichend viele »saubere« deutsche Richter vorgefunden hatten und sich also darin fügten, innerhalb der alten Garde zu rekrutieren, hatte Karl Schwarz ohnehin nicht besonders viel zu befürchten. Und dies umso weniger, als die Besatzer es sich angesichts des dringenden Personalnotstands nicht mehr erlauben konnten, kompromisslos vorzugehen, wenn sie gleichzeitig auch noch die wirklich zahlreichen drängenden Probleme anpacken wollten: Unterernährung, Wohnungsnot, Mangel an Kohle, um heizen zu können … Hinzu kamen die ersten Vorzeichen eines neuen Krieges, diesmal eines kalten, was die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf einen neuen Feind richtete: die Sowjetunion und den kommunistischen Block. Der anfänglichen Strenge folgte eine Nachlässigkeit bei der Entnazifizierung mit dem Ziel, diese so bald wie möglich abzuschließen, um den Wiederaufbau eines Westdeutschlands zu beschleunigen, das am Saum des feindlichen kommunistischen Territoriums gelegen war.

Die Briten setzten bei der Entnazifizierung ihrer Zone, die Hamburg, Niedersachsen, Westfalen, den Norden der Rheinprovinz, Schleswig-Holstein und den Sektor in der Mitte Berlins zwischen dem französischen im Norden und dem amerikanischen im Süden umfasste, weniger als die Amerikaner auf Strafe. Sie zielten vor allem auf eine Umerziehung mithilfe neu gegründeter Medien, darunter dem Nordwestdeutschen Rundfunk und Zeitungen wie Die Zeit und Die Welt. Manchmal wurde diese auch mit eiserner Faust durchgesetzt, so etwa in der westfälischen Stadt Burgsteinfurt, wo der britische Stadtkommandant die Bevölkerung dazu verpflichtete, sich ein filmisches Dokument über die Gräuel anzusehen, welche die Befreier der KZS gefilmt hatten. Nach englischem Vorbild entstanden Klubs, in denen Deutsche und Briten einander begegnen konnten. Das Verhältnis jedoch zwischen Bevölkerung und Besatzern blieb vornehmlich kühl, anders als in der amerikanischen Zone, wo man engere Verbindungen miteinander einging. Die Briten wurden als »Kolonialmacht« empfunden. Sie etablierten eine Parallelwelt für ihre eigenen Bedürfnisse, nutzten eigens ihnen vorbehaltene Waggons, Läden und Kinos, an denen Schilder mit der Aufschrift »Keep out« und »No Germans« angebracht waren. Sie beschlagnahmten Wohnungen, was wiederum bei der deutschen Bevölkerung angesichts der bitteren Wohnungsnot wütende Reaktionen hervorrief. Aber der Krieg hatte die Briten selbst volkswirtschaftlich äußerst geschwächt und sie hatten schon Mühe, allein die Kosten der Besatzung zu finanzieren. Sie gaben schließlich ihr Ziel auf, die deutsche Gesellschaft zu läutern, und begnügten sich damit, nur Nationalsozialisten aus höheren öffentlichen Ämtern zu entlassen und die großen Fische zu belangen. Das geschah in einem Maße, dass namhafte Nazis aus der amerikanischen Zone sich schleunigst mühten, in die britische zu gelangen. Die Engländer wollten vor allem die Wirtschaftskraft Deutschlands schnellstmöglich wiederherstellen, auch in ihrem eigenen Interesse. Darum waren sie kompromissbereit, wenn ein Angeklagter zur Wirtschaftselite im Reich zählte, wie zum Beispiel Günther Quandt.

Quandt war kein überzeugter Nationalsozialist, sondern ein Opportunist, der abgewartet hatte, bis Hitler im Januar 1933 an die Macht gekommen war, um dann erst dessen Partei zu finanzieren und ihr beizutreten. Zu dieser finanziellen Nähe fügte sich eine familiäre, da die zweite Ehefrau des Industriellen, Magda Ritschel, von der er sich einige Jahre nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes Harald hatte scheiden lassen, im Dezember 1931 den zukünftigen Propagandaminister Joseph Goebbels heiratete, eine Eheschließung, bei welcher der Führer als Trauzeuge anwesend war. Zwar geriet Quandt mit Goebbels wegen der Betreuung seines Sohnes in Konflikt, doch zahlte sich seine Loyalität gegenüber Hitler aus. Quandt häufte ein kolossales Vermögen an, indem er zu einem der größten Ausrüster der Militärindustrie wurde. Er beutete rund 50.000 Zwangsarbeiter aus, die zu Niedrigpreisen vom Reich »geliehen« wurden, um den massiven Mangel an Arbeitskräften auszugleichen, der der Mobilmachung der Männer für den Einsatz an der Front geschuldet war. 1946 verhafteten die Amerikaner Quandt, jedoch entkam er den Nürnberger Prozessen dank der Engländer, die es »versäumten«, den Amerikanern die ihn belastenden Papiere auszuhändigen, und die seine Schuld so bedeutungslos erscheinen ließen, dass sie ihn schließlich als Mitläufer klassifizierten.

Im Januar 1948 setzten ihn die Amerikaner, ohne nähere Nachforschungen zu betreiben, auf freien Fuß. Wenig später wickelte die britische Armee mit ihm Rüstungsgeschäfte ab. Denn Quandt stellte technische Ausrüstungen her, die ihm die ganze Welt neidete, insbesondere die einzigartige Batterie für die »Wunderwaffe«, die von den Nazis während des Krieges entwickelt worden war und den Respekt der Feinde auf sich zog: die V2, die erste vom Menschen erschaffene ballistische Rakete. Nach dem Krieg weigerte sich die Familie Quandt – heute unter anderem größter Aktionär des Automobilherstellers BMW – lange Zeit, Auskunft über die suspekten Quellen ihres Vermögens zu geben, bis schließlich 2007 die Ausstrahlung des NDR-Dokumentarfilms Das Schweigen der Quandts sie dazu zwang, ihre Vergangenheit offenzulegen.

Auch die Franzosen, deren Zone als kleinste den Süden Baden-Württembergs, Rheinland-Pfalz, das Saarland und den Nordwesten Berlins umfasste, wurden sich schnell der Vorteile bewusst, wenn man sich den Industriellen gegenüber als nachsichtig zeigte. Als Dank dafür ließen sich Geschäfte viel leichter abwickeln. Ganz allgemein hatten sich die Franzosen den Ruf erworben, von allen Besatzungsmächten diejenige zu sein, die am wenigsten an einer Entnazifizierung interessiert war. Dass Frankreich eng mit dem Dritten Reich zusammengearbeitet hatte und seine Verwaltung nach dem Krieg noch immer gespickt war mit ehemaligen Kollaborateuren des Vichy-Regimes, denen es davor graute, die Anklagen gegen die Nazis könnten sich auch gegen sie wenden, war sicherlich einer der Gründe, warum die Zahl der Gerichtsverfahren sich in einem sehr begrenzten Rahmen hielt. General de Gaulle, der nach dem Krieg Frankreich regierte, befürwortete eine dauerhafte Teilung des Landes und ein Maximum an Reparationsleistungen. Trotz der Kollaboration mit dem Dritten Reich in letzter Minute an den Tisch der Sieger geladen, verhielten sich die Franzosen wie eine wahrhafte Besatzungsmacht, konfiszierten Wohnungen, um französische Lehrer, Ingenieure und Beamte unterzubringen, und beschlagnahmten Lebensmittel in Hülle und Fülle, während viele Deutsche in den Kellern lebten, hungrig und ohne Kohle zum Heizen. Es gab selbst Serienschändungen und Plündereien.

In der sowjetischen Zone, zu der die fünf östlichsten Länder zählten – Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern sowie der Osten Berlins –, gingen die Besatzungsbehörden rigoros an die Entnazifizierung heran. Allerdings zielte die Verfolgung nicht nur auf Nazis, sondern auch auf alle »Unerwünschten«, die man loswerden wollte, sogenannte »Klassenfeinde«, darunter vor allem ehemalige Junker, Großgrundbesitzer und die Wirtschaftselite sowie nicht zuletzt Sozialdemokraten und andere Kritiker der Besatzungsmacht, die versuchte, ein Staatssystem nach sowjetischem Vorbild zu installieren. Die Nazis dieser Zone hatten mehr zu befürchten als in den drei anderen Zonen, auch weil sie sich gegenüber den Sowjets nicht rechtfertigen konnten, ihre Mitgliedskarte aus Opposition zum Bolschewismus angenommen zu haben – ein Argument, das im Westen immerhin ein gewisses Gewicht besaß. Für eine Verhaftung reichte oft der Verdacht. Einige zogen es vor, aus dem Osten zu fliehen, vor allem, weil dort die Haftbedingungen besonders entsetzlich waren. Die Sowjets hatten Zehntausende mutmaßliche Nazis und »Unerwünschte« in den ehemaligen Konzentrationslagern des Dritten Reiches interniert, in denen gut 12.000 Häftlinge ums Leben kamen. Weitere Zehntausende wurden in die Sowjetunion deportiert, von denen viele in den dortigen Lagern ums Leben kamen.

Im März 1948 hatten die Sowjets bereits circa 520.000 Angestellte, darunter viele ehemalige Mitglieder der NSDAP, aus dem öffentlichen Dienst entlassen, insbesondere in der Verwaltung und der Justiz, deren Personal es möglichst schnell mit »loyalen« Kommunisten zu ersetzen galt. In weniger als einem Jahr waren den kommunistischen Organisationen nahestehende neue Richter und Staatsanwälte »ausgebildet« worden, die dann auch 1950 im Namen der eben erst gegründeten noch ganz jungen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) eine Serie an Schnellverfahren leiteten: die Waldheimer Prozesse. Innerhalb von zwei Monaten erschienen etwa 3.400 Beschuldigte, ohne dass es irgendwelche Zeugen gegeben hätte und meist auch ohne juristischen Beistand vor diesen unerfahrenen Richtern und Staatsanwälten, die meist in weniger als 30 Minuten ihre Entscheidung fällten, wobei die Urteile bereits im Vorhinein festgelegt worden waren, ohne dass zwischen Mitläufern, Belasteten und Feinden des kommunistischen Regimes unterschieden worden wäre. Diese Schauprozesse hatten vor allem den Zweck, die Internierung Tausender in den Speziallagern nachträglich zu legitimieren. 3.324 Angeklagte wurden verurteilt, über die Hälfte von ihnen erhielt Haftstrafen von 15 bis 25 Jahren, 24 wurden hingerichtet. Damit betrachtete die DDR die Entnazifizierung als abgeschlossen, leugnete fortan ihre historische Verantwortung für die Verbrechen des Dritten Reiches und sah sich selbst nicht länger als Erbin dieser dunklen Vergangenheit.

Die deutsche Bevölkerung lehnte den Entnazifierungsprozess ab, den sie als unerträgliche Demütigung empfand, als Siegerjustiz. Dagegen befürwortete sie mehrheitlich – zumindest gleich nach dem Krieg – die Prozesse gegen die ranghöchsten Vertreter des Dritten Reiches.

Im November 1945 wurde in Nürnberg auf Initiative der Amerikaner ein Prozess gegen 24 Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reiches vor einem internationalen Militärtribunal unter der Befehlsgewalt der vier Besatzungsmächte eröffnet. »Die Idee, den Krieg und alle mit ihm verbundenen Grausamkeiten nicht mehr als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern als Verbrechen zu behandeln, für das Politiker und führende Militärs wie für jedes andere Verbrechen auch zur Rechenschaft gezogen werden können«, war völlig neu, analysiert der Jurist Thomas Darnstädt in seinem Buch Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945. Die großen Richtlinien des Verfahrens waren zuvor in Washington unter Aufsicht des Richters Robert H. Jackson entwickelt worden. Die Sowjets, die ihrerseits fürchteten, aufgrund der Übergriffe der Roten Armee und des 1939 mit Hitler vereinbarten Nichtangriffspakts selbst beschuldigt zu werden, verlangten, dass die internationale Strafgerichtsbarkeit von Nürnberg ausschließlich für Angeklagte der Achsenmächte Geltung haben sollte. Richter Jackson weigerte sich: »Wir sind nicht bereit, eine Vorschrift im Hinblick auf strafrechtliches Verhalten gegenüber anderen festzulegen, wenn wir nicht bereit wären, sie auch gegen uns anwenden zu lassen.« Die Briten, deren heftige und mörderischen Bombardements gegen die deutsche Zivilbevölkerung sie in eine heikle Position gebracht hatten, handelten einen Kompromiss aus: Die Strafnormen sollten auf jedweden Staat zutreffen, die Kompetenzen des Nürnberger Tribunals sich aber auf die Verbrechen der Nationalsozialisten begrenzen. Mehr als 2.000 Helfer wurden eingesetzt, um den Prozess vorzubereiten und zumindest einen Teil der kilometerlangen Akten zu erforschen, die ein ultrabürokratisches System hinterlassen hatte.

Ein Jahr nach der Eröffnung des Nürnberger Prozesses fiel der Urteilsspruch: Zwölf der Angeklagten wurden zum Tode durch den Strang verurteilt, unter ihnen die Nummer zwei im Reich, Hermann Göring, der Reichsminister des Auswärtigen, Joachim von Ribbentrop, der letzte Chef des machtvollen Reichssicherheitshauptamts, Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, der Gründer der antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer, Julius Streicher, und der ehemalige Ideologe der Partei und Leiter des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg; drei, unter ihnen der Stellvertreter Hitlers, Rudolf Heß, wurden zu lebenslanger Haft verurteilt und zwei weitere, Albert Speer, Architekt und Reichsminister für Bewaffnung und Munition, sowie Baldur von Schirach, Chef der Hitlerjugend, zu 20 Jahren Haft. Vier Organisationen – die NSDAP, die Gestapo, die SS und der SD (Sicherheitsdienst des Reichsführers SS) – wurden als »verbrecherische Organisationen« eingestuft. Die Richter entschieden aber gegen die Forderung der Anklage, auch den Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) miteinzubeziehen.

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