Buch lesen: «Maigret lässt sich Zeit»

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Der 64. Fall

Georges Simenon

Maigret lässt sich Zeit

Mit einem Nachwort von Clemens Meyer

Roman

Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

Kampa

1

Der Tag hatte so strahlend und fröhlich begonnen wie eine Kindheitserinnerung. Ohne besonderen Grund, einfach weil das Leben schön war, lachten Maigrets Augen, während er frühstückte, und auch in den Augen seiner Frau, die ihm gegenübersaß, spiegelte sich Heiterkeit.

Durch die weit geöffneten Fenster der Wohnung drangen die Gerüche und die vertrauten Geräusche des Boulevard Richard-Lenoir herein. Die schon warme Luft vibrierte; ein schwacher Dunst, der die Sonnenstrahlen filterte, ließ sie fast greifbar erscheinen.

»Bist du nicht müde?«

Während er den Kaffee trank, der ihm heute besonders gut schmeckte, antwortete er überrascht:

»Warum sollte ich müde sein?«

»Von der vielen Gartenarbeit gestern … Du hattest schließlich seit Monaten weder Harke noch Spaten in der Hand …«

Es war ein Montag. Montag, der 7. Juli. Am Samstagabend waren sie mit dem Zug nach Meung-sur-Loire gefahren, wo sie seit einigen Jahren ein kleines Haus für den Tag herrichteten, an dem Maigret sich den Vorschriften entprechend pensionieren lassen musste.

In zwei Jahren und ein paar Monaten! Mit fünfundfünfzig Jahren! Als ob ein Mann mit fünfundfünfzig, der sozusagen nie krank gewesen war und sich körperlich so stark fühlte wie eh und je, von heute auf morgen nicht mehr fähig wäre, eine Abteilung der Kriminalpolizei zu leiten!

Aber noch weniger konnte Maigret begreifen, dass er bereits dreiundfünfzig Jahre alt war.

»Gestern«, sagte er, »habe ich vor allem geschlafen.«

»In der Sonne!«

»Mit meinem Taschentuch auf dem Gesicht …«

Was für ein schöner Sonntag! Ein Ragout schmorte in der niedrigen, blau gefliesten Küche, und der Duft des Johanniskrauts verbreitete sich im Haus. Madame Maigret hatte sich zum Schutz vor dem Staub ein Tuch um den Kopf gebunden und fegte ein Zimmer nach dem anderen aus, während Maigret in Hemdsärmeln, mit aufgeknöpftem Kragen und einem großen Strohhut auf dem Kopf im Garten das Unkraut jätete, hackte und harkte. Nach dem Mittagessen und einem Gläschen weißen Landweins schlief er schließlich in einem rot-gelb gestreiften Liegestuhl ein, wo ihn bald die Sonne erreichte, ohne ihn aber aus seinem Schlummer zu reißen.

Auf der Rückfahrt im Zug fühlten sich beide wohlig schwer und benommen. Ihre Lider kribbelten, und der Geruch, der sie umgab, erinnerte Maigret an seine Jugend auf dem Land, ein Geruch von Heu, trockener Erde und Schweiß: der Geruch des Sommers.

»Noch etwas Kaffee?«

»Gern.«

Selbst die blau karierte Schürze seiner Frau erfreute ihn, weil sie so frisch und ein wenig naiv wirkte – ebenso wie die Sonne, die sich in den Scheiben des Büfetts spiegelte.

»Es wird heiß werden heute.«

»Ja, sehr.«

Er würde die Fenster zur Seine hin aufmachen und in Hemdsärmeln arbeiten.

»Wie wäre es, wenn ich heute zum Mittagessen Hummer mit Mayonnaise machen würde?«

Es tat gut, den Gehweg entlangzuschlendern, auf den die Markisen der Läden dunkle Rechtecke warfen, und neben einem jungen Mädchen in einem hellen Kleid an der Ecke des Boulevard Voltaire auf den Bus zu warten.

Er hatte Glück. Ein alter Bus mit einer Plattform hielt am Straßenrand, und er konnte seine Pfeife weiterrauchen, während die Pariser Straßen und die Passanten an ihm vorbeizogen.

Warum erinnerte ihn das an eine farbenprächtige Parade, zu der ganz Paris herbeigeströmt war, damals, als er gerade geheiratet hatte und ein schüchterner junger Sekretär im Kommissariat des Viertels Saint-Lazare gewesen war? Irgendein ausländischer Monarch war mit seinem prunkvollen Gefolge in Vierspännern durch die Straßen gefahren, und die Helme der Gardisten hatten in der Sonne gefunkelt.

Über Paris hatte der gleiche Geruch, das gleiche Licht und die gleiche Erschöpfung gelegen wie heute.

Damals dachte er noch nicht an seine Pensionierung. Das Ende seiner Karriere, das Ende seines Lebens schienen ihm so weit entfernt, dass er keinen Gedanken daran verschwendete. Und jetzt kümmerte er sich um das Haus, in dem er seinen Lebensabend verbringen würde!

Er empfand keine Melancholie, sondern betrachtete mit einem milden Lächeln das Châtelet, die Seine, einen Angler in der Nähe des Pont au Change – mindestens einer war immer dort – und dann die Anwälte in ihren schwarzen Talaren, die im Hof des Palais de Justice gestikulierten.

Endlich erreichte er den Quai des Orfèvres, wo er jeden Pflasterstein kannte und von wo man ihn fast verbannt hätte.

Vor nicht einmal zehn Tagen hatte ein herrischer Polizeipräfekt, der die Polizeibeamten der alten Schule nicht besonders schätzte, Maigrets Rücktritt verlangt. Er solle sich vorzeitig pensionieren lassen, wie der Präfekt es elegant ausgedrückt hatte, weil er angeblich leichtsinnig gehandelt hatte.

Nichts oder fast nichts von dem, was in der Akte stand, die er nachlässig durchgeblättert hatte, stimmte, und Maigret hatte drei Tage und drei Nächte darauf verwendet, das zu beweisen, ohne dabei auf die Hilfe seiner Mitarbeiter zurückgreifen zu dürfen.

Nicht nur das war ihm gelungen, er hatte auch den Urheber der ganzen Intrige zu einem Geständnis gebracht: einen Zahnarzt aus der Rue des Acacias, der mehrere Verbrechen auf dem Gewissen hatte.

Aber das gehörte jetzt schon der Vergangenheit an. Nachdem er die beiden Wache stehenden Polizisten gegrüßt hatte, ging er die breite Treppe hinauf in sein Büro, öffnete die Fenster, legte seinen Hut und seine Jacke ab und betrachtete die Seine mit den vorbeifahrenden Schiffen, während er sich langsam eine Pfeife stopfte.

Obwohl jeden Tag Unvorhergesehenes geschah, gab es doch auch beinahe rituelle Gesten, die er ausführte, ohne darüber nachzudenken, so zum Beispiel, dass er die Tür zum Büro der Inspektoren aufmachte, sobald die Pfeife brannte.

Da die Ferienzeit bereits begonnen hatte, waren vor vielen Schreibmaschinen und Telefonen die Stühle nicht besetzt.

»Guten Tag, Kinder … Kommst du mal kurz, Janvier?«

Janvier leitete die Ermittlungen im Zusammenhang mit den Einbrüchen bei Juwelieren, oder besser gesagt den Diebstählen aus Schaufenstern von Juweliergeschäften. Der letzte war am vergangenen Donnerstag am Boulevard Montparnasse verübt worden, nach der gleichen Methode, die schon seit zwei Jahren erfolgreich angewandt wurde.

»Gibt’s was Neues?«

»Fast nichts. Es waren wieder junge Leute: laut Zeugenaussagen zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt. Auch diesmal waren zwei am Werk: Einer hat die Scheibe mit einem Wagenheber eingeschlagen. Der andere hat die Schmuckstücke zusammengerafft und in einen schwarzen Leinensack gestopft, der Komplize hat ihm geholfen. Der Coup war sorgfältig vorbereitet. Ein cremefarbenes Auto hat in zweiter Reihe gehalten, gerade so lange, dass die beiden Täter einsteigen konnten, und ist dann im Verkehrsgewühl verschwunden.«

»Waren sie maskiert?«

Janvier nickte.

»Und der Fahrer?«

»Nicht alle Zeugenaussagen stimmen überein, aber es scheint, dass auch er jung war, mit dunkelbraunen Haaren und gebräuntem Teint. Es gibt nur einen neuen, aber ziemlich vagen Hinweis: Eine Gemüsehändlerin hat kurz vor dem Diebstahl einen nicht sehr großen, breitschultrigen Mann mit Boxergesicht bemerkt, der ein paar Meter von dem Juweliergeschäft entfernt stand, als würde er auf jemanden warten. Dabei hat er immer wieder zu der großen Uhr über dem Schaufenster geschaut und die Zeit mit der auf seiner Armbanduhr verglichen. Die Frau behauptet, er habe nicht ein einziges Mal die rechte Hand aus der Tasche genommen. Während des Diebstahls habe er sich nicht vom Fleck bewegt, und nachdem das cremefarbene Auto abgefahren war, sei er in ein Taxi gestiegen.«

»Hast du der Gemüsehändlerin die Fotos der Verdächtigen gezeigt?«

»Sie ist drei Stunden mit mir im Erkennungsdienst gewesen, hat aber niemanden wiedererkannt.«

»Was sagt der Juwelier?«

»Er rauft sich die wenigen Haare, die er noch hat. Vor drei Tagen, behauptet er, wäre der Diebstahl nicht weiter schlimm gewesen, denn gewöhnlich hat er keine wertvollen Schmuckstücke ausgestellt. Aber letzte Woche hatte er die Gelegenheit, eine Reihe Smaragde zu kaufen, und am Samstagmorgen hat er sich entschlossen, sie im Schaufenster zu präsentieren.«

Der Kommissar ahnte noch nicht, dass das, was sich an diesem Morgen in seinem Büro abspielte, der Anfang vom Ende eines Falls war, den man später am Quai Maigrets längste Ermittlung nennen würde.

Manche Vorfälle entwickeln sich auf diese Weise nach und nach zu Legenden. So sprach man zum Beispiel noch immer – und erzählte es den Neuen – von »Maigrets längstem Verhör«, das siebenundzwanzig Stunden gedauert hatte, während dessen der Kellner aus der Brasserie Dauphine pausenlos Bier und Sandwiches gebracht hatte.

Maigret hatte den Verdächtigen nicht allein mit Fragen bombardiert. Lucas und Janvier hatten ihn abgelöst und das scheinbar endlose Verhör sozusagen immer wieder von vorn begonnen, und doch hatte es irgendwann mit einem umfassenden Geständnis geendet.

Alle erinnerten sich auch an »Maigrets gefährlichste Verhaftung«. Am helllichten Tag und mitten im Gewimmel der belebten Rue du Faubourg-Saint-Antoine hatte er eine polnische Bande festgenommen, ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen war, obwohl die Männer bis an die Zähne bewaffnet und fest entschlossen waren, ihr Leben zu verteidigen.

In Wirklichkeit hatte die Juwelenaffäre für den Kommissar schon vor zwanzig Jahren begonnen, als er sich zum ersten Mal für einen gewissen Manuel Palmari interessierte, einen kleinen Gauner, der aus Korsika stammte und ganz bescheiden als Zuhälter begonnen hatte.

Es war die Zeit der »Ablösung« gewesen. Die alten Bandenführer, die vor dem Krieg Bordelle oder Spielhöllen besessen und aufsehenerregende Einbrüche angezettelt hatten, setzten sich einer nach dem anderen an den Ufern der Marne oder im Süden zur Ruhe, die weniger vom Glück Begünstigten oder nicht ganz so Gerissenen saßen im Gefängnis von Fontrevault.

Junge Kerle, die glaubten, sie könnten sich alles erlauben, traten an ihre Stelle. Sie waren dreister als die alten und hielten die aus der Fassung gebrachte Polizei monatelang in Schach.

Damals hatten die Überfälle auf Kassierer und Juwelendiebstähle am helllichten Tag und in verkehrsreichen Straßen begonnen.

Man hatte schließlich einige der Täter festgenommen, und die Überfälle hörten eine Zeit lang auf. Dann nahmen sie wieder zu und wieder ab, nur um zwei Jahre darauf umso raffinierter erneut aufzuflammen.

»Die jungen Burschen, die wir verhaften, sind bloß Handlanger«, hatte Maigret gleich zu Anfang der Überfälle gesagt.

Nicht nur wurden ihnen von Zeugen jedes Mal andere Gesichter beschrieben, die festgenommenen Männer hatten auch größtenteils keinerlei Vorstrafen. Sie stammten nicht aus Paris, sondern aus der Provinz, vor allem aus Marseille, Toulon oder Nizza, und waren für einen einzigen Coup herbestellt worden.

Nur ein oder zwei Mal hatte man sich an die großen Juweliergeschäfte an der Place Vendôme und in der Rue de la Paix herangewagt, deren gute Alarmanlagen die Einbrecher aber schnell entmutigt hatten.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Methode änderten. Von da an hatten sie es nur noch auf kleinere Juweliere abgesehen, die nicht im Zentrum von Paris, sondern in Außenvierteln oder sogar in Vororten lagen.

»Und, Manuel?«

Zehnmal, hundertmal hatte er Palmari schon in die Mangel genommen, erst im Clou-Doré, einer Kneipe in der Rue Fontaine, die Palmari gekauft und aus der er ein Luxusrestaurant gemacht hatte, später in seiner Wohnung in der Rue des Acacias, die er mit Aline teilte.

Aber Palmari ließ sich nicht aus der Fassung bringen, und so hätte man ihre Gespräche fast für Plauderstündchen zwischen alten Freunden halten können.

»Setzen Sie sich, Herr Kommissar. Was werfen Sie mir diesmal vor?«

Mittlerweile ging Manuel auf die sechzig zu und war, seitdem er beim Herunterlassen der Jalousien im Clou-Doré mehrere Kugeln aus einer Maschinenpistole abgekriegt hatte, an den Rollstuhl gefesselt.

»Kennst du einen Burschen namens Mariani? Er ist ein ziemlich übler Kerl und offenbar auf derselben Insel geboren wie du.«

Maigret stopfte sich eine Pfeife, denn das dauerte immer lange. Nach all der Zeit war ihm jeder Winkel der Wohnung in der Rue des Acacias so vertraut, als wäre es seine eigene, und ganz besonders das kleine Eckzimmer, das mit Unterhaltungsromanen und Schallplatten vollgestopft war und in dem Manuel seine Tage verbrachte.

»Was hat er denn angestellt? Und warum geht man schon wieder mir damit auf die Nerven?«

»Ich bin dir gegenüber immer korrekt gewesen, oder nicht?«

»Das stimmt.«

»Ich habe dir sogar den einen oder anderen Gefallen getan …«

Auch das stimmte. Maigrets Eingreifen hatte Manuel manchen Ärger erspart.

»Wenn du willst, dass das so bleibt, dann rede …«

Es kam vor, dass Manuel gesprächig wurde, das heißt, dass er einen Namen verriet.

»Wissen Sie, es ist nur eine Vermutung. Ich selber habe mir nie die Hände schmutzig gemacht und bin nicht vorbestraft. Ich kenne diesen Mariani nicht persönlich, aber ich habe gehört …«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht mehr. Es wird gemunkelt …«

Seit dem Attentat, bei dem Palmari ein Bein verloren hatte, empfing er sozusagen niemanden mehr. Er wusste, dass sein Telefon überwacht wurde, und führte deshalb nur belanglose Gespräche.

Außerdem standen, seitdem die Juwelendiebstähle vor einigen Monaten wieder zugenommen hatten, pausenlos Polizisten vor dem Haus in der Rue des Acacias Wache.

Es waren zwei; der eine hatte den Auftrag, Aline zu folgen, sobald sie das Haus verließ, der andere musste das Haus im Auge behalten.

»Also gut … Weil Sie es sind … In der Nähe von Lagny gibt es einen Gasthof, den Namen habe ich vergessen. Er wird von einem alten, fast tauben Mann und seiner Tochter betrieben. Soviel ich weiß, ist Mariani ganz versessen auf das Mädchen, weshalb er gern dort absteigt …«

Aber jedes Mal, wenn Palmari in den letzten zwanzig Jahren anzumerken gewesen war, dass sein Vermögen zugenommen hatte, war es kurz zuvor auch zu einer Häufung von Juwelendiebstählen gekommen.

»Hat man den Wagen gefunden?«, fragte Maigret Janvier.

»In einer kleinen Straße nicht weit von Les Halles.«

»Fingerabdrücke?«

»Keinen einzigen. Moers hat sie sozusagen mit der Lupe gesucht.«

Es war Zeit für den Rapport, und Maigret gesellte sich zu den anderen Kommissaren ins Büro des Direktors.

Jeder schilderte kurz den Fall, mit dem er gerade beschäftigt war.

»Und Sie, Maigret?«

»Wissen Sie, Herr Direktor, wie viele Juweliergeschäfte es in Paris gibt, ganz zu schweigen von denen in den Vororten? Mehr als dreitausend. Einige von ihnen stellen nur Schmuck und Uhren von geringem Wert aus. Trotzdem kann man grob geschätzt sagen, dass die Auslagen von an die tausend Juweliergeschäften eine organisierte Diebesbande interessieren könnten.«

»Was schließen Sie daraus?«

»Nehmen wir das Juweliergeschäft am Boulevard Montparnasse. Monatelang lagen dort im Schaufenster nur wertlose Sachen. Vor einer Woche hat der Juwelier sehr wertvolle Stücke kaufen können. Am Samstag ist ihm die Idee gekommen, die kostbarsten auszustellen. Am Donnerstag hat man die Scheibe eingeschlagen und die Schmuckstücke gestohlen.«

»Sie glauben …«

»Ich bin fast sicher, dass ein Fachmann die Juweliergeschäfte abklappert, wobei er regelmäßig das Viertel wechselt. Sobald er im Schaufenster eines günstig gelegenen Geschäfts wertvolle Stücke entdeckt, benachrichtigt er jemanden. Man lässt junge Leute aus Marseille oder anderswoher nach Paris kommen, denen man die Technik beigebracht hat und die der Polizei noch unbekannt sind. Ich habe schon zwei oder drei Mal eine Falle gestellt, indem ich die Juweliere gebeten habe, seltene Stücke auszustellen.«

»Aber die Bande ist nicht darauf reingefallen?«

Maigret schüttelte den Kopf und zündete seine Pfeife wieder an.

»Ich habe Geduld«, brummte er nur.

Der weniger geduldige Direktor verbarg seine Unzufriedenheit nicht.

»Und das geht jetzt schon …«, begann er.

»Seit zwanzig Jahren, Herr Direktor.«

Wenige Minuten später kehrte Maigret in sein Büro zurück. Er war froh, seine Ruhe und gute Laune bewahrt zu haben. Wieder einmal öffnete er die Tür zum Büro der Inspektoren, denn er hasste es, sie telefonisch zu sich zu rufen.

»Janvier!«

»Ich habe schon auf Sie gewartet, Chef. Gerade hat jemand angerufen …«

Er betrat Maigrets Büro und schloss die Tür hinter sich.

»Etwas Unerwartetes ist passiert. Manuel Palmari …«

»Sag nicht, er ist verschwunden!«

»Er ist ermordet worden. Jemand hat mehrmals auf ihn geschossen, während er in seinem Rollstuhl saß. Der Kommissar vom 17. Arrondissement ist am Tatort und hat die Staatsanwaltschaft benachrichtigt.«

»Und Aline?«

»Anscheinend hat sie die Polizei gerufen.«

»Fahren wir hin.«

Als er schon an der Tür war, kehrte Maigret noch einmal um und nahm eine zweite Pfeife vom Schreibtisch.

Als Janvier den kleinen schwarzen Wagen die vom Sonnenschein erleuchteten Champs-Élysées hinauffuhr, hatte Maigret noch immer dieses Lächeln im Gesicht, und seine Augen funkelten noch genauso wie am Morgen, als er aufgewacht war; sie spiegelten die gleiche unbeschwerte Stimmung, die er auch bei seiner Frau bemerkt hatte.

Dennoch war da in seinem Inneren, wenn nicht Trauer, so doch eine gewisse Nostalgie. Manuel Palmaris Tod würde sicher nicht von vielen bedauert werden, mit Ausnahme vielleicht von Aline, die seit Jahren mit ihm zusammenlebte und die er von der Straße aufgelesen hatte, sowie einiger armer Kerle, die ihm alles verdankten. Der ganze Rest würde sich anstelle einer Trauerrede mit einem vagen »Das war wohl zu erwarten …« begnügen.

Einmal hatte Manuel Maigret anvertraut, dass auch er in seinem Heimatdorf Ministrant gewesen war. Das Dorf sei so arm gewesen, dass die meisten jungen Leute, um dem Elend zu entkommen, von dort wegzogen, sobald sie fünfzehn Jahre alt waren. Er hatte sich in der Hafengegend von Toulon herumgetrieben, war später dort Barkeeper geworden und erkannte bald, dass Frauen ein Kapital darstellten, mit dem sich hohe Einnahmen erzielen ließen.

Hatte er ein oder mehrere Verbrechen auf dem Gewissen? Es war hier und da gemunkelt worden, aber man hatte ihm nie etwas nachweisen können, und eines Tages war Palmari Besitzer des Clou-Doré geworden.

Er hielt sich für gerissen, und tatsächlich war er geschickt genug gewesen, bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr kein einziges Mal verurteilt zu werden.

Zwar war er den Kugeln aus der Maschinenpistole nicht entkommen, aber auch im Rollstuhl genoss er sein Leben, dank seiner Bücher und Schallplatten, Fernsehen und Radio. Und Maigret glaubte sogar, dass er diese Aline, die ihn Papa nannte, noch leidenschaftlicher und zärtlicher liebte als je zuvor.

»Es ist falsch, dass du den Kommissar empfängst, Papa. Ich kenn doch die Polizei. Wegen denen habe ich Blut und Wasser geschwitzt. Und der ist auch nicht besser als die anderen. Du wirst schon sehen, eines Tages wird er das, was er dir aus der Nase zieht, gegen dich verwenden.«

Es kam vor, dass das Mädchen vor Maigret ausspuckte, ehe sie würdevoll aus dem Zimmer stolzierte, wobei sie mit ihrem kleinen, straffen Hintern wackelte.

Noch keine zehn Tage war es her, seit Maigret zum letzten Mal in der Rue des Acacias gewesen war, und nun kehrte er schon wieder dorthin zurück, in dasselbe Haus, in dieselbe Wohnung, wo ihm einmal, als er am offenen Fenster stand, eine Eingebung gekommen war, die es ihm ermöglicht hatte, die Verbrechen des Zahnarztes gegenüber zu rekonstruieren.

Zwei Autos hielten vor dem Haus, und der vor der Tür stehende Polizist legte, als er Maigret erkannte, die Hand an die Mütze.

»Vierter Stock links«, murmelte er.

»Ich weiß.«

Der Polizeikommissar, ein Mann namens Clerdent, unterhielt sich im Wohnzimmer mit einem kleinen, dicken, sehr blonden Mann mit einer zarten Haut wie die eines Babys und unschuldig wirkenden blauen Augen.

»Guten Tag, Maigret.«

Da er sah, dass der Kommissar zögerte, dem anderen die Hand zu reichen, fügte er hinzu:

»Kennen Sie sich nicht? Kommissar Maigret … Untersuchungsrichter Ancelin …«

»Sehr erfreut, Herr Kommissar.«

»Ganz meinerseits, Herr Richter. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, aber ich hatte noch nicht die Ehre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«

»Ich bin erst vor knapp fünf Monaten nach Paris versetzt worden. Vorher war ich lange in Lille.«

Er hatte eine Fistelstimme und wirkte trotz seines Bauchs jünger, als er war. Man hätte ihn für einen jener Studenten halten können, die ihr Studium absichtlich in die Länge ziehen, weil sie es nicht eilig haben, das Quartier Latin und das sorglose Leben hinter sich zu lassen. Sorglos natürlich nur für diejenigen, die das Glück eines vermögenden Papas haben.

Er war alles andere als elegant gekleidet, die Jacke zu eng, die Hose zu groß und an den Knien ausgebeult, und seine Schuhe hätten es nötig gehabt, geputzt zu werden.

Im Palais de Justice erzählte man, er habe sechs Kinder und zu Hause nichts zu sagen; sein altes Auto drohe jeden Augenblick auseinanderzufallen; und um über die Runden zu kommen, lebe er in einer Sozialwohnung in Antony.

»Ich habe, sofort nachdem ich im Palais de Justice angerufen hatte, die Staatsanwaltschaft informiert«, erklärte der Polizeikommissar.

»Ist sie schon hier?«

»Nein, aber sie muss jeden Moment kommen.«

»Wo ist Aline?«

»Die junge Frau, die mit dem Ermordeten zusammengelebt hat? Sie liegt auf ihrem Bett und weint. Eine Haushälterin ist bei ihr.«

»Was sagt sie?«

»Ich habe nicht viel aus ihr herausbekommen, aber in ihrem Zustand wollte ich ihr auch nicht allzu sehr zusetzen. Sie behauptet, dass sie um halb acht aufgestanden ist. Die Haushälterin kommt erst um zehn. Um acht hat Aline Palmari das Frühstück ans Bett gebracht und ihm dann bei seiner Morgentoilette geholfen.«

Maigret kannte die Routine hier. Seit dem Attentat, das aus ihm einen Invaliden gemacht hatte, traute sich Manuel nicht mehr in eine Badewanne. Er stellte sich unter die Dusche, und Aline seifte ihn ab und half ihm dann, sich anzuziehen.

»Wann ist sie aus dem Haus gegangen?«

»Woher wissen Sie, dass sie aus dem Haus gegangen ist?«

Maigret hätte es ganz sicher gewusst, wenn er die beiden in der Straße Wache stehenden Polizeibeamten gefragt hätte. Sie hatten ihn nicht angerufen und waren vermutlich sehr überrascht, erst den Polizeikommissar, dann den Untersuchungsrichter und schließlich Maigret in das Haus gehen zu sehen, denn sie konnten nicht wissen, was sich inzwischen in der Wohnung abgespielt hatte. Es lag fast eine Ironie darin.

»Entschuldigen Sie, meine Herren.«

Ein großer junger Mann mit einem Pferdegesicht kam hereingestürmt und gab einem nach dem anderen die Hand.

»Wo ist die Leiche?«, fragte er.

»Im Zimmer nebenan.«

»Gibt es schon eine Spur?«

»Ich war gerade dabei, Kommissar Maigret zu berichten, was ich weiß. Aline, die junge Frau, die mit Palmari zusammengelebt hat, behauptet, das Haus gegen neun Uhr ohne Hut mit einem Einkaufsnetz in der Hand verlassen zu haben.«

Einer der Wache stehenden Beamten war ihr sicherlich gefolgt.

»Sie hat in verschiedenen Läden hier im Viertel eingekauft. Ich habe ihre Aussage noch nicht zu Protokoll genommen, denn sie hat nur in abgehackten Sätzen gesprochen.«

»Und während ihrer Abwesenheit ist …«

»Sie behauptet es natürlich. Sie will um fünf vor zehn zurückgekommen sein.«

Maigret sah auf die Uhr. Es war zehn nach elf.

»Sie hat im Zimmer nebenan Palmari gefunden, der von seinem Rollstuhl auf den Teppich gerutscht war. Er war tot und hat, wie Sie sich vorstellen können, sehr viel Blut verloren.«

»Wann hat sie Sie angerufen? Man hat mir gesagt, dass sie es war, die im Kommissariat angerufen hat.«

»Ja. Um Viertel nach zehn.«

Alain Druet, der Vertreter des Staatsanwalts, stellte die Fragen, während sich der dicke Richter damit zufriedengab, vage lächelnd zuzuhören. Auch er schien sich, trotz der Schwierigkeiten, seine Kinderschar zu ernähren, seines Lebens zu freuen. Von Zeit zu Zeit warf er Maigret einen verstohlenen Blick zu, als wollte er eine Art Einverständnis zwischen ihnen herstellen.

Die beiden anderen, der Staatsanwalt und der Polizeikommissar, sprachen und benahmen sich wie gewissenhafte Beamte.

»Hat der Arzt die Leiche untersucht?«

»Er war nur ganz kurz hier. Vor der Autopsie, sagt er, kann man unmöglich feststellen, von wie vielen Kugeln Palmari getroffen wurde, und man muss die Leiche ausziehen, um zu sehen, wo sie in den Körper eingedrungen und wo wieder ausgetreten sind. Aber es scheint, als ob die Kugel, die ihn im Nacken getroffen hat, von hinten auf ihn abgefeuert wurde.«

Also, dachte Maigret, hatte Palmari keinen Verdacht geschöpft.

»Wie wäre es, meine Herren, wenn wir uns die Leiche einmal ansehen, bevor die Leute vom Erkennungsdienst eintreffen?«

Manuels kleines Zimmer war von Sonnenlicht durchflutet und hatte sich kaum verändert. Die seltsam verrenkte und fast lächerlich wirkende Leiche lag auf dem Boden, und das schöne weiße Haar war im Nacken mit Blut beschmiert.

Maigret war überrascht, Aline Bauche vor einem der Fenster stehen zu sehen. Sie trug ein hellblaues Kleid, das er schon kannte, ihr schwarzes Haar umrahmte ein bleiches Gesicht voller roter Flecke. Es sah aus, als hätte man sie geschlagen.

Sie sah die drei Männer so gehässig oder herausfordernd an, dass es Maigret nicht gewundert hätte, wenn sie mit ausgefahrenen Krallen auf sie losgegangen wäre.

»Sind Sie jetzt zufrieden, Monsieur Maigret?«

Dann sagte sie, an alle gewandt:

»Es ist also nicht möglich, mich mit ihm allein zu lassen wie jede andere Frau, die gerade den Mann ihres Lebens verloren hat! Sie werden mich sicher auch noch verhaften, was?«

»Kennen Sie sie?«, fragte der Untersuchungsrichter Maigret mit leiser Stimme.

»Recht gut.«

»Glauben Sie, sie hat es getan?«

»Hat man Ihnen nicht gesagt, dass ich nie etwas glaube, Herr Richter? Da kommen die Männer vom Erkennungsdienst mit ihren Apparaten. Erlauben Sie, dass ich Aline unter vier Augen verhöre?«

»Nehmen Sie sie mit?«

»Ich befrage sie lieber hier. Ich berichte Ihnen später, was ich herausgefunden habe.«

»Wenn die Leiche abgeholt wurde, sollte man dieses Zimmer besser versiegeln.«

»Wenn es Ihnen recht ist, wird sich der Polizeikommissar darum kümmern.«

Der Untersuchungsrichter beobachtete Maigret die ganze Zeit mit einem listigen Blick. Hatte er sich den berühmten Kommissar so vorgestellt? Oder war er enttäuscht?

»Ich lasse Ihnen freie Hand, aber halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Kommen Sie, Aline.«

»Wohin bringen Sie mich? Zum Quai des Orfèvres?«

»Nicht ganz so weit. Nur in Ihr Schlafzimmer. Janvier, hol du die Kollegen, die draußen Wache stehen, und wartet dann im Wohnzimmer auf mich.«

Mit hartem Blick musterte Aline die Männer vom Erkennungsdienst, die mit ihren Geräten in das kleine Zimmer kamen.

»Was wollen die?«

»Es ist die übliche Routine. Sie machen Fotos, nehmen Fingerabdrücke und so weiter. Ist eigentlich die Waffe gefunden worden?«

Sie deutete auf einen kleinen Tisch neben dem Sofa, auf dem sie lag, wenn sie ihrem Geliebten Gesellschaft leistete.

»Haben Sie sie aufgehoben?«

»Ich habe sie nicht angerührt.«

»Kennen Sie die Pistole?«

»Soviel ich weiß, gehörte sie Manuel.«

»Wo hat er sie aufbewahrt?«

»Tagsüber hat er sie hinter dem Radio versteckt, aber so, dass er jederzeit danach greifen konnte. Nachts lag sie auf seinem Nachttisch.«

Eine .38er Smith & Wesson. Die Waffe der Profis, die kein Erbarmen kennen.

»Kommen Sie, Aline.«

»Wozu? Ich weiß nichts.«

Widerwillig folgte sie ihm ins Wohnzimmer und öffnete die Tür zu einem sehr feminin eingerichteten Schlafzimmer mit einem breiten, niedrigen Bett, wie man es eher in Filmen als in einer Pariser Wohnung vermuten würde.

Die Vorhänge und die Tapete waren aus gelber Seide, ein riesiger weißer Ziegenfellteppich bedeckte fast den ganzen Boden, und die Gardinen ließen den Staub im Sonnenlicht golden schimmern.

»Ich höre«, sagte sie gehässig.

»Ich auch.«

»Dann kann es lange dauern.«

Sie ließ sich in einen mit elfenbeinfarbener Seide bezogenen Sessel fallen. Maigret wagte nicht, sich auf einen der zierlichen Stühle zu setzen, und zögerte, sich eine Pfeife anzuzünden.

»Ich bin überzeugt, Aline, dass Sie ihn nicht erschossen haben.«

»Ach wirklich?«

»Seien Sie nicht so spöttisch. Letzte Woche haben Sie mir doch noch geholfen.«

»Das war wahrscheinlich sehr dumm von mir. Der Beweis dafür ist, dass Ihre beiden Männer immer noch vor dem Haus gegenüber Wache stehen und der große mir heute früh wieder nachgegangen ist.«

»Ich mache nur meine Arbeit.«

»Ekelt sie Sie nicht manchmal an?«

»Wie wäre es, wenn wir mit diesem Kleinkrieg aufhören? Sagen wir, ich tue meine Arbeit, wie Sie die Ihre tun, und es spielt dabei kaum eine Rolle, dass wir auf verschiedenen Seiten stehen.«

»Ich habe in meinem ganzen Leben nie jemandem Leid angetan.«

»Schon möglich. Dagegen ist Manuel soeben ein nicht wiedergutzumachendes Leid zugefügt worden.«

Er sah, wie Aline Tränen in die Augen stiegen, und sie schienen echt zu sein. Sie schnäuzte sich linkisch wie ein kleines Mädchen, das nicht schluchzen will.

»Warum muss …«

»Warum muss was?«

»Nichts. Ich weiß es nicht. Warum musste er sterben? Warum musste man sich an ihm vergreifen? Als ob er nicht schon unglücklich genug gewesen wäre, mit nur noch einem Bein und gefangen in seinen vier Wänden.«

€14,99

Genres und Tags

Altersbeschränkung:
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Umfang:
160 S. 1 Illustration
ISBN:
9783311701880
Verleger:
Rechteinhaber:
Bookwire
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