1984

Text
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Keine Zeit zum Lesen von Büchern?
Hörprobe anhören
1984
1984
− 20%
Profitieren Sie von einem Rabatt von 20 % auf E-Books und Hörbücher.
Kaufen Sie das Set für 11,21 8,97
1984
1984
E-Buch
5,29
Mehr erfahren
1984
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Руслан Драпалюк
1,59
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Юрий Музыченко
3,72 2,24
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Владимир Левашев
2,87
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Илья Дементьев
3,19
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Давид Ломов
3,19
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Егор Бероев
3,61
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Сергей Чонишвили
3,68
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Иван Литвинов
3,72
Mehr erfahren
Audio
1984
Hörbuch
Wird gelesen Александр Клюквин
5,53
Mehr erfahren
1984
Text
1984
E-Buch
2,02
Mehr erfahren
Text
1984
E-Buch
2,02
Mehr erfahren
Text
1984
E-Buch
2,24
Mehr erfahren
Text
1984
E-Buch
3,61
Mehr erfahren
Text
1984
E-Buch
8,51
Mehr erfahren
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Welche Spende soll das sein?«, fragte Winston und tastete automatisch nach seinem Geld. Etwa ein Viertel des Gehalts musste man für freiwillige Spenden einplanen, und es fielen so viele an, dass man manchmal gar nicht mehr den Überblick behielt.

»Für die Hasswoche. Wissen Sie – die Kollekte von Haus zu Haus. Ich bin der Kassenwart für unseren Block. Wir legen uns richtig ins Zeug – werden eine richtige Show [79]abziehen. Ich sag Ihnen, es wird nicht meine Schuld sein, wenn die alten Victory-Wohnblocks nicht den meisten Fahnenschmuck in der ganzen Straße haben. Zwei Dollar haben Sie mir versprochen.«

Winston holte zwei abgegriffene, schmuddelige Banknoten hervor und reichte sie Parsons, der den Betrag in einem kleinen Buch vermerkte, in der ordentlichen Handschrift der Ungebildeten.

»Übrigens, alter Junge«, sagte er. »Hab gehört, der kleine Bengel von mir hat gestern mit der Schleuder auf Sie geschossen. Hab ihm ’ne ordentliche Standpauke gehalten. Tatsächlich hab ich ihm gesagt, dass ich ihm die Schleuder wegnehme, wenn er das nochmal macht.«

»Ich denke, er war ein bisschen enttäuscht, dass er nicht zu der Hinrichtung durfte«, sagte Winston.

»Ah, nun – was ich eigentlich sagen wollte, die legen schon den richtigen Eifer an den Tag, oder? Sind ja beide kleine durchtriebene Biester, aber an Eifer fehlt es denen nicht! Die denken die ganze Zeit an die Spione, und an den Krieg natürlich. Wissen Sie, was meine Kleine letzten Samstag gemacht hat, als ihre Gruppe eine Wanderung nach Berkhamsted unternommen hat? Hat zwei andere Mädchen überredet mitzukommen, hat sich von der Gruppe abgesetzt und ist den ganzen Nachmittag einem Fremden hinterher. Zwei Stunden waren sie dem auf den Fersen, durch den ganzen Wald, und dann, als sie in Amersham ankamen, haben sie ihn der Patrouille übergeben.«

»Warum haben sie das gemacht?«, fragte Winston ein wenig erschrocken. Parsons fuhr triumphierend fort:

»Die Kleine wollte sicherstellen, ob er nicht vielleicht ein feindlicher Agent war – hätte ja mit einem Fallschirm [80]abgesprungen sein können. Aber jetzt kommt’s, alter Junge. Was, denken Sie, hat sie überhaupt auf diese Fährte gebracht? Sie hat gesehen, dass der Mann so merkwürdige Schuhe anhatte – sie meinte, sie hat noch bei keinem solche Schuhe gesehen. Also ziemlich wahrscheinlich, dass es ein Fremder war. Ziemlich clever für ’ne Göre von sieben, was?«

»Was wurde aus dem Mann?«, sagte Winston.

»Das weiß ich natürlich nicht. Aber mich würde es nicht wundern, wenn –«, Parsons tat so, als würde er mit einem Gewehr auf jemanden zielen, und schnalzte mit der Zunge, um den Schuss zu imitieren.

»Gut«, sagte Syme halb abwesend, ohne von seinem Streifen Papier aufzuschauen.

»Wir dürfen eben keine Risiken eingehen«, stimmte Winston ihm pflichtgetreu zu.

»Das will ich meinen, schließlich haben wir Krieg«, sagte Parsons.

Wie zur Bestätigung tönte ein Trompetenstoß aus dem Telemonitor unmittelbar über ihren Köpfen. Diesmal handelte es sich aber nicht um die Verkündung eines militärischen Sieges, sondern lediglich um eine Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle.

»Genossen!«, rief eine eifrige, jugendliche Stimme. »Aufgepasst, Genossen! Wir haben ruhmreiche Neuigkeiten für euch. Wir haben den Produktionskampf gewonnen! Die jetzt vorliegende Aufstellung der Produktion sämtlicher Kategorien von Konsumgütern belegt, dass der Lebensstandard im Verlauf des letzten Jahres um nicht weniger als zwanzig Prozent gestiegen ist. In ganz Ozeanien kam es heute Morgen zu unkontrollierten, spontanen [81]Demonstrationen, als Arbeiter aus Fabriken und Büros marschierten und mit Transparenten durch die Straßen zogen, um ihre Dankbarkeit gegenüber dem Großen Bruder zum Ausdruck zu bringen, für das neue, glückliche Leben, das seine weise Führerschaft uns beschert hat. Hier folgen einige der uns vorliegenden Zahlen. Nahrungsmittel –«

Die Phrase »unser neues, glückliches Leben« wiederholte sich mehrmals. In letzter Zeit war dies die Lieblingswendung des Ministeriums für Fülle gewesen. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch den Trompetenstoß geweckt worden war, saß da und lauschte mit einer Art feierlichem Glotzen, in einer gewissen erbaulichen Langeweile. Er konnte den Zahlen nicht folgen, war sich aber bewusst, dass sie in gewisser Weise Anlass zur Zufriedenheit boten. Er hatte eine große, schmutzige Pfeife hervorgekramt, die schon bis zur Hälfte mit verkohltem Tabak gefüllt war. Angesichts einer Tabakration von 100 Gramm pro Woche war es kaum je möglich, den Pfeifenkopf bis zum Rand zu stopfen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfältig waagerecht hielt. Die nächste Ration wurde erst morgen zugeteilt, und er hatte nur noch vier Zigaretten übrig. Im Moment blendete er die entfernteren Geräusche aus und lauschte dem Kram, der aus dem Telemonitor strömte. Offenkundig hatte es sogar Demonstrationen gegeben, um dem Großen Bruder für die Erhöhung der Schokoladenration auf zwanzig Gramm pro Woche zu danken. Dabei war erst gestern, sinnierte er, verkündet worden, die Ration werde auf zwanzig Gramm pro Woche herabgesetzt. War es möglich, dass die Leute das einfach so schluckten, nach nur vierundzwanzig Stunden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es mühelos, mit dem Stumpfsinn eines Tieres. Die [82]augenlose Kreatur am anderen Tisch schluckte es fanatisch, leidenschaftlich, mit dem rasenden Verlangen, jeden zur Strecke zu bringen, zu denunzieren und zu vaporisieren, der auch nur andeutete, die Ration habe letzte Woche noch bei dreißig Gramm gelegen. Auch Syme schluckte es – aber auf komplexere Weise, mithilfe von Doppeldenk. War er demnach der Einzige, der ein Erinnerungsvermögen besaß?

Die fabelhaften Statistiken drangen weiterhin aus dem Telemonitor. Im Vergleich zum Vorjahr gab es mehr Lebensmittel, mehr Kleidung, mehr Wohnraum, mehr Einrichtungsgegenstände, mehr Kochtöpfe, mehr Treibstoff, mehr Schiffe, mehr Hubschrauber, mehr Bücher, mehr Neugeborene – es gab von allem mehr, ausgenommen Krankheiten, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr für Jahr und Minute für Minute ging es mit jedem und allem rasant aufwärts. Wie zuvor Syme hatte auch Winston den Löffel genommen und stocherte damit in der blässlichen Soße, die auf dem Tisch zerlief, wobei er eine lange Schliere zu einem Muster formte. Verbittert sinnierte er über die physische Beschaffenheit des Lebens. War es immer schon so gewesen? Hatte das Essen immer so geschmeckt? Er blickte sich in der Kantine um. Ein überfüllter Saal mit niedrig hängender Decke, die Wände schmierig vom direkten Kontakt mit unzähligen Leibern; zerschrammte Metalltische und Stühle, die so dicht beieinander standen, dass die Leute beim Sitzen mit den Ellbogen zusammenstießen; verbogene Löffel, Tabletts mit Dellen, klobige weiße Tassen; sämtliche Oberflächen schmierig, Schmutz in jedem Spalt; dazu ein säuerlicher Geruch, ein Gemisch aus schlechtem Gin, schlechtem Kaffee, metallisch schmeckendem Eintopf und schmutziger Kleidung. Ständig rebellierten der Magen und [83]die Haut, mit einem Gefühl, um etwas betrogen worden zu sein, auf das man eigentlich ein Anrecht hatte. Es stimmte, dass er keine Erinnerung daran hatte, dass es je groß anders gewesen wäre. In den Zeiten, an die er sich genau erinnern konnte, hatte es nie genug zu essen gegeben, man hatte nie Socken oder Unterwäsche ohne Löcher gehabt, die Möbel waren immer schon ramponiert und wackelig gewesen, die Zimmer schlecht geheizt, die U-Bahnen überfüllt, die Häuser fielen in sich zusammen, das Brot hatte eine dunkle Farbe, Tee war eine Seltenheit, der Kaffee schmeckte scheußlich, Zigaretten waren Mangelware – nichts war billig und im Überfluss zu bekommen außer dem synthetischen Gin. Und obwohl es natürlich schlimmer wurde, wenn der Körper alterte, war es nicht ein Anzeichen dafür, dass dies nicht die natürliche Ordnung der Dinge war, wenn es einem schwer ums Herz wurde angesichts der Unbehaglichkeit und des Drecks und des Mangels, der endlosen Winter, der eigenen klammen Socken, der Aufzüge, die nie funktionierten, des kalten Wassers, der körnigen Seife, der zerbröselnden Zigaretten und des Essens mit dem seltsamen, üblen Geschmack? Warum sollte man das für unerträglich halten, sofern man nicht eine Art vererbte Erinnerung besaß, dass die Dinge einmal anders gewesen waren?

Er blickte sich erneut in der Kantine um. Fast alle sahen hässlich aus und wären auch dann noch hässlich gewesen, wenn sie etwas anderes getragen hätten als die eintönigen blauen Overalls. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals saß ein kleiner, sonderbarer Mann, der etwas Käferartiges an sich hatte, allein an einem Tisch und trank eine Tasse Kaffee, seine kleinen Augen huschten argwöhnisch von rechts nach links. Wenn man sich nicht mit wachen [84]Augen umschaute, dachte Winston, wie einfach war es dann, daran zu glauben, dass die körperliche Erscheinungsform, die von der Partei zum Ideal stilisiert worden war – große, muskulöse Jungen und vollbusige Mädchen, blond, strotzend vor Leben, sonnengebräunt, sorglos – tatsächlich existierte und sogar vorherrschend war. In Wirklichkeit aber, zumindest soweit er das beurteilen konnte, war die Mehrzahl der Leute in Landefeld Eins eher klein, dunkelhaarig und nicht gerade von der Natur begünstigt. Seltsam, dass sich der käferartige Typus in den Ministerien ausbreitete: kleine untersetzte Männer, die schon früh im Leben korpulent wurden, mit kurzen Beinen, raschen, huschenden Bewegungen und teigigen, unergründlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Dieser Typus schien am besten unter der Herrschaft der Partei zu gedeihen.

Die Bekanntmachung des Ministeriums für Fülle endete mit einem weiteren Trompetenstoß und ging über in blechern klingende Musik. Parsons, von dem Zahlenbombardement zu einer vagen Begeisterung angeregt, nahm die Pfeife aus dem Mund.

 

»Das Ministerium für Fülle hat dieses Jahr wirklich gute Arbeit geleistet«, sagte er mit wissendem Kopfnicken. »Übrigens, Smith, alter Junge, Sie haben wohl keine Rasierklingen, die Sie mir geben könnten?«

»Keine einzige«, sagte Winston. »Ich benutze dieselbe Klinge schon seit sechs Wochen.«

»Ah, nun gut – dachte, ich frag Sie einfach mal, alter Junge.«

»Tut mir leid«, meinte Winston.

Die quakende Stimme vom Nachbartisch, die während der Bekanntmachung des Ministeriums zwischenzeitlich [85]verstummt war, war von Neuem zu hören, genauso laut wie zuvor. Aus einem unerfindlichen Grund musste Winston plötzlich an Mrs Parsons denken, an ihr strähniges Haar und den Staub in den Falten ihres Gesichts. In spätestens zwei Jahren würden diese Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Mrs Parsons würde vaporisiert werden. Syme würde vaporisiert werden. O’Brien würde vaporisiert werden. Parsons hingegen würde nie vaporisiert werden. Auch das augenlose Wesen mit der quakenden Stimme würde nie vaporisiert werden. Die kleinen käferartigen Männer, die so flink durch die labyrinthischen Gänge der Ministerien huschten – auch sie würden nie vaporisiert werden. Und die junge Frau mit dem dunklen Haar, die Frau aus der Abteilung für Fiktion – sie würde ebenfalls nie vaporisiert werden. Er hatte das Gefühl, instinktiv zu wissen, wer überleben und wer untergehen würde: Dabei ließ sich gar nicht ohne Weiteres sagen, was genau den Ausschlag für das Überleben gab.

In diesem Moment wurde er ruckartig aus seinem Tagtraum gerissen. Die junge Frau am Nachbartisch hatte sich halb zu ihm umgedreht und sah ihn nun an. Es war die junge Frau mit dem dunklen Haar. Sie musterte ihn auf eine verstohlene Weise, aber mit merkwürdiger Eindringlichkeit. Kaum, dass sie seinen Blick eingefangen hatte, schaute sie wieder zur Seite.

Der Schweiß lief Winston den Rücken hinab. Eine schreckliche Angst durchzuckte ihn. Sie verflüchtigte sich gleich wieder, ließ aber ein nagendes Unbehagen zurück. Wieso sah diese Frau ihn so an? Warum folgte sie ihm überallhin? Leider konnte er sich nicht entsinnen, ob sie schon an diesem Tisch gesessen hatte, als er gekommen [86]war, oder erst danach aufgetaucht war. Gestern jedenfalls, während des Zwei-Minuten-Hasses, hatte sie unmittelbar hinter ihm gesessen, obwohl es keinen ersichtlichen Grund dafür gab. Wahrscheinlich hatte sie die Absicht verfolgt, ihn zu belauschen und festzustellen, ob er auch laut genug schrie.

Sein voriger Gedanke kehrte zurück: Wahrscheinlich war sie gar kein Mitglied der Gedankenpolizei, aber andererseits waren es ja gerade die Amateurspione, von denen die größte Gefahr ausging. Er wusste nicht, wie lange sie ihn schon beobachtet hatte, vielleicht aber schon fünf Minuten, und es war durchaus denkbar, dass er sein Mienenspiel in dieser Zeit nicht ganz unter Kontrolle gehabt hatte. Es war furchtbar gefährlich, den Gedanken freien Lauf zu lassen, wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegte oder in Reichweite eines Telemonitors befand. Man konnte sich schon durch eine Kleinigkeit verraten. Eine nervöse Zuckung, ein unbewusster ängstlicher Blick, die Angewohnheit, leise vor sich hin zu murmeln – alles, was nur die Andeutung des Anormalen besaß oder vermuten ließ, man habe etwas zu verbergen. Wie dem auch sei, allein eine unangemessene Miene zur Schau zu stellen (zum Beispiel ungläubig dreinzublicken, wenn ein Sieg verkündet wurde), galt schon als Vergehen, das geahndet wurde. In Neusprech gab es sogar einen Begriff dafür: Gesichtsverbrechen nannte man es.

Die junge Frau hatte ihm wieder den Rücken zugekehrt. Vielleicht war sie ihm ja doch nicht gefolgt; vielleicht war es Zufall, dass sie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen so dicht bei ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf die Tischkante. Er würde [87]sie nach der Arbeit zu Ende rauchen, falls es ihm gelang, den Tabak nicht herausrieseln zu lassen. Gut möglich, dass die Person am Nachbartisch eine Spionin der Gedankenpolizei war, und gut möglich, dass er sich binnen drei Tagen in den Kellern des Ministeriums für Liebe wiederfinden würde, aber eine halb gerauchte Zigarette durfte man nicht vergeuden. Syme hatte seinen Papierstreifen zusammengerollt und steckte ihn wieder in die Tasche. Parsons hatte wieder zu reden begonnen.

»Hab ich Ihnen je erzählt, alter Junge«, gluckste er, das Mundstück der Pfeife zwischen den Zähnen, »dass meine beiden Knirpse mal den Rock der Marktfrau in Brand gesetzt haben, weil sie mitkriegten, wie die Alte ein paar Würstchen in ein Plakat des G. B. wickelte? Haben sich von hinten angeschlichen und ihr den Rock angezündet, mit Streichhölzern. Hat sich ganz schön verbrannt, glaub ich. Kleine Unholde, was? Aber immer auf Zack! Heutzutage kriegen die ein erstklassiges Training bei den Spionen – besser noch als zu meiner Zeit. Wissen Sie, was sie denen erst kürzlich gegeben haben? Hörrohre, damit man besser an Schlüssellöchern lauschen kann! Erst vor kurzem hat meine Kleine eins davon mitgebracht – hat sie an unserer Wohnzimmertür ausprobiert und meinte, sie hat doppelt so viel gehört wie nur mit dem Ohr am Schlüsselloch. Ist natürlich nur ein Spielzeug, das ist klar. Trotzdem bringt’s die Kleinen auf die richtigen Ideen, wie?«

In diesem Moment kam ein hohes Pfeifen aus dem Telemonitor. Es war das Signal, wieder an die Arbeit zu gehen. Die drei Männer sprangen auf und begaben sich in das Gedränge vor den Aufzügen, und der Rest des Tabaks rieselte aus Winstons Zigarette.

[88]6

Winston schrieb etwas in sein Tagebuch:

Es war vor drei Jahren. Es geschah an einem dunklen Abend, in einer schmalen Seitenstraße in der Nähe eines der großen Bahnhöfe. Sie stand dicht bei einem Durchgang in einer Mauer, unter einer Laterne, die nur spärliches Licht spendete. Sie hatte ein junges Gesicht, das dick geschminkt war. Es war in Wahrheit die Schminke, die mich anzog, das helle Weiß, das wie eine Maske wirkte, dazu die knallroten Lippen. Die Frauen aus der Partei schminken sich nie. Auf der Straße war sonst niemand, es gab keine Telemonitore. Sie sagte, zwei Dollar. Ich

Im Augenblick fiel es ihm zu schwer, weiterzuschreiben. Er schloss die Augen, drückte die Finger gegen die Lider und versuchte, die immer wiederkehrenden Bilder auszublenden. Er spürte das überwältigende Verlangen, aus vollem Halse einen Schwall schmutziger Wörter zu schreien. Oder den Kopf gegen die Wand zu rammen, den Tisch umzuwerfen und das Tintenfässchen durchs Fenster zu schmeißen – irgendetwas Gewalttätiges oder Lautes oder Schmerzhaftes, um die Erinnerung auszulöschen, die ihn immer wieder quälte.

Dein ärgster Feind, sinnierte er, ist dein eigenes Nervenkostüm. Jeden Moment konnte sich die Spannung in deinem Innern in ein äußerlich sichtbares Symptom verwandeln. Er musste an einen Mann denken, der ihm vor ein paar Wochen auf der Straße begegnet war: ein recht gewöhnlich aussehender Mann, Parteimitglied, [89]fünfunddreißig oder vierzig, groß und hager, der eine Aktentasche trug. Sie waren nur noch wenige Meter voneinander entfernt, als die linke Gesichtshälfte des Mannes plötzlich von Zuckungen verzerrt wurde. Das wiederholte sich, als sie aneinander vorbeigingen: Es war nur ein Zucken, ein Flattern, schnell wie das klickende Geräusch einer Kamerablende, aber offensichtlich eine Angewohnheit. Er erinnerte sich, was er an jenem Tag dachte: Der arme Teufel ist so gut wie erledigt. Beängstigend an der Sache war, dass diese Handlung sehr wahrscheinlich unbewusst ablief. Die tödlichste Gefahr war, im Schlaf zu sprechen. Es gab keine Möglichkeit, sich davor zu schützen, soweit er das einschätzen konnte.

Er sog die Luft ein und schrieb weiter:

Ich folgte ihr durch den Durchgang über einen Hinterhof in eine Küche im Souterrain. An einer Wand stand ein Bett, auf einem Tisch eine Lampe, die stark heruntergedreht war. Sie

Er merkte, wie er die Zähne aufeinanderpresste. Am liebsten hätte er ausgespuckt. Als er sich an die Frau in der Souterrain-Küche erinnerte, dachte er gleichzeitig an Katharine, seine Frau. Winston war verheiratet – war jedenfalls verheiratet gewesen: wahrscheinlich war er immer noch verheiratet, denn soweit er wusste, war seine Frau noch nicht tot. Er schien wieder den warmen, abgestandenen Geruch der Souterrain-Küche einzuatmen, einen Geruch, der sich aus Wanzen, schmutziger Wäsche und unerträglich billigem Parfüm zusammensetzte, aber doch auf eine Weise ansprechend war, denn in der Partei benutzte keine [90]Frau je Parfüm, das konnte man sich nicht vorstellen. Nur die Proles benutzten Parfüm. In seiner Erinnerung war dieser Geruch unabänderlich verbunden mit Unzucht.

Dass er sich auf diese Frau eingelassen hatte, war sein erster Fehltritt seit ungefähr zwei Jahren. Sich mit Prostituierten abzugeben war natürlich verboten, aber das war eine jener Regeln, die man gelegentlich brechen durfte. Es war zwar gefährlich, aber keine Angelegenheit auf Leben und Tod. Wurde man bei einer Prostituierten erwischt, bekam man fünf Jahre in einem Arbeitslager aufgebrummt: mehr nicht, sofern man keine weitere Straftat begangen hatte. Und es war einfach genug, vorausgesetzt, man konnte vermeiden, auf frischer Tat ertappt zu werden. In den ärmeren Vierteln wimmelte es nur so von Frauen, die bereit waren, ihren Körper zu verkaufen. Einige von ihnen konnte man sogar für eine Flasche Gin haben, der eigentlich nicht für die Proles gedacht war. Stillschweigend neigte die Partei sogar dazu, die Prostitution zu fördern, als Ventil für Instinkte, die sich nicht ganz unterdrücken ließen. Ausschweifungen fielen nicht so stark ins Gewicht, solange das Ganze so verstohlen wie freudlos über die Bühne ging und nur Frauen einer unterdrückten und verachteten Klasse betraf. Das unverzeihliche Verbrechen war sexuelle Freizügigkeit zwischen Parteimitgliedern. Aber – obgleich dies eines der Verbrechen war, zu denen sich die Beschuldigten in den großen Säuberungswellen durchgehend bekannten – man konnte sich schwer vorstellen, dass so etwas tatsächlich geschah.

Ziel der Partei war es nicht nur, Männer und Frauen daran zu hindern, Verbindungen einzugehen, die sich womöglich nicht mehr kontrollieren ließen. Die tatsächliche, unausgesprochene Absicht dahinter bestand darin, dem [91]Geschlechtsakt jegliches Vergnügen zu nehmen. Nicht die Liebe war der Feind, innerhalb wie außerhalb der Ehe, sondern vielmehr die Erotik. Alle Ehen zwischen Parteimitgliedern mussten von einem eigens dafür geschaffenen Komitee genehmigt werden, und die Erlaubnis – auch wenn dieses Prinzip nie klar geäußert wurde – wurde stets dann verweigert, wenn das betreffende Paar den Eindruck vermittelte, einander körperlich anziehend zu finden. Der einzige anerkannte Zweck der Ehe bestand darin, im Dienste der Partei Kinder zu zeugen. Der Geschlechtsakt sollte als leicht widerwärtiger Eingriff betrachtet werden, ganz so, als würde man einen Einlauf bekommen. Auch das wurde nie klar geäußert, aber auf subtile Weise bekam es jedes Parteimitglied schon von Kindheit an eingeimpft. Es gab sogar Organisationen wie den Junioren-Anti-Sex-Bund, die für beide Geschlechter ein strenges Zölibat proklamierten. Alle Kinder sollten durch künstliche Befruchtung entstehen (Kunstsam, wie das in Neusprech hieß) und in öffentlichen Einrichtungen aufwachsen. Winston war bewusst, dass das nicht ganz ernst gemeint sein konnte, aber irgendwie passte es zur allgemeinen Ideologie der Partei. Die Partei versuchte, den Sexualtrieb abzutöten oder, sofern er sich nicht abtöten ließ, ihn umzuformen und in den Dreck zu ziehen. Winston vermochte nicht zu sagen, warum das so gehandhabt wurde, aber es erschien ganz natürlich, dass es so sein sollte. Und was die Frauen betraf, so waren die Bestrebungen der Partei größtenteils erfolgreich.

Er dachte wieder an Katharine. Es musste jetzt neun, zehn – fast elf Jahre her sein, seitdem sie sich getrennt hatten. Eigenartig, wie selten er an sie dachte. Manchmal konnte er über Tage hinweg vergessen, dass er je [92]verheiratet gewesen war. Sie waren nur etwa fünfzehn Monate zusammen gewesen. Die Partei gestattete keine Scheidungen, dafür ermunterte sie die Partner aber zur Trennung, falls die Ehe kinderlos blieb.

Katharine war eine große, blonde junge Frau mit gerader Haltung und geschmeidigen Bewegungen. Sie besaß ein kühnes, adlerartiges Gesicht, eines jener Gesichter, die man als edel hätte bezeichnen mögen, bis man feststellte, dass so gut wie nichts dahintersteckte. Schon sehr früh in ihrem Eheleben hatte er beschlossen – doch das lag vermutlich nur daran, dass er sie viel besser kannte als die meisten Leute –, dass sie ausnahmslos den dümmsten, vulgärsten und leersten Geist hatte, dem er je begegnet war. In ihrem Kopf gab es keinen Gedanken, der nicht längst eine Parole war, und es gab keinen Schwachsinn, absolut keinen, den sie nicht geschluckt hätte, wenn nur die Partei ihn ihr servierte. »Die menschliche Tonspur«, hatte er sie in seinen Gedanken genannt. Dennoch hätte er es ertragen können, mit ihr zu leben, wäre da nicht eine bestimmte Sache gewesen – der Sex.

 

Sobald er sie nur anfasste, schien sie zusammenzuzucken und sich zu verspannen. Sie zu umarmen bedeutete, eine hölzerne Gliederpuppe zu umarmen. Und eigenartig war, dass er, selbst wenn sie ihn an sich drückte, das Gefühl hatte, dass sie ihn gleichzeitig mit aller Kraft von sich stieß. Die Härte ihrer Muskulatur vermittelte jedenfalls diesen Eindruck. Dann lag sie mit geschlossenen Augen da, weder widerstrebend noch teilnehmend, sondern ergeben. Das war ausgesprochen peinlich und nach einiger Zeit schrecklich. Aber selbst dann hätte er es ertragen können, mit ihr zusammenzuleben, wenn sie denn vereinbart [93]hätten, keusch zu bleiben. Doch seltsamerweise lehnte ausgerechnet Katharine das ab. Sie müssten, sagte sie, ein Kind zur Welt bringen, wenn es sich irgendwie bewerkstelligen ließ. Also nahm die Darbietung weiterhin ihren Lauf, einmal die Woche, ziemlich regelmäßig, wann immer es sich einrichten ließ. Morgens erinnerte sie ihn sogar daran – wie eine Sache, die am selben Abend erledigt werden musste und die man nicht vergessen durfte. Sie hatte zwei Bezeichnungen dafür. Eine lautete »ein Baby machen«, die andere »unsere Pflicht der Partei gegenüber« (ja, diese Phrase hatte sie tatsächlich benutzt). Recht bald entwickelte er ein Gefühl regelrechter Furcht, wenn der vereinbarte Tag näher rückte. Aber glücklicherweise bekamen sie kein Kind, und letzten Endes stimmte sie zu, die Versuche aufzugeben. Kurz darauf trennten sie sich.

Winston seufzte unhörbar. Er nahm erneut den Stift zur Hand und schrieb:

Sie warf sich auf das Bett, und schob sich sofort, ohne Vorankündigung, auf die gröbste, abstoßendste Weise, die man sich vorstellen kann, den Rock hoch. Ich

Er sah sich selbst in dem matten Lampenschein stehen, den Geruch von Wanzen und billigem Parfüm in der Nase, und empfand in seinem Herzen ein Gefühl von Niederlage und Abscheu, das sogar in jenem Moment mit dem Gedanken an Katharines weißen Leib verknüpft war, für immer erstarrt angesichts der hypnotischen Macht der Partei. Warum musste es immer so sein? Warum konnte er keine eigene Frau haben, anstatt dieser widerwärtigen Handlungen alle paar Jahre? Doch eine richtige Liebesaffäre war ein fast [94]undenkbares Ereignis. Die Frauen der Partei waren alle gleich. Keuschheit war so tief verwurzelt in ihnen wie die Treue zur Partei. Durch frühe sorgfältige Konditionierung, durch Sport und kaltes Wasser, durch den Müll, den man in der Schule und bei den Spionen und dem Jugendbund verabreicht bekam, durch Vorlesungen, Paraden, Lieder, Parolen und martialische Musik hatte man ihnen die natürlichen Gefühlsregungen ausgetrieben. Sein Verstand sagte ihm, dass es Ausnahmen geben musste, aber in seinem Herzen glaubte er es nicht. Sie waren alle uneinnehmbar, denn genau so wollte es die Partei haben. Und was er wollte, mehr noch als geliebt zu werden, war, diese Mauer der Tugend einzureißen, und wenn es ihm nur einmal in seinem ganzen Leben gelänge. Der Geschlechtsakt, erfolgreich durchgeführt, war Rebellion. Verlangen war Gedankenverbrechen. Selbst Katharine wachgeküsst zu haben, wenn ihm das je gelungen wäre, wäre einer Verführung gleichgekommen, obwohl sie seine Frau war.

Aber der Rest der Geschichte musste niedergeschrieben werden. Also schrieb er:

Ich machte die Lampe heller. Als ich sie im Licht sah

Nach der Düsternis hatte der matte Lichtschein der Paraffinlampe grell gewirkt. Zum ersten Mal konnte er die Frau richtig erkennen. Er hatte einen Schritt auf sie zu gemacht und war dann stehen geblieben, erfüllt von Lust und Schrecken. Ihm war schmerzlich bewusst, was für ein Risiko er auf sich genommen hatte, indem er hierhergekommen war. Es war durchaus möglich, dass die Streifen ihn auf dem Weg nach draußen festnehmen würden: Zu diesem Zweck [95]warteten sie womöglich bereits an der Tür. Wenn er jetzt ginge, ohne überhaupt getan zu haben, weswegen er gekommen war –!

Es musste aufgeschrieben werden, musste gebeichtet werden. Plötzlich hatte er im Lampenlicht gesehen, dass die Frau alt war. Die Schminke war so dick im Gesicht aufgetragen, dass es aussah, als könne es einreißen wie eine Maske aus Pappe. In ihrem Haar waren weiße Strähnen; aber das wirklich furchtbare Detail war, dass ihr Mund ein wenig offen stand und nichts anderes enthüllte als eine höhlenartige Schwärze. Sie hatte keine Zähne mehr.

Er schrieb gehetzt, mit krakeliger Schrift:

Als ich sie im Licht sah, war sie eine ziemlich alte Frau, mindestens fünfzig Jahre alt. Aber ich machte weiter und tat es trotzdem.

Wieder presste er die Finger gegen die geschlossenen Lider. Endlich hatte er es aufgeschrieben, doch es änderte nichts. Die Therapie hatte nicht gewirkt. Das Verlangen, aus vollem Halse schmutzige Wörter in die Welt hinauszuschreien, war so stark wie zuvor.