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Und schließlich war die Dokumentationsabteilung nur ein einzelner Zweig des Ministeriums für Wahrheit, dessen Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Vergangenheit zu rekonstruieren, sondern darin, die Bürger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Fachbüchern, Telemonitorprogrammen, Theaterstücken und Romanen zu versorgen – also mit jeder nur erdenklichen Art von Informationen, Anweisungen und Unterhaltung, vom Denkmal bis zur Parole, vom lyrischen Gedicht bis zur biologischen Abhandlung, von der Fibel bis zum Neusprechwörterbuch. Und das Ministerium musste nicht nur die facettenreichen Bedürfnisse der Partei befriedigen, sondern die ganzen Maßnahmen auch noch einmal auf einem niedrigeren Niveau zugunsten des Proletariats wiederholen. Es gab eine ganze Reihe von Sonderabteilungen, die sich mit proletarischer Literatur, Musik, Theater und generell mit Unterhaltung beschäftigten. Hier wurden wertlose Zeitungen [61]produziert, die fast nichts anderes enthielten als Sportberichte, Verbrechen und Horoskope, reißerische Schundhefte für fünf Cent, vor Sex triefende Filme und kitschige, rührselige Lieder, die ausnahmslos mit technischen Mitteln in einer speziellen Art Kaleidoskop komponiert wurden, dem so genannten Versifikator. Es gab sogar eine ganze Unterabteilung – Pornoab in Neusprech –, die damit befasst war, die niedrigste Art von Pornografie herzustellen, die dann in versiegelten Päckchen versandt wurde und die kein Parteimitglied je zu Gesicht bekommen durfte, abgesehen von denjenigen, die mit der Herstellung betraut waren.

Drei weitere Mitteilungen waren aus der mit Druckluft betriebenen Röhre geglitten, während Winston seiner Arbeit nachkam; aber es handelte sich um simple Angelegenheiten, die er erledigt hatte, noch bevor er vom Zwei-Minuten-Hass unterbrochen wurde. Als das Ritual zu Ende war, kehrte er in seine Nische zurück, nahm das Neusprechwörterbuch aus dem Regal, schob den Sprechschreiber zur Seite, putzte seine Brillengläser und widmete sich der Hauptaufgabe dieses Morgens.

Winstons größte Freude im Leben war seine Arbeit. Vieles davon war ermüdende Routine, aber mitunter gab es Aufgaben, die so schwierig und verzwickt waren, dass man sich darin wie in den Tiefen eines mathematischen Problems verlieren konnte – delikate Fälschungen, bei denen man sich an nichts anderem orientieren konnte als an seinen Kenntnissen der Prinzipien des Engsoz und seiner Einschätzung dessen, was die Partei von einem verlangte. Mit diesen Dingen kannte Winston sich aus. Gelegentlich war er sogar mit der Richtigstellung von Leitartikeln aus der Times betraut worden, die ausnahmslos auf Neusprech [62]verfasst waren. Nun entrollte er die Mitteilung, die er zuvor zur Seite gelegt hatte. Sie lautete:

times 3.12.83 bericht gb tagesbefehl doppelplusungut nennt unpersonen vollkommen umschreiben obenvor präarchiv.

Auf Altsprech (oder standardisiertem Englisch) bedeutete das so viel wie:

Der Bericht über den Tagesbefehl des Großen Bruders in der Times vom 3. Dezember 1983 ist zutiefst unbefriedigend und nimmt Bezug auf nicht existierende Personen. Schreiben Sie ihn vollständig um und reichen Sie Ihren Entwurf an höherer Stelle ein, ehe er im Archiv aufbewahrt wird.

Winston las den beanstandeten Artikel durch. Der Tagesbefehl des Großen Bruders hatte sich offenbar hauptsächlich dem Lob der Arbeit einer Organisation gewidmet, die unter der Bezeichnung SFZZ bekannt war und die die Matrosen auf den Schwimmenden Festungen mit Zigaretten und anderen Zuwendungen versorgte. Ein gewisser Genosse Withers, ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, war lobend erwähnt worden und hatte einen Orden erhalten, den Orden für besondere Verdienste Zweiter Klasse.

Drei Monate später war die SFZZ plötzlich ohne Angabe von Gründen aufgelöst worden. Man konnte vermuten, Withers und seine Kollegen seien inzwischen in Ungnade gefallen, aber weder in der Presse noch im Telemonitor hatte es zu dieser Angelegenheit Berichte gegeben. Das war zu [63]erwarten gewesen, da politische Straftäter für gewöhnlich nicht vor Gericht gestellt, geschweige denn öffentlich angeprangert wurden. Die großen Säuberungen, die Tausende von Menschen betrafen, und die öffentlich abgehaltenen Verhandlungen gegen Verräter und Gedankenverbrecher, die für ihre Verbrechen unterwürfig Geständnisse ablegten und danach hingerichtet wurden, waren spezielle Schauprozesse, die nur einmal alle paar Jahre stattfanden. Gewöhnlich lief es so ab, dass Leute, die das Missfallen der Partei erregt hatten, einfach verschwanden und man nie wieder etwas von ihnen hörte. Man hatte nicht den kleinsten Anhaltspunkt, was mit ihnen geschehen war. In manchen Fällen waren sie womöglich nicht einmal tot. Etwa dreißig Leute, die Winston persönlich gekannt hatte, seine Eltern nicht mitgezählt, waren im Laufe der Zeit verschwunden.

Winston strich sich mit einer Büroklammer sanft über den Nasenrücken. In der Nische auf der anderen Seite des Gangs kauerte Genosse Tillotson noch immer heimlichtuerisch über seinem Sprechschreiber. Einen kurzen Moment hob er den Kopf: wieder das feindselige Aufblitzen der Brillengläser. Winston fragte sich, ob Genosse Tillotson mit derselben Aufgabe wie er beschäftigt war. Das war durchaus denkbar. Eine derart komplizierte Aufgabe würde man niemals einer einzigen Person anvertrauen; andererseits würde man, wenn man sie einem Komitee übertrug, öffentlich zugeben, dass eine Fälschung im Gange war. Sehr wahrscheinlich erarbeitete im Augenblick ein Dutzend Leute konkurrierende Versionen dessen, was der Große Bruder tatsächlich gesagt hatte. Und bald würde ein Superhirn der Inneren Partei diese oder jene Version auswählen, würde sie neu herausgeben und den komplexen [64]Prozess der Querverweise in Gang setzen, der dafür erforderlich wäre, und erst dann würde die ausgewählte Lüge in die immerwährenden Aufzeichnungen gelangen und zur Wahrheit werden.

Winston wusste nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Korruption oder Unfähigkeit. Womöglich wollte der Große Bruder bloß einen allzu beliebten Untergebenen loswerden. Vielleicht war Withers oder jemand aus seinem näheren Umfeld abweichlerischer Tendenzen verdächtigt worden. Oder aber – und das war am wahrscheinlichsten – das Ganze war nur deshalb passiert, weil Säuberungen und Vaporisationen notwendiger Bestandteil der Regierungsmaschinerie waren. Der einzig brauchbare Hinweis fand sich in den Worten »nennt unpersonen«, die darauf hindeuteten, dass Withers bereits tot war. Man konnte nicht immer davon ausgehen, dass dies der Fall war, wenn Leute verhaftet wurden. Manchmal wurden sie wieder freigelassen und durften ein oder zwei Jahre in Freiheit verbringen, bevor sie hingerichtet wurden. Ganz selten kam es vor, dass jemand, den man schon lange für tot gehalten hatte, plötzlich wie ein Geist bei einer öffentlichen Verhandlung erschien, wo er dann aufgrund seiner Aussagen Hunderte anderer belastete, ehe er von der Bildfläche verschwand, diesmal für immer. Withers jedoch war bereits eine Unperson. Er existierte nicht: Er hatte nie existiert. Winston kam zu dem Schluss, dass es nicht ausreichte, einfach die Zielrichtung der Rede des Großen Bruders ins Gegenteil zu verkehren. Besser wäre es, wenn die Rede von etwas handelte, das in keinem Zusammenhang zu dem ursprünglichen Thema stand.

Er könnte die Rede in die gängige Beschuldigung von [65]Verrätern und Gedankenverbrechern umwandeln, aber das wäre ein bisschen zu offensichtlich; einen Sieg an der Front zu erfinden oder einen Erfolg bei der Überproduktion im Neunten Dreijahresplan könnte die Aufzeichnungen wiederum verkomplizieren. Was man brauchte, war ein reines Fantasieprodukt. Plötzlich kam ihm, wie gerufen sozusagen, das Bild eines gewissen Genossen Ogilvy in den Sinn, der kürzlich unter heldenhaften Umständen in der Schlacht gefallen war. Gelegentlich widmete der Große Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedenken eines gewöhnlichen, einfachen Parteimitglieds, dessen Leben und Sterben er als nachahmenswertes Beispiel hochhielt. An diesem Tag sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Es gab zwar gar keinen Genossen Ogilvy, aber ein paar gedruckte Zeilen und einige gefälschte Fotografien würden diese Person flugs ins Leben rufen.

Winston dachte einen Moment nach, zog dann den Sprechschreiber zu sich und begann, im üblichen Stil des Großen Bruders zu diktieren: einem Stil, der gleichermaßen militärisch wie pedantisch und leicht nachzuahmen war, weil der Große Bruder gern Fragen stellte, um sie dann prompt selbst zu beantworten (»Welche Lehren ziehen wir aus diesem Sachverhalt, Genossen? Die Lehre – die auch ein Grundprinzip des Engsoz darstellt –, nämlich dass« usw. usw.).

Im Alter von drei Jahren hatte der Genosse Ogilvy sämtliches Spielzeug abgelehnt außer einer Trommel, einer Maschinenpistole und einem Modell eines Hubschraubers. Mit sechs – aufgrund einer Lockerung der Regeln ein Jahr früher als sonst üblich – war er den Spionen beigetreten; mit neun Jahren war er Zugführer geworden. Mit elf hatte [66]er seinen Onkel bei der Gedankenpolizei denunziert, nachdem er ein Gespräch belauscht hatte, das seiner Ansicht nach kriminelle Absichten erkennen ließ. Mit siebzehn war er Bezirksleiter des Junioren-Anti-Sex-Bunds geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate entworfen, die daraufhin vom Ministerium für Frieden übernommen worden war und gleich beim ersten Testeinsatz einunddreißig eurasische Gefangene mit nur einem Schlag getötet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Während eines Fluges über dem Indischen Ozean, im Gepäck wichtige Nachrichten, verfolgt von feindlichen Düsenjets, hatte er sich das Maschinengewehr umgehängt und war mitsamt den Nachrichten aus dem Hubschrauber ins Meer gesprungen – ein Ende, sagte der Große Bruder, über das man nicht nachdenken könne, ohne Neidgefühle zu hegen. Der Große Bruder fügte noch ein paar Worte hinzu, wie anständig und zielstrebig Genosse Ogilvy im Leben gewesen sei. Er war überzeugter Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte keine andere Erholung gekannt als täglich eine Stunde in der Sporthalle und hatte gelobt, zölibatär zu leben, war er doch überzeugt davon, dass die Ehe und die Versorgung einer Familie mit der Pflichterfüllung rund um die Uhr unvereinbar seien. Für ihn gab es keine anderen Gesprächsthemen als die Grundprinzipien des Engsoz und kein anderes Ziel im Leben als die Niederwerfung des eurasischen Feindes und die Jagd auf Spitzel, Saboteure, Gedankenverbrecher und Verräter aller Art.

 

Winston überlegte ernsthaft, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden für besondere Dienste verleihen sollte: Letzten Endes entschied er sich dagegen, da dieser Schritt unnötige Querverweise nach sich ziehen würde.

[67]Erneut schaute er zu seinem Konkurrenten in der gegenüberliegenden Nische hinüber. Etwas schien ihm mit Gewissheit zu sagen, dass Tillotson mit derselben Aufgabe beschäftigt war wie er. Man konnte unmöglich wissen, wessen Version schlussendlich übernommen werden würde, aber er war zutiefst davon überzeugt, dass es die seine sein würde. Genosse Ogilvy, der noch vor einer Stunde nicht einmal in der Vorstellung existiert hatte, war jetzt eine Tatsache. Es kam ihm eigenartig vor, dass man tote Menschen erschaffen konnte, nicht aber lebende. Genosse Ogilvy, der nie in der Gegenwart existiert hatte, existierte nun in der Vergangenheit, und sobald der Akt der Fälschung vergessen wäre, würde er genauso echt und nachweislich existieren wie Karl der Große und Julius Cäsar.

5

In der niedrigen Kantine, tief unter der Erde, bewegte sich die Schlange zur Mittagsstunde nur langsam vorwärts. Im Raum war es bereits sehr voll, und es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Aus dem Lüftungsgitter an der Ausgabetheke wallten Schwaden des Eintopfgerichts mit einem säuerlich-metallischen Geruch herüber, der die Ausdünstungen des Victory-Gins nicht ganz überdeckte. Am anderen Ende des Raums befand sich eine kleine Bar, eigentlich nicht mehr als eine Nische in der Wand, an der man einen großen Schluck Gin für zehn Cent kaufen konnte.

»Genau dich hab ich gesucht«, sagte jemand in Winstons Rücken.

Winston drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der [68]in der Forschungsabteilung arbeitete. »Freund« war vielleicht nicht die richtige Bezeichnung. Heutzutage hatte man keine Freunde mehr, man hatte Genossen: Es gab aber einige Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Philologe, ein Spezialist für Neusprech. Tatsächlich gehörte er zu dem riesigen Team von Experten, die im Augenblick damit beschäftigt waren, die elfte Auflage des Neusprechwörterbuchs zusammenzustellen. Er war ein kleiner Mann, kleiner als Winston, hatte dunkles Haar und große, hervortretende Augen, die traurig und spöttisch zugleich wirkten und einen genau zu mustern schienen, wenn er sich mit einem unterhielt.

»Ich wollte dich fragen, ob du noch ein paar Rasierklingen hast«, sagte er.

»Keine einzige!«, sagte Winston mit schuldbewusster Hast. »Ich habe überall versucht, welche zu bekommen. Es gibt einfach keine mehr.«

Dauernd wurde man von Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wahrheit hatte er noch zwei unbenutzte, die er zurückhielt. Seit Monaten waren sie Mangelware. Ständig gab es irgendwelche notwendigen Artikel, die die Parteiläden nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knöpfe, manchmal Stopfwolle, dann wiederum Schnürsenkel; im Augenblick waren es Rasierklingen. Wenn überhaupt, kam man nur an welche heran, wenn man sich mehr oder weniger heimlich auf dem »freien« Markt etwas zusammenschnorrte.

»Ich benutze dieselbe Klinge seit sechs Wochen«, fügte er verlogen hinzu.

Die Schlange bewegte sich wieder ein Stück weiter vorwärts. Als sie zum Stehen kamen, drehte Winston sich [69]wieder zu Syme um. Beide nahmen sich ein schmieriges Metalltablett von einem Stapel am Rande der Theke. »Hast du gestern zugeschaut, wie die Gefangenen gehängt wurden?«, wollte Syme wissen.

»Ich habe gearbeitet«, sagte Winston gleichgültig. »Ich werde es wohl im Kino sehen, denke ich.«

»Ein ziemlich ungenügender Ersatz«, sagte Syme.

Sein spöttischer Blick glitt über Winstons Gesicht. »Ich weiß, wer du bist«, schienen diese Augen ihm zu sagen, »ich durchschaue dich. Ich weiß genau, warum du dir nicht angesehen hast, wie die Gefangenen gehängt wurden.« Auf intellektuelle Weise war Syme boshaft linientreu. Mit unerträglich genießerischer Befriedigung konnte er von Hubschrauberangriffen auf feindliche Siedlungen, von Prozessen und Geständnissen von Gedankenverbrechern, von den Hinrichtungen in den Kellergewölben des Ministeriums für Liebe erzählen. Wenn man sich mit Syme auf ein Gespräch einlassen wollte, musste man ihn von solchen Themen abbringen und ihn, falls möglich, in die technischen Aspekte des Neusprech verwickeln, da er auf diesem Gebiet ein großes Wissen besaß und Interessantes wusste. Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick dieser großen, dunklen Augen zu entgehen.

»War gar nicht schlecht, das Hängen«, sagte Syme und schwelgte in Erinnerungen. »Ich finde, es verdirbt die Sache, wenn sie ihnen die Füße zusammenbinden. Ich mag es, wenn sie zappeln. Und vor allem am Ende, wenn die Zunge rausguckt, blau – so richtig leuchtendblau. Das gefällt mir immer ganz besonders.«

»Nächster, bitte!«, rief die Prole mit der weißen Schürze und der Schöpfkelle.

[70]Winston und Syme schoben ihre Tabletts unter dem Gitter durch. Auf jedes wurde schnell die vorgeschriebene Mahlzeit ausgegeben – eine metallene Schale mit einem rötlich-grauen Eintopf, dazu ein Kanten Brot, ein gewürfeltes Stück Käse, ein Becher mit Victory-Kaffee ohne Milch und eine Tablette Süßstoff.

»Dort drüben ist ein Tisch frei, unter diesem Telemonitor«, sagte Syme. »Nehmen wir auf dem Weg noch einen Gin mit.«

Der Gin wurde in henkellosen Porzellanbechern ausgegeben. Sie bahnten sich einen Weg durch den vollen Saal und stellten Geschirr und Besteck auf die metallene Tischplatte, auf der jemand an einer Ecke einen Klecks Eintopf hinterlassen hatte, eine klebrige Flüssigkeit, die auf den ersten Blick wie Erbrochenes aussah. Winston nahm seinen Becher Gin, hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln und kippte das ölig schmeckende Zeug runter. Als er die Tränen fortgeblinzelt hatte, spürte er mit einem Mal, dass er hungrig war. Löffelweise schlang er den Eintopf hinunter, in dessen Brei Würfel aus schwammartigem, rötlichem Zeug trieben, die vermutlich aus Formfleisch bestanden. Keiner der beiden sagte etwas, bis sie ihre Schalen geleert hatten. Am Tisch linker Hand von Winston, ein Stück weit hinter seinem Rücken, redete jemand schnell und ununterbrochen, ein hastiges Geplapper, fast wie das Quaken einer Ente, das den allgemeinen Lärm im Saal durchdrang.

»Wie geht es mit dem Wörterbuch voran?«, fragte Winston, der die Stimme ein wenig erhob, um gegen den Lärm anzukommen.

»Nur langsam«, sagte Syme. »Ich bin gerade bei den Adjektiven. Das ist faszinierend.«

[71]Seine Miene hatte sich sogleich aufgehellt, als vom Neusprech die Rede war. Er schob seine Schale beiseite, nahm sein Stück Brot in die eine und den Käse in die andere zierliche Hand und beugte sich über den Tisch, um normal sprechen zu können, ohne schreien zu müssen.

»Die elfte Auflage wird die endgültige Ausgabe sein«, sagte er. »Wir bringen die Sprache in ihre letztgültige Form – die Form, die sie beibehalten wird, wenn keiner mehr irgendetwas anderes spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du sie ganz von vorn lernen müssen. Ich schätze, du denkst, dass unsere Hauptaufgabe darin besteht, neue Wörter zu erfinden. Weit gefehlt! Wir vernichten Wörter – massenhaft, zu Hunderten, jeden Tag. Wir stutzen die Sprache auf ein Mindestmaß zurecht. Die elfte Auflage wird kein einziges Wort enthalten, das vor dem Jahr 2050 obsolet sein wird.«

Er biss hungrig in sein Brot und schluckte einige Male, ehe er weitersprach, mit der Leidenschaft eines Pedanten. Sein schmales, eher dunkles Gesicht war lebhaft geworden, seine Augen hatten den spöttischen Ausdruck verloren, sein Blick war nun beinahe verträumt.

»Das ist wundervoll, die Vernichtung von Wörtern. Den meisten Schwund gibt es natürlich bei den Verben und Adjektiven, aber es gibt Hunderte von Substantiven, die man auch gleich mit entsorgen kann. Es geht mir nicht nur um die Synonyme; da wären auch die Antonyme. Denn welche Berechtigung hat schließlich ein Wort, das einfach nur das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Ein Wort beinhaltet ja sein Gegenteil. Nehmen wir zum Beispiel ›gut‹. Wenn man ein Wort wie ›gut‹ hat, braucht man dann noch ein Wort wie ›schlecht‹? ›Ungut‹ tut es genauso gut – besser sogar, [72]weil es das genaue Gegenteil ist, was man vom anderen nicht sagen kann. Oder ein anderes Beispiel: Möchte man eine kraftvollere Version von ›gut‹, was bringt es dann, eine ganze Reihe vager, nutzloser Wörter zu haben wie ›ausgezeichnet‹ und ›glänzend‹ und so weiter? ›Plusgut‹ deckt das Bedeutungsspektrum ab; oder ›doppelplusgut‹, sofern man etwas noch Kraftvolleres haben möchte. Natürlich benutzen wir diese Formen längst, aber in der letztgültigen Version von Neusprech wird es nichts anderes mehr geben. Letzten Endes wird die gesamte Begrifflichkeit von Gut und Schlecht von nur sechs Wörtern abgedeckt sein – in Wirklichkeit von nur einem Wort. Siehst du nicht, wie herrlich das ist, Winston? Ursprünglich war es die Idee des G. B.«, fügte er nachträglich hinzu.

Eine Art schale Begeisterung stahl sich über Winstons Züge bei der Erwähnung des Großen Bruders. Trotzdem entdeckte Syme sofort einen gewissen Mangel an Enthusiasmus.

»Du kannst dich einfach nicht richtig für Neusprech begeistern, Winston«, sagte er fast traurig. »Selbst wenn du es schreibst, denkst du noch in den Kategorien des Altsprech. Ich habe ein paar dieser Beiträge gelesen, die du gelegentlich für die Times schreibst. Die sind nicht schlecht, aber es sind bloß Übertragungen. In deinem Herzen hältst du dich lieber ans Altsprech, mit all seiner Ungenauigkeit und seinen nutzlosen Bedeutungsnuancen. Du erfasst einfach nicht die Schönheit, die in der Vernichtung von Wörtern liegt. Wusstest du, dass Neusprech die einzige Sprache auf der Welt ist, deren Wortschatz jedes Jahr kleiner wird?«

Das wusste Winston natürlich. Er lächelte, mitfühlend, wie er hoffte, und traute sich nicht, selbst das Wort zu [73]ergreifen. Syme biss ein weiteres Stück von dem dunklen Brot ab, kaute kurz, und fuhr fort:

»Siehst du denn nicht, dass Neusprech kein anderes Ziel verfolgt, als die Reichweite des Denkens einzuschränken? Am Ende machen wir Gedankenverbrechen faktisch unmöglich, da es keine Wörter mehr geben wird, mit denen man Verbrechen ausdrücken könnte. Jeder Begriff, den man überhaupt noch bräuchte, wird von genau einem Wort ausgedrückt werden, und die Bedeutung wird klar festgelegt sein, all die Unterbedeutungen werden ausgelöscht und vergessen sein. In der elften Auflage sind wir schon nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozess wird immer weitergehen, lange nachdem wir beide gestorben sind. Jedes Jahr weniger und weniger Wörter, und die Bandbreite des Bewusstseins wird immer ein wenig kleiner. Natürlich gibt es schon jetzt keinen Grund oder keine Entschuldigung, Gedankenverbrechen zu begehen. Es ist einfach eine Frage der Selbstdisziplin, der Wirklichkeitskontrolle. Aber schlussendlich wird es selbst dafür keinen Bedarf mehr geben. Die Revolution wird abgeschlossen sein, sobald die Sprache perfektioniert ist. Neusprech ist Engsoz, und Engsoz ist Neusprech«, fügte er mit einer gewissen mystischen Befriedigung hinzu. »Ist dir je in den Sinn gekommen, Winston, dass im Jahr 2050, allerspätestens, kein Mensch mehr leben wird, der eine Unterhaltung, wie wir sie gerade führen, verstehen könnte?«

»Außer –«, setzte Winston zweifelnd an, ehe er abbrach.

Es hatte ihm auf der Zunge gelegen, zu sagen »Außer die Proles«, aber er hielt sich zurück, da er nicht sicher sein konnte, ob diese Bemerkung nicht in irgendeiner Weise [74]unorthodox war. Doch Syme hatte erahnt, was Winston hatte sagen wollen.

»Die Proles sind keine Menschen«, sagte er abfällig. »2050 oder schon früher wird das gesamte tatsächliche Wissen des Altsprech verschwunden sein. Die ganze Literatur der Vergangenheit wird vernichtet sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron – sie existieren dann nur noch in Neusprechfassungen, sie werden nicht nur in etwas anderes verwandelt, sondern vielmehr in etwas umgewandelt, das dem widerspricht, was sie einst waren. Selbst die Literatur der Partei wird sich verändern. Selbst die Parolen werden sich verändern. Wie sollte es noch eine Parole wie ›Freiheit ist Sklaverei‹ geben, wenn der Begriff von Freiheit längst abgeschafft worden ist? Die ganze Sphäre des Denkens wird anders sein. Tatsächlich wird es kein Denken mehr geben, wie wir es heute verstehen. Orthodoxie bedeutet nicht denken – nicht mehr denken zu müssen. Orthodoxie ist Unbewusstheit.«

 

Eines Tages, dachte Winston mit plötzlicher Überzeugung, wird Syme vaporisiert werden. Er ist zu intelligent. Er sieht viel zu klar und spricht zu offen. Die Partei mag solche Leute nicht. Eines Tages wird er verschwinden. Das steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Winston hatte sein Brot und den Käse aufgegessen. Er drehte sich auf seinem Platz ein wenig zur Seite, um seinen Kaffee zu trinken. An dem Tisch linker Hand sprach der Mann mit der schneidenden Stimme immer noch erbarmungslos weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretärin, die mit dem Rücken zu Winston saß, hörte ihm zu und schien bei allem, was er sagte, eifrig zuzustimmen. Ab und zu schnappte Winston Bemerkungen auf wie »Sie haben ja [75]so recht, ich stimme Ihnen absolut zu«, Bemerkungen, die von einer jugendlichen und eher dümmlichen weiblichen Stimme geäußert wurden. Aber die andere Stimme unterbrach sich nicht einmal einen Moment lang, auch dann nicht, wenn die junge Frau etwas einwarf. Winston kannte den Mann vom Sehen, aber er wusste über ihn nur, dass er irgendeinen wichtigen Posten in der Abteilung für Fiktion innehatte. Der Mann war um die Dreißig, hatte einen kräftigen Hals und einen großen, lebhaften Mund. Er hatte den Kopf ein wenig zurückgelegt, und aufgrund des Winkels, in dem er saß, fingen seine Brillengläser das Licht ein und zeigten Winston zwei leere Scheiben statt der Augen. Ein wenig beängstigend war, dass man aus dem Schwall von Lauten, die aus dem Mund hervorquollen, so gut wie keine einzelnen Wörter heraushören konnte. Nur einmal schnappte Winston eine Phrase auf – »die vollständige und endgültige Eliminierung des Goldsteinismus« –, die schnell hervorgestoßen wurde und, wie es schien, aus nur einem Stück zu bestehen schien, wie eine zusammengesetzte Satzzeile einer Druckform. Der Rest war nur Lärm, ein quack-quackartiges Schnattern. Und obwohl man nicht genau hören konnte, was der Mann sagte, gab es keinen Zweifel an der Art seiner Aussagen. Gut möglich, dass er Goldstein denunzierte und striktere Maßnahmen gegen Gedankenverbrecher und Saboteure einforderte, möglich auch, dass er gegen die Gräueltaten der eurasischen Armee wetterte, vielleicht lobte er aber auch den Großen Bruder oder die Helden an der Malabar-Front – es machte keinen Unterschied. Ganz gleich, was es war, man konnte sicher sein, dass jedes einzelne Wort pure Orthodoxie, purer Engsoz war. Während Winston das augenlose Gesicht und [76]den auf- und zuklappenden Unterkiefer betrachtete, hatte er das eigenartige Gefühl, dass dies kein echter Mensch, sondern eine Art von Puppe war. Nicht das Gehirn des Mannes gab das Sprechen vor, es war der Kehlkopf. Das Zeug, das aus ihm hervorquoll, bestand zwar aus Wörtern, aber es handelte sich nicht um Gesprochenes im herkömmlichen Sinn: Es war ein in Unbewusstheit geäußertes Lärmen, wie das Quaken einer Ente.

Syme war für eine Weile in Schweigen verfallen und zeichnete mit dem Stiel seines Löffels Muster in den Klecks Eintopf. Derweil quakte die Stimme am anderen Tisch unvermindert weiter, nicht zu überhören in dem allgemeinen Lärm.

»Es gibt da ein Wort auf Neusprech«, sagte Syme, »ich weiß nicht, ob du es kennst: Quaksprech, quaken wie eine Ente. Das ist eines jener interessanten Wörter, die zwei einander widersprechende Bedeutungen haben. Angewendet auf einen Gegner, ist es ein Schimpfwort; angewendet auf jemanden, dessen Ansicht du teilst, bedeutet es Lob.«

Keine Frage, Syme wird vaporisiert werden, dachte Winston erneut. Er dachte dies mit einem gewissen Bedauern, obwohl er sehr genau wusste, dass Syme ihn verachtete und nicht recht mochte, darüber hinaus war er sehr wohl in der Lage, ihn als Gedankenverbrecher zu denunzieren, wenn er einen Anlass dafür sah. Da war etwas ganz unmerklich falsch an Syme. Ihm fehlte es an etwas: Taktgefühl, Zurückhaltung, einer Art von selbstbewahrender Naivität. Man konnte nicht behaupten, dass er unorthodox war. Er glaubte an die Prinzipien des Engsoz, er verehrte den Großen Bruder, er begeisterte sich für Siege, er hasste Abweichler, nicht nur aufrichtig, sondern mit einem [77]rastlosen Eifer und einer Wohlinformiertheit, die das gewöhnliche Parteimitglied sonst nicht an den Tag legte. Dennoch haftete ihm eine gewisse Unehrenhaftigkeit an. Er sagte Dinge, die man besser für sich behielt, er hatte zu viele Bücher gelesen, er besuchte häufig das Chestnut Tree Café, den Lieblingsort der Maler und Musiker. Es gab kein Gesetz, nicht einmal ein ungeschriebenes, das den Besuch des Chestnut Tree Cafés verboten hätte, dennoch besaß der Ort eine unheilvolle Aura. Die alten, diskreditierten Führer der Partei hatten sich für gewöhnlich dort getroffen, bevor sie letzten Endes ausgemerzt wurden. Goldstein höchstpersönlich hatte sich dort, wie man hörte, öfter blicken lassen, vor Jahren und Jahrzehnten. Symes Schicksal war leicht vorhersagbar. Trotzdem war es eine Tatsache, dass Syme, wenn er auch nur für drei Sekunden die wahre Natur von Winstons geheimen Ansichten erfasste, ihn sofort an die Gedankenpolizei verraten würde. Das würde jeder andere auch tun – aber Syme noch vor allen anderen. Eifer genügte nicht. Orthodoxie war Unbewusstheit.

Syme schaute auf. »Da kommt Parsons«, sagte er.

Etwas in seinem Tonfall schien hinzuzufügen »dieser verfluchte Narr«. Parsons, Winstons Nachbar in den Victory-Wohnblocks, bahnte sich tatsächlich einen Weg durch den Saal – ein stämmiger Mann mittlerer Größe mit blondem Haar und einem froschähnlichen Gesicht. Mit fünfunddreißig Jahren setzte er bereits Fettwülste am Nacken und an den Hüften an, aber seine Bewegungen waren flink und jungenhaft. Seine ganze Erscheinung ähnelte der eines Jungen, der zu groß geraten war, und zwar in einem Maße, dass man nicht umhinkonnte, sich ihn in blauen Shorts, einem grauen Hemd und dem roten Halstuch der Spione [78]vorzustellen, obwohl er die vorgegebenen Overalls trug. Stellte man sich Parsons vor, hatte man immer Bilder von zerschrammten Knien und hochgekrempelten Hemdsärmeln an speckigen Armen vor Augen. Und Parsons griff wirklich stets auf kurze Hosen zurück, wenn ein gemeinschaftlicher Ausflug oder andere körperliche Aktivitäten ihm einen Vorwand dafür lieferten. Er begrüßte beide mit einem fröhlichen »Hallo, hallo!« und setzte sich zu ihnen an den Tisch, wobei er eine Schweißwolke absonderte. Kleine Tropfen glänzten auf seinem geröteten Gesicht. Seine Fähigkeit zu schwitzen war außergewöhnlich. Im Kommunalen Zentrum wusste man immer anhand der feuchten Schlägergriffe, wann Parsons zuletzt Tischtennis gespielt hatte. Syme hatte unterdessen einen Streifen Papier hervorgeholt, auf dem eine lange Kolumne von Wörtern stand, und betrachtete ihn, einen Tintenstift zwischen den Fingern.

»Schau ihn dir an, arbeitet sogar in der Mittagszeit«, sagte Parsons und stupste Winston an. »Übereifer, was? Was haben Sie denn da, alter Junge? Ist bestimmt zu hoch für mich, denke ich. Smith, alter Junge, ich will Ihnen verraten, warum ich Sie suche. Es geht um die Spende, die Sie vergessen haben, mir zu geben.«