Buch lesen: «Die große Inflation»

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Georg von Wallwitz

DIE GROSSE INFLATION

Als Deutschland wirklich pleite war


Einleitung

Prolog

Händler und Helden

Geld spielt keine Rolle

Der Griff in die Darlehenskasse

Rathenaus Planwirtschaft

Die verpasste Stunde null

Das allgemeine Händeringen

Nach Versailles

Geld spielt doch eine Rolle: Erzbergers Reform

Havensteins Bank

Der Londoner Kassensturz

Die Große Inflation

Erfüllungspolitik

Spaß und Elend in der Inflation

Rathenaus Tod und das Ende des Geldes

Land ohne Währung

Nie wieder Inflation

Havensteins Ende und die Geburt der Rentenmark aus der Roggenmark

Meine Kredite sind eure Schulden

Inflation und Befindlichkeit

Anfang und Ende der Geldillusion

Literaturhinweise

Einleitung

Mit einer Leichtigkeit wie nie zuvor und nie danach wurden in der Inflationszeit gewaltige Vermögen gemacht und wieder verloren. Aus den Ruinen des protestantisch-sittsamen Kaiserreichs tastete sich eine finanziell, moralisch und politisch unsichere Gesellschaft hervor, in der die Schieber, Spekulanten, Raffkes und Kriegsgewinnler das große Los gezogen zu haben schienen (und es jedem und jederzeit zu zeigen bereit waren), während die große Masse derer, die weder gewitzt noch wendig waren, nicht mehr wussten, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollten, nachdem sie das Tafelsilber und das vorletzte Hemd versetzt hatten. In den Großstädten tummelte sich eine amüsierwillige Jugend, die eben dem Krieg entronnen war, die gegen jede Erwartung ein Leben hatte und es auskosten wollte, als könnte sich der Umstand des Am-Leben-Seins doch noch als ein Irrtum erweisen. Die jungen Frauen tauschten Mieder und Reifrock gegen kurze, zu kurze Kleider, und die Veteranen, wenn sie nicht traumatisiert oder verkrüppelt waren, nahmen jede Einladung zum Tanz gerne an, als sei es ihr letzter. Das Geld verlor seinen Wert, was die einen dazu brachte, es möglichst schnell zu verjubeln oder zu investieren, während die anderen ihre Notgroschen, ihren Erbteil, ihren Lohn oder ihre Rente sich in Luft auflösen sahen. Während die windigen Schwarzmarkthändler ihr Glück zu fassen versuchten, wussten Beamte, Pastoren und die meisten anderen Stützen der Gesellschaft kaum, wie ihnen geschah. Die Umwälzung der Preisverhältnisse führte zur Umschichtung der Besitzverhältnisse und produzierte damit sozialen Sprengstoff erster Güte. Die politischen Extreme fanden immer mehr Zuspruch, und bürgerkriegsartige Gewalt erschütterte das Land in immer kürzeren Abständen. Es war eine Zeit und eine Gesellschaft ohne Halt, ohne Ziel, in der sich die meisten Menschen, enttäuscht vom Staat und den Eliten, bald nur noch um sich selbst drehten, gedankenlos den nächsten unberechenbaren Tag erwartend. So fasste es zu Anfang der 1950er Jahre einer zusammen, der die Vorgänge aus nächster Nähe beobachten konnte: »›Inflationszeit‹, das ist für alle, die sich noch daran erinnern: Hungerblockade, Ablieferung von Sachwerten an fremde Mächte, politische Rechtlosigkeit. Umschichtung der Bevölkerung, Aufstieg dunkler Gestalten zu plötzlichem Reichtum. Substanzverlust der bisher vermögenden Klassen, Verarmung der groß-, mittel- und kleinbürgerlichen Schichten. Korruption in Regierungsund Beamtenkreisen, politische Geschäftemacherei zwischen den Parteien, der Wehrmacht und den Ministerien. Wachsende Kindersterblichkeit, wachsende Kriminalität, rachitische Verkrüppelung der Jungen, früher Tod der Alten.«1

Dies ungefähr ist das Bild, das bis heute das kollektive Gedächtnis der Deutschen prägt. Daran ist vieles richtig, insbesondere die Anekdoten von der guten Stimmung in den Varietés und den Millionenbeträgen, die für eine Straßenbahnfahrt aufgewendet werden mussten. Aber viele Vorstellungen von der Inflationszeit, die heute weit verbreitet sind, haben wenig mit der historischen Wahrheit zu tun. In der Inflationszeit herrschte fast immer Vollbeschäftigung, und die Nationalsozialisten blieben eine Randerscheinung (bei der Reichstagswahl am Ende der Inflationszeit im Mai 1924 erhielten sie 6,5 % der Stimmen). Da insbesondere das Besitzbürgertum sein Geldvermögen verlor, war die Inflationszeit eine Phase abnehmender Ungleichheit. Die tatsächlich geleisteten Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg sind kaum unter die Hauptursachen der Inflation zu zählen. Viele der gängigen Vorstellungen von der Inflationszeit 1914–1923 verschwimmen mit denen von der Weltwirtschaftskrise nach dem Schwarzen Freitag 1929, als es zu einer Deflation kam, die zu Massenarbeitslosigkeit und dem Aufstieg Hitlers führte.

Das finanzielle Gedächtnis als Teil des kulturellen Gedächtnisses ist ein Erfahrungsschatz, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Familien, Regionen und Länder pflegen ihre eigene, über Generationen stabile Einstellung zu Geld und den passenden Umgang damit. In Deutschland ist der Referenzpunkt des finanziellen Gedächtnisses die Geldentwertung. Dabei scheint es diesem Phänomen zu ergehen wie dem geheimnisumwitterten Titelhelden in F. Scott Fitzgeralds 1925 erschienenem Roman The Great Gatsby, der weithin sichtbar ist und doch ein Mysterium bleibt. Viele reden über die Inflation, aber kaum einer versteht sie. Ihre Reputation scheint eine eingehendere Beschäftigung mit ihr zu verhindern.

Da Geld eine in alle Lebensbereiche hineinreichende Ordnungsfunktion hat, wirkt seine Zersetzung wie ein Krebsgeschwür in der Gesellschaft. Inflation bedeutet das Ende aller Planung und Hoffnung, sie reduziert den Zeithorizont auf den täglichen Überlebenskampf. Und wie ein Tumor breitet sie sich plötzlich an Stellen aus, wo niemand sie erwartet hätte. Die Furcht vor der Inflation ist wohlbegründet, denn sie bringt weit mehr mit sich als nur den Verlust des Geldes.

Um sie zu begreifen, muss man sie vielleicht erfahren haben, so wie Erfahrung des Hungers nicht durch gelegentliches Fasten zu machen ist. Von der Hand in den Mund zu leben ruft ein grimmiges Gefühl hervor. Und wer es einmal erfahren hat, der vergisst es nicht wieder. Der Verlust der Ersparnisse ist ein ebensolches existenzielles Erlebnis. Diese Erfahrung lässt sich nicht wieder abschütteln. Generationenlang.

Mit diesem festen, aber unreflektierten Haltepunkt sind die Deutschen ein Volk, das in seinen finanziellen Angelegenheiten eine Verunsicherung ausstrahlt, die kaum mit seinem Wohlstand unter einen Hut zu bringen ist. Ihr Umgang mit Schulden ist bis heute von großer Naivität gekennzeichnet.2 Sie pflegen eine Sparquote, deren Höhe nur mit einer verzweifelten Angst vor der Zukunft zu erklären ist. Als folgten sie dem Motto penny-wise and pound-foolish, ziehen sie, auch wenn sie es nicht müssen, in ihren Anlagen häufig grotesk niedrig verzinste Girokonten, Sparbücher, Bargeld unter der Matratze und Lebensversicherungen allen sinnvollen Alternativen vor. Sie suchen für ihre Zukunft – und insbesondere ihre finanzielle Zukunft – oft eine Sicherheit, die vollkommen unrealistisch ist. Die Erfahrung des finanziellen Totalverlusts sitzt tief.

Es gibt hinreichend Anlass, sich mit dem Thema Inflation über das tradierte Wissen hinaus zu beschäftigen. Wir leben zwar in einer Zeit zahmer Inflationszahlen. Die Kerninflationsrate bleibt seit Jahren allzu weit unter dem erklärten Ziel der Zentralbanken von 2 %. Aber die Begleitumstände der außerordentlichen Maßnahmen, die diese seit der großen Finanzkrise von 2008/09 eingeleitet und immer weiter verstärkt haben, assoziieren wir normalerweise mit Zeiten der Geldentwertung. Die Sparer können nicht mehr vom Zins leben, und oft genug müssen sie sogar negative Zinsen ertragen. Die Hausse an den Aktienmärkten ist an der Mittelschicht, aus der die klassischen Sparer nach wie vor stammen, weitgehend vorübergegangen. Weite Teile der Bevölkerung beschleicht ein finanzielles Panikgefühl: Egal wo ich meine Ersparnisse investiere, wahrscheinlich gehen sie zum Teufel. Wie in den frühen 1920er Jahren gibt es eine neue Klasse von Spekulanten, und wie damals wird das Abenteuer Finanzmarkt nicht für alle gut ausgehen. Es tut sich eine Schere auf zwischen den neuen Schichten der Gewinner der digitalen Revolution und den vielen Verlierern der Umwälzung. Das wiederum führt zu Ressentiment, politischer Polarisierung und Korruption. Das Vertrauen in das staatliche Geld schwindet: Deutlichstes Zeichen ist der Aufstieg von Bitcoin, Ethereum und Dogecoin, die manche Merkmale eines Notgeldes aufweisen.

Weiten Teilen der Bevölkerung ist tief im Herzen die Geldschöpfung aus dem Nichts durch Zentral- und Geschäftsbanken unheimlich geblieben. Wie kann eine Zentralbank, etwa in den Jahren der Finanz-, Euro- oder Coronakrise, einfach riesige Summen Geldes schaffen, denen keine Wirtschaftsgüter gegenüberstehen, die nicht Produkt von Arbeit, sondern eine reine Kopfgeburt sind? Wie sollen die Menschen nicht bald ihren Glauben an das Geld verlieren, wenn es nur eine Setzung ist, deren Grund ein juristischer und kein wirtschaftlicher ist? Warum sollten die Menschen eine solche Währung halten und nicht lieber Gold oder Bitcoin? Viele denken heute in Deutschland so. Und wer wollte es ihnen verübeln, nach der immerhin zwar einhundert Jahre zurückliegenden, aber dennoch traumatisch nachwirkenden Erfahrung der Hyperinflation?

Die Entwicklung zur Großen Inflation hat nur in der Rückschau die Notwendigkeit, die ihr gerne zugesprochen wird. Die Kombination von Staatsverschuldung, hohen Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg, Staatsfinanzierung durch die Reichsbank (so der damalige Name der deutschen Zentralbank) und Ausweitung der Geldmenge, der Verlust des Vertrauens in den Staat und das Defizit in der Leistungsbilanz ergaben zwar ein toxisches Gemisch, aber es hätte lange Zeit auch anders kommen können. Die Gläubigerstaaten, insbesondere die Amerikaner, hätten erkennen können, dass viele ihrer Forderungen wertlos waren, die Deutschen hätten Kredit bekommen können, die finanzielle Reform in Deutschland hätte konsequenter verfolgt werden können. Inflation ist kein Schicksal, sie ist meistens nicht mehr als der monetäre Ausdruck politischer Entscheidungen. In diesem Falle folgte sie aus dem Konsens, die Inflation sei das beste Mittel, die Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag ins Leere laufen zu lassen, den Staat zu entschulden und im Krieg verlorengegangene Exportmärkte so schnell wie möglich wieder zu besetzen.

Lord D’Abernon, der Botschafter des Vereinigten Königreichs in Berlin während der Inflationszeit, assoziierte die Hauptursachen der Inflation mit bestimmten Persönlichkeiten. Die Schuld an der fahrlässigen Finanzierung des Staatsdefizits durch die Notenbank schrieb er dem Reichsbankpräsidenten Havenstein zu, für die Zwietracht und das Klima der Missgunst machte er den zum Agitator gewandelten Ökonomen Karl Helfferich verantwortlich, das Interesse der deutschen Exportindustrie an einer schwachen Mark sah er in Hugo Stinnes, dem »König der Inflation«, verkörpert, und schließlich lastete er die merkwürdige Idee der Erfüllungspolitik, die Zahlungsunfähigkeit durch den Ruin der eigenen Währung zu demonstrieren, Walther Rathenau an, dem von ihm sonst hochgeschätzten Industriellen, Schriftsteller und Außenminister. Der bemerkenswerte Zufall, dass diese vier innerhalb kurzer Zeit vor dem Ende der Inflation starben – und nur einer von ihnen eines natürlichen Todes –, ist den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. D’Abernon behauptete später sogar, diese vier mussten sterben, um die Inflation wirksam zu beenden.

1Schacht: 76 Jahre meines Lebens, S. 206.

2Carl-Ludwig Holtfrerich: »Die Deutschen können nicht mit Schulden umgehen«. Interview in der Zeit vom 10.6.2021.

Prolog

Es nieselte am 11. November 1918 in London, als die Straßen sich mit Menschen, immer mehr Menschen füllten, die instinktiv zum Buckingham-Palast strebten. Als der König in Admiralsuniform um 11:15 Uhr, wenige Minuten nach Inkrafttreten des Waffenstillstands, zusammen mit der Königin und dem Herzog von Connaught auf den Balkon trat, kannte der tränenreiche Jubel der Menge keine Grenze mehr. Die Irische Garde intonierte die Nationalhymne und Rule Britannia. Es war ein Fest der Dankbarkeit, der Erleichterung, des Stolzes, aber auch des Gedenkens an die Opfer.

Am frühen Nachmittag versammelte sich das Unterhaus, wo der Premierminister Lloyd George auf eine lange Rede verzichtete, mit den berühmten Worten: »This is no time for words. Our hearts are too full of a gratitude to which no tongue can give adequate expression.« Dann schlug er vor, einen Gottesdienst abzuhalten, in St. Margaret’s. Dort trafen die Unterhausabgeordneten auf die Lords, angeführt vom Lordkanzler. Es war ein einfacher Gottesdienst, ohne Pomp und Triumph, gehalten in der Hoffnung, dass der Albtraum nun vorbei war und ein dauerhafter Frieden folgen würde.3

In den frühen Morgenstunden hatten im Speisewagen eines im Wald von Compiègne (75 Kilometer nordöstlich von Paris) geparkten Zuges der französische Marschall Ferdinand Foch und der Staatssekretär ohne Portefeuille Matthias Erzberger ein Abkommen unterschrieben, welches den Ersten Weltkrieg beendete. Die Deutschen hielten das Abkommen für einen Waffenstillstand, denn so war es betitelt (»Armistice«). Franzosen und Engländer hielten es aber für eine Kapitulation, denn das war das Dokument seinem Inhalt nach: Die Deutschen erhielten keine Gelegenheit, die von den Alliierten aufgestellten Bedingungen zu verhandeln. Marschall Foch erschien nicht einmal zu den Gesprächen, nur für die Unterschrift. So endete der große Krieg, wie er begonnen hatte, mit einem großen Missverständnis.

Zurück in Paris informierte Foch den Präsidenten der Republik, Raymond Poincaré, über den Waffenstillstand. Poincaré nahm die Nachricht eher zurückhaltend auf, wie er in seinen Memoiren schildert. »Foch sagt mir, dass die Deutschen die Bedingungen akzeptiert haben, die er ihnen gegeben hat, aber sie haben sich nicht für besiegt erklärt, und das Schlimmste ist, dass sie glauben, dass sie es nicht sind. Foch ist außerdem überzeugt, dass die deutsche Armee ohne Unterzeichnung des Waffenstillstands bald zu einer allgemeinen Kapitulation gezwungen worden wäre. Wäre es nicht sicherer gewesen?« Doch daran war nun nichts mehr zu ändern. Am Nachmittag trat in Paris das Kabinett unter dem Premierminister Georges Clemenceau zusammen, der Poincaré freudig begrüßte: »Ich bin seit heute Morgen von mehr als fünfhundert Mädchen geküsst worden.«4 Jedenfalls schwiegen ab 11 Uhr die Waffen und in ganz Europa läuteten die Glocken. In Paris war die Freude unbeschreiblich. Zivilisten und Soldaten, viele von ihnen aus den fernsten Ländern des Britischen Empire und den USA, tanzten in den Straßen, schmückten die Balkone mit den Flaggen der Entente, häuften sich auf Autos und Pferdegespannen, um in seliger Freude fahnenschwenkend durch die Straßen der Stadt zu fahren. Die älteren Herren saßen in den Brasserien und tranken auf einen Sieg, durch den die Schmach von 1871 geheilt und Elsass-Lothringen zurückgewonnen wurde.

In der Führung des Landes war am Abend die Stimmung deutlich nüchterner. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Poincaré vertraute einem seiner Generäle an, »Wir haben den Krieg gewonnen, und das nicht ohne Schmerzen. Jetzt müssen wir den Frieden gewinnen, und das wird vielleicht noch schwieriger (…), insbesondere mit allen unseren Alliierten.«5 Und Clemenceau, den Freunde wie Feinde nur den »Tiger« nannten, beschlich um dieselbe Stunde eine üble Vorahnung: »Es wird alles umsonst sein.«6

Der Krieg war also nicht wirklich zu Ende, er wurde nur mit finanziellen Mitteln weitergeführt. Und wenn der Waffenstillstand nicht das Ende des Krieges war, dann war das Folgende die Geschichte einer langen Kapitulation, die erst fünf Jahre später, mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in der Hyperinflation, ihr Ende fand.

3Marriott: Modern England, 1885–1945. A History of My Own Times, S. 420.

4Zitate in Poincaré: Au service de la France, Band 10: Victoire et armistice, S. 413.

5Mordacq: L’Armistice du 11 novembre 1918. Récit d’un témoin, S. 105.

6Zit. nach Wormser: La République de Clemenceau, S. 341.

Händler und Helden

Geld spielt keine Rolle

Der Krieg liebt den Sieg und nicht die Dauer.

Sun Tzu

Die Redakteure von Brockhaus’ Conversations-Lexikon in der Jubiläums-Ausgabe von 1908, es handelte sich um die 14. Auflage, befanden den Begriff der Inflation keines eigenen Eintrags für würdig. Lediglich einen Satz hatte die Enzyklopädie übrig für die Partei der Inflationisten, die im fernen Amerika »eine möglichst große Vermehrung der auf Kredit beruhenden Umlaufsmittel verlangt, (…) welche den Geschäftsgang beleben, den verschuldeten Produzenten eine Erleichterung ihrer Last verschaffen und auch den Steuerzahlern bei der Verzinsung und Tilgung der Staatsschuld zu gute kommen würde«. Kein Wort über den Hintergrund der Debatte. Keine Erklärung, was Inflation ist, wie sie entsteht und was sie bedeutet. Die Deutschen waren nicht nur nicht auf eine Inflation vorbereitet, sie hatten kaum einen Namen dafür – weshalb sie diesem Phänomen gegenüber lange blind blieben. Im nationalen Gedankengut spielte die Geldentwertung keine, aber auch gar keine Rolle, und entsprechend begriffsstutzig reagierte das Land, als sie so plötzlich aus dem toten Winkel auftauchte.

Zu den wenigen, die einen klaren und deutlichen Begriff von der Inflation hatten, zählte Karl Helfferich, zu dieser Zeit einer der bekannteren Ökonomen und wichtigsten Geldtheoretiker Deutschlands. Das Schicksal wollte es, dass er 1915, im ersten vollen Kriegsjahr, für die Finanzen des Reichs verantwortlich zeichnete, als Staatssekretär im Reichsschatzamt – Finanzminister würden wir heute sagen. Er war kein geborener Politiker, und sein Lebensweg war so schief (und wurde bis zu seinem unschönen Ende 1924 immer schiefer), wie ihn nur Zeiten des Umbruchs hervorbringen können. Die entscheidenden Weichenstellungen zur Finanzierung des Krieges verantwortete damit ein ungewöhnlich intelligenter und kompetenter Mann, dem es nicht an Wissen mangelte, wohl aber an Weitsicht und, wie viele meinten, an Charakter.

Helfferich, 1872 geboren in eine national gesinnte Familie von Kleinindustriellen, war eine unscheinbare Gestalt, mit stets kurzgeschorenen Haaren, Schnauzbart und nach vorn gerecktem Hals. Wie es oft bei Gelehrten der Fall war, hatte das Bücherstudium seiner Wirbelsäule einen leichten Buckel eingeschrieben. In seiner Militärzeit als einjähriger Freiwilliger stürzte er vom Pferd, brach sich mehrere Rippen und verletzte sich so schwer an der Lunge, dass er für den Rest seines Lebens körperliche Anstrengungen möglichst vermeiden musste. Er sollte die Studierstube, die er nach seiner Genesung in Straßburg bezog, nur ausnahmsweise verlassen, so der ärztliche Rat, und darüber hinaus eine strenge Diät halten. Fortan widmete er sein Leben der Arbeit.

Nach seiner Promotion bei Georg Knapp, einem bedeutenden Geldtheoretiker, ging Helfferich nach Berlin, um dort seine Habilitationsschrift über die Währungsunion im Deutschen Reich und den Goldstandard vorzubereiten. Mit der Empfehlung seines Doktorvaters knüpfte er schnell ein Netzwerk, das ihn mit den wichtigsten Gestalten des politischen und wirtschaftlichen Establishments verband. Er war von konservativer Grundhaltung, aber dennoch fortschrittsgläubig wie ein Linkshegelianer, da er eine historische Notwendigkeit im Aufstieg Deutschlands zu erkennen glaubte. Um dieser Entwicklung willen akzeptierte er bereitwillig Gewalt als Teil des Kampfes der Nationen um ihre (imperiale) Stellung in der Welt. Allerdings ging er davon aus, dass die Kriege der Zukunft kurz und begrenzt sein würden, zu eng war die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Großmächte.

Helfferich entwickelte sich zu einem Sprachrohr der aufgeklärten Geschäftselite in Berlin. Man wurde aufmerksam auf den sprachgewandten, gelehrten und ambitionierten jungen Mann, der hervorragend in seine Zeit passte. Insbesondere eignete er sich als Publizist, denn er konnte schreiben, verstand etwas von der Sache und hatte wenig zu verlieren. Er hielt Vorlesungen an der Berliner Universität, gelegentlich auch in Hamburg und Kiel, zu geldtheoretischen Themen. Fleißig saß er tagtäglich von morgens um acht bis spät in den Abend hinein an seinem Schreibtisch und arbeitete an seinem Ruf, unterbrochen nur durch ein »Abendessen« in der Mitte des Nachmittags. Aus Rücksicht auf seine fragile Gesundheit rauchte er nicht, trank keinen Alkohol und aß nicht viel (er selbst behauptete, er stehe aus Zeitmangel niemals satt auf vom Tisch).

Ab 1902 durfte er sich zwar Professor der Staatswissenschaften nennen, realisierte aber gleichzeitig, dass das Gelehrtenleben nichts für ihn war. Er empfand sich nun als einen Mann der Tat, als Technokrat, der lieber im Staat aktiv war, als ihn bloß zu beschreiben. So ergriff er die Gelegenheit, in die Kolonialabteilung des Außenamts einzutreten, um sich dort um Währungsfragen zu kümmern. Er zeigte sich äußerst intelligent und engagiert und empfahl sich für höhere Aufgaben. Sein Aufstieg geriet allerdings kurzzeitig ins Stocken, als er die Aufmerksamkeit des württembergischen Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger erregte, dem Experten der Zentrumspartei für Kolonial- und Finanzpolitik, der es sich in dieser Zeit zur Hauptaufgabe gemacht hatte, die Missstände in den Überseegebieten scharf zu kritisieren.

Erzberger war ein junger Wilder in der Politik, der mitunter den Honoratioren der Zentrumspartei hemdsärmelig begegnete, dem lautes Auftreten nicht fremd war und der gerne mit gleicher Münze zurückzahlte, wenn er angegriffen wurde. Er war in der katholischen Arbeiter- und Sozialbewegung Württembergs groß geworden, nahm aber auch gerne ein Aufsichtsratsmandat bei Thyssen an. Er verstand es, mit der öffentlichen Meinung zu spielen, ein Medienprofi, der seinen erlernten Beruf als Journalist noch als Reichstagsabgeordneter ausübte. Seine Redekunst und Umtriebigkeit verhalfen ihm früh zu großer Bekanntheit, machten ihm aber auch viele Feinde in den Regierungsetagen Berlins. Er war ein ausnehmend talentierter Politiker, nicht ohne Interessenkonflikte, mit großer Angriffsfläche, der sich vermutlich nicht viel dabei dachte, als er sich Helfferich zum Feind machte.

Erzbergers Enthüllungen über Korruption, Vetternwirtschaft und Ausbeutung in den deutschen Kolonien führten dazu, dass Helfferich 1906 seinen Posten räumen musste. Als Entschädigung für dieses Bauernopfer erhielt dieser trotz seiner Jugend für seine Verdienste den Kronen-Orden (2. Klasse). Als im selben Jahr der Posten des zweiten Direktors der Anatolischen Eisenbahn frei wurde, ergriff Helfferich die Gelegenheit, seine Sporen an einem der bedeutsamsten Berührungspunkte zwischen Wirtschaft und Politik in dieser Zeit zu verdienen. Die Bahn war ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank und Teil des großen Projekts einer Bagdadbahn, mit welcher Deutschland die Seeherrschaft Großbritanniens auszuhebeln suchte. Eine schnelle und zuverlässige Landverbindung zu den rohstoffreichen Gegenden im Mittleren Osten und zu einem Hafen am Persischen Golf war der große Preis der Außenpolitik, da so ein von Deutschland kontrollierter Handelsweg zum indischen Subkontinent erschlossen würde. Helfferich bewegte sich geschickt durch das politische Minenfeld, zu dem der Aufbau einer deutschen Infrastruktur im Osmanischen Reich unweigerlich werden musste. Es gelang ihm, die osmanische Regierung davon zu überzeugen, Franzosen und Engländer hätten imperiale Gelüste und wollten politischen Einfluss im Osmanischen Reich gewinnen, während Deutschland vorgeben konnte, rein kommerzielle Interessen zu verfolgen. Auch die 1908 an die Macht gelangten »Jungtürken« konnte Helfferich in diesem Sinne beeinflussen. Es sprach für sein diplomatisches Geschick, dass er mit diesem Argument Glauben fand. Der Bau der Bagdadbahn gehörte zu den wenigen diplomatischen Erfolgen des Wilhelminischen Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.7 Diese Aufgabe löste er zur größten Zufriedenheit seiner Förderer. 1908 wurde er, im Alter von nur 36 Jahren, Vorstand bei der Deutschen Bank.

Das eröffnete ihm den Zugang zu den höchsten Kreisen in Berlin, bis hinauf zum Kaiser, mit dem er bald ein besonders gutes Verhältnis pflegte. Nichts befeuert den Ehrgeizigen so sehr wie der Erfolg. Helfferichs Ambitionen richteten sich nun immer stärker auf die Politik. Er verfasste 1913, zum silbernen Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II., eine Schrift über Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913, eine Lobrede auf das tatsächlich beeindruckende Wachstum in beinahe allen wirtschaftlichen Belangen. Mit Stolz stellte er fest, dass das Nationaleinkommen sich durch den Fleiß der Deutschen seit 1896 verdoppelt hatte und nunmehr größer war als die Wirtschaftsleistung in Frankreich, das sich zu sehr auf seinem hergebrachten Reichtum ausruhte (»Frankreich ist das Land der Rente, Deutschland das Land der Arbeit.«). Er hob hervor, dass Deutschland mehr Eisen und Stahl produzierte als England, sah aber auch, dass die USA in dieser Hinsicht »auf Grund ihrer gewaltigen Vorkommen allen anderen Ländern weit voraus«8 waren. Den Kaiser freute diese Betrachtung, die zweifellos auch als eine Bewerbung für noch höhere Ämter zu lesen war.

Helfferich war bei Ausbruch des Krieges noch immer nicht alt, 42 Jahre, aber was für eine Karriere! Er trug den Professorentitel, war ein angesehener Ökonom, erfolgreicher Diplomat und Vorstand der Deutschen Bank. Im politischökonomischen Establishment Berlins war er zu einer festen Größe gereift, sein Wort hatte Gewicht und seine finanziellen Möglichkeiten suchten ihresgleichen. Er strahlte Energie und Tatendrang aus und verstand es, sich auch in großen Bürokratien durchzusetzen. Und er glaubte an die historische Mission Deutschlands und seiner Monarchie, an die kulturelle, wirtschaftliche, institutionelle und moralische Überlegenheit seines Vaterlandes.9

Helfferichs Berufung zum Finanzstaatssekretär wurde dennoch als Überraschung empfunden. Die Aufgabe war kolossal: Ein Jahr nach Kriegsbeginn, als er seinen Haushalt für das Jahr 1916 vorlegte, war es längst klar, dass dieser Konflikt nicht mit den kurzen und weitgehend schmerzlosen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts vergleichbar war. Er würde lange dauern und die Kosten an Menschen und Material immens sein. In seinem Amt schloss Helfferich sich der allgemeinen Auffassung an, dass am Ende des Krieges Deutschland den Verlierern eine gewaltige Rechnung präsentieren würde. Daher legte er ein äußerlich konventionelles Budget vor, in welchem die üblichen Einnahmen und Ausgaben, wie es sie auch in Friedenszeiten gegeben hätte, ausgeglichen waren. Die Kosten des Krieges wurden in einem Sonderhaushalt verbucht, als dessen wesentliche Einnahme die Erlöse aus dem Verkauf von Kriegsanleihen ausgewiesen wurden. Außerordentliche Haushalte hatte es immer wieder gegeben. Prinzipiell waren darin enthaltene Ausgaben nur für Investitionen vorgesehen, die sich in der Vorstellungswelt der Haushaltspolitiker über die Zeit von selbst finanzierten. So sollte es auch mit dem Kriegshaushalt sein, in welchem man den Verlierern gewissermaßen Geld vorstreckte, das sie zurückzahlen würden, wenn man ihnen nach der Kapitulation die Rechnung präsentierte.

Der Posten eines Finanzministers war im Krieg nicht dazu geeignet, seinem Inhaber zu Ruhm und Ehre zu verhelfen. Helfferichs Lage war aber noch ein Stück unbequemer als die seiner europäischen Kollegen. Auf der einen Seite hatte er es mit Generälen zu tun, die sich stets vor dem entscheidenden Durchbruch wähnten und für ihre Männer das nötige Material forderten. Kein Land möchte einen Krieg verlieren, bloß weil an der falschen Stelle gespart wurde. Wer wollte sich mit buchhalterischen Kleinigkeiten aufhalten, wenn draußen die größten Schlachten der Menschheitsgeschichte tobten? Sein Ehrgeiz richtete sich also nicht darauf, als Sparkommissar in die Geschichte einzugehen. Einen Besuch bei der Obersten Heeresleitung nutzte Helfferich daher lediglich dazu, das bisherige Motto »Geld spielt keine Rolle« durch »Wer die Millionen nicht ehrt, ist der Milliarden nicht wert« zu ersetzen. Wer mit solchen launigen Sprüchen vor Hindenburg und Ludendorff auftrat, konnte allerdings nicht viel erwarten. Jedenfalls weder Respekt noch Sparsamkeit.

Auf der anderen Seite sah Helfferich sich mit einem Problem konfrontiert, welches aus der Konstruktion der Bismarck’schen Reichsverfassung resultierte: Die Länder verteidigten hartnäckig ihre Hoheit über die direkten Steuern vor dem Zugriff aus Berlin. Das Reich schulterte gewaltige Ausgaben für den Krieg, hatte aber kaum Zugriff auf die finanziellen Ressourcen des Landes. Es hätte einer großen Verfassungsreform bedurft, um dem Reich und den Ländern jeweils eigene Steuern zuzuweisen, damit sie unabhängig ihre Aufgaben erfüllen konnten. Dafür war nach Helfferichs Auffassung nun aber nicht die Zeit, und ohnehin gab es rühmlichere Aufgaben als die Reform der Finanzverfassung. Also standen den entgrenzten Ausgaben nur tröpfelnde Einnahmen gegenüber, und in Helfferichs Haushalt türmten sich die Schulden.

Das naheliegendste Mittel zur Eindämmung der Staatsschulden wäre die Erhöhung der Steuern, etwa auf Kriegsgewinne, gewesen – wie es in Großbritannien und wenig später in den USA geschah. Die Erlöse in den kriegswichtigen Industrien kletterten in erstaunliche Höhen und sorgten für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung, die den Gürtel immer enger schnallen musste. Auf diesem Wege wären hohe Steuereinnahmen zu holen gewesen und die Arbeiterklasse, aus der die Mehrzahl der Soldaten in diesem Krieg stammte, hätte nicht das Gefühl haben müssen, die Lasten wären ungleich verteilt. Während die jungen Arbeiter und Bauern an der Front die größten Opfer brachten, machten sich die Industriellen und die Händler die Taschen voll – so lautete der verbreitete Verdacht. Helfferich entschied sich aber gegen Steuererhöhungen und für die Fiktion einer nur vorübergehenden Finanzierungslücke.

€19,99

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312 S. 4 Illustrationen
ISBN:
9783949203152
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